Transkript
EDITORIAL
Geschwister willkommen?
Die Zahl der Geburten in der Schweiz ist auch im letzten Jahr wieder gestiegen, knapp 85 300 Neugeborene ergeben ein Plus von rund 3,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Aber die Zahl der Kinder hat sich seit 1964 mit 2,7 pro Frau im Vergleich zu heute fast halbiert und nach einem deutlichen Einbruch auf niedrigem Niveau stabilisiert; sie liegt seit 2010 bei 1,5. Und das reicht nicht, um der zunehmenden Überalterung zu begegnen. Die Autoren einer kürzlich in «Demography» veröffentlichten Untersuchung geben nun Politikern, die sich um niedrige Geburtenraten sorgen, einen Hinweis. Diese sollten dafür Sorge tragen, dass es jungen Eltern schon mit ihrem ersten Kind gut gehe. Auch wenn sie offen lassen wie, gäbe es doch einige Optionen: medizinische, soziale und emotionale Unterstützung, Elternzeit für Mütter und Väter, bezahlbare Betreuung zur leichteren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ... Denn klar ist: Obwohl Kinder allgemein als grosses Glück gelten, kann die neue Lebenssituation auch zu Überforderungen führen. Auf Basis der deutschen sozioökonomischen Panelstudie, für die seit 1984 jedes Jahr mehr als 20 000 Personen interviewt werden, wurde nun das Ausmass des Glücks oder Unglücks frischgebackener Eltern quantifiziert (1). Die Forscher
analysierten dafür Stimmung und Lebensumstände von gut 2000 Erwachsenen 3 Jahre vor und 2 Jahre nach der Geburt des ersten Kindes. Zwar zielte die Frage: «Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben unter Berücksichtigung aller Umstände?» nicht direkt auf die veränderte Lebenssituation ab, die offene Fragestellung erlaubte es aber, auch eine Beeinträchtigung der Situation leichter einzugestehen. Im Jahr vor der Geburt des ersten Kindes sowie im Geburtsjahr selber gaben die Befragten eine zunehmende Zufriedenheit an. Danach aber wendete sich das Blatt: Auf einer Skala von gar nicht zufrieden (0) bis maximal zufrieden (10) nahm das Wohlbefinden junger Eltern im Vergleich zu vorher im ersten Jahr nach der Geburt im Durchschnitt um 1,4 Einheiten ab; über ein Drittel der Befragten gaben sogar 2 oder mehr Einheiten weniger an. Nur etwa 27 Prozent beurteilten ihr Wohlbefinden als unverändert. Dabei hängt es auch von der Zufriedenheit der jungen Eltern ab, wie gross die Familie letztlich werden wird: Unter den beobachteten Paaren bekamen alles in allem 58 Prozent innerhalb der mittleren Nachbeobachtungzeit von neun Jahren ein zweites Kind. Unter denen, deren Zufriedenheit um mehr als 3 Einheiten abnahm, waren Geschwisterkinder etwa 10 Prozent seltener. Insbesondere die etwas älteren und die besser ausgebildeten Eltern verzichteten in diesen Fällen auf weiteren Nachwuchs. Was also tun? Zumindest muss man genauer hinsehen, was für das Wohlbefinden notwendig ist – sei es gesellschaftlich oder individuell. Schon die offene Frage nach dem Befinden bietet frischgebackenen Eltern eine Möglichkeit, schwierige Aspekte ein wenig leichter anzusprechen und allenfalls Hilfe zu suchen. Wie so oft ist der Schritt von der Theorie in die Praxis manchmal grösser als vermutet. «Das sind doch alles nur Phasen» tröstet in der Regel erst rückblickend ...
Christine Mücke
1. Margolis R, Myrskylä M. Parental well-being surrounding first birth as a determinant of further parity progression. Demography 2015; 52: 1147–1166.
ARS MEDICI 18 I 2015
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