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STUDIE REFERIERT
Orale Wirkstoffe zur Langzeitbehandlung von LUTS bei älteren Menschen
Nur wenige sind nützlich, die Daten spärlich
Für die medikamentöse Behandlung von Symptomen des unteren Harntrakts stehen verschiedene Substanzklassen wie Alphablocker, Antimuskarinika, 5-alpha-Reduktase-Inhibitoren (5-ARI), Phosphodiesterase-Typ-5Inhibitoren (PDE-5-Inhibitoren) und Beta3-Agonisten zur Verfügung. Welche eignen sich für ältere Patienten?
Age and Ageing
Arzneimittel zur Behandlung von Symptomen des unteren Harntrakts (lower urinary tract symptoms, LUTS) gehören zu den Medikamenten, die älteren Männern und Frauen am häufigsten verordnet werden. Ältere Menschen sind eine heterogenere Gruppe als jüngere Personen; sie haben mehr medizinische Probleme und nehmen deshalb mehr Medikamente ein. In den USA weisen über 80-Jährige durchschnittlich drei Diagnosen auf, was bei 44 Prozent der Männer und bei 57 Prozent der Frauen ab 65 Jahren zu einer Polypharmazie führt; ein Drittel der 65-jährigen und älteren Deutschen nimmt mindestens fünf Medikamente ein. Wenn Ärzte älteren Patienten Arzneimittel verordnen, sollten sie die mit
MERKSÄTZE
O Lediglich einige Vertreter der Substanzklassen der 5-alpha-Reduktase-Hemmer (Dutasterid, Finasterid) und der Antimuskarinika (Fesoterodin) scheinen für ältere Patienten vorteilhaft zu sein.
O Die Mehrzahl der LUTS-Medikamente – besonders diejenigen aus der Gruppe der Alphablocker und der Antimuskarinika – sollten bei Senioren zurückhaltend eingesetzt oder vermieden werden.
O Die Datenlage zu LUTS-Medikamenten für ältere Menschen ist limitiert.
dem Alter assoziierten Veränderungen von Pharmakodynamik und Pharmakokinetik sowie das zunehmende Risiko für Arzneimittelinteraktionen und Nebenwirkungen berücksichtigen. Gerade im Hinblick auf LUTS ist es wichtig, dass der richtige Patient zum richtigen Zeitpunkt das passende Medikament bekommt, denn LUTS sind weitverbreitet und sowohl für Männer als auch für Frauen sehr belastend. Kürzlich führte ein unabhängiges, multiprofessionelles, internationales Expertenteam eine umfangreiche Literaturrecherche und ein zweistufiges Delphi-Verfahren zu 16 oral applizierten Medikamenten durch, die zur Behandlung von LUTS bei älteren Menschen häufig eingesetzt werden. Ziel der Autoren war es, diese Arzneimittel hinsichtlich Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit mithilfe der FORTAKlassifikation (s. Kasten) als geeignet oder ungeeignet einzustufen. In der FORTA-Klassifikation steht A für die beste, D für die schlechteste Kategorie.
Dutasterid, Fesoterodin und
Finasterid erreichen Kategorie B
Für die 16 relevanten Medikamente konnten die Autoren insgesamt 896 Abstracts identifizieren. Lediglich 25 dieser Abstracts bezogen sich auf klinische Studien, die nur mit älteren Patienten durchgeführt worden waren oder die explizit Daten zu älteren Patienten enthielten. Dies unterstreicht die Lage mit nur spärlichen Daten zur medikamentösen Behandlung von LUTS bei älteren Menschen.
Keines der untersuchten Medikamente wurde der FORTA-Kategorie A («absolutely», unentbehrlich) zugeordnet. Lediglich drei Substanzen schafften es in die FORTA-Kategorie B («beneficial», nützlich; s. Tabelle): Dutasterid, Fesoterodin und Finasterid. Die meisten Substanzen wurden in die FORTA-Kategorie C («careful», fraglich) eingestuft: Darifenacin, Mirabegron, Oxybutynin retard, Silodosin, Solifenacin, Tadalafil, Tamsulosin, Tolterodin und Trospium. Der FORTA-Kategorie D («don’t», zu vermeiden) wurden folgende Wirkstoffe zugeordnet: Alfuzosin, Doxazosin, rasch freisetzendes Oxybutynin, Propiverin und Terazosin.
Mehr Studien mit älteren
Patienten notwendig
Auf der Basis einer systematischen Literaturrecherche und eines anschliessenden Bewertungsprozesses wurden nur die Substanzen Dutasterid, Fesoterodin und Finasterid in die FORTA-Kategorie B eingestuft, wie die Autoren zusammenfassen. Die Mehrzahl der häufig eingesetzten LUTS-Medikamente sollte älteren Patienten nur zurückhaltend, bei spezifischen Indikationen und unter sorgfältiger Beobachtung von Nebenwirkungen verordnet werden (FORTA C). Alfuzosin, Doxacosin, Oxybutynin in Standarddosierung/ rasch freisetzend, Propiverin und Terazosin sollten bei älteren Menschen vermieden werden (FORTA D). Der FORTA-Prozess verdeutlicht, dass die Angemessenheit einzelner Substanzen innerhalb einer Substanzklasse erheblich variieren kann. Diese Differenzen können auf tatsächlichen Unterschieden hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit beruhen (beispielsweise können neuere Substanzen ein vorteilhafteres Profil aufweisen), sie können aber auch auf die Qualität der Studie und auf die untersuchte spezifische Patientenpopulation zurückzuführen sein. Belastbare und zitierbare Evidenz, die typischerweise aus randomisierten, kontrollierten Studien stammt, ist für die ältere Bevölkerung eher die Ausnahme als die Regel. Erst in den letzten Jahren wurde deutlich, dass gerade ältere Patienten häufig Medikamente zur Behandlung von LUTS benötigen und dass deshalb spezifische Daten zu dieser Altersgruppe notwendig sind. In den Zulassungsstu-
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dien war nur etwa ein Drittel der untersuchten Patienten über 65 Jahre alt, und diese Studienteilnehmer waren gesünder und hatten weniger Begleiterkrankungen als die gleichaltrige Durchschnittsbevölkerung. Zudem erfassten ältere Studien oft nicht diejenigen Nebenwirkungen, die vor allem ältere Menschen betreffen, beispielsweise unerwünschte Wirkungen auf die Kognition. Erst in letzter Zeit gibt es Studien, die speziell mit selbstständig lebenden älteren Menschen oder mit betagten Patienten mit Begleiterkrankungen durchgeführt wurden. Sie sollten in Zu-
Kasten:
Die Klassifizierung FORTA (Fit fOR The Aged)
Die FORTA-Klassifizierung von Arzneimitteln wurde 2008 eingeführt. Diese Klassifizierung soll Ärzte dabei unterstützen, im klinischen Alltag Medikamente zu identifizieren, die für ältere Patienten ungeeignet oder schädlich sind. Mithilfe eines zweistufigen Delphi-Prozesses und durch Bewertungen von insgesamt 25 Experten wurde eine Liste von über 200 Medikamenten zu mehr als 20 wichtigen Indikationen erstellt, die für ältere Patienten relevant sind. Die FORTA-Liste enthält Positiv- und Negativbewertungen und wird kontinuierlich erweitert und verbessert. Je nach Lage der Evidenz zu Sicherheit, Wirksamkeit und Angemessenheit für ältere Menschen werden die Medikamente folgenden Kategorien zugeordnet: O Kategorie A («absolutely»): unentbehrli-
ches Medikament, Nutzenbewertung eindeutig positiv hinsichtlich Wirksamkeit/Sicherheit, Arzneimittel für eine bestimmte Indikation bei älteren Menschen schon geprüft O Kategorie B («beneficial»): Medikamente mit nachgewiesener oder offensichtlicher Wirksamkeit bei älteren Menschen, aber Einschränkungen bezüglich Wirksamkeit oder Sicherheit O Kategorie C («careful»): Medikamente mit fraglichem Wirksamkeits-/Sicherheitsprofil für ältere Patienten, bei zahlreichen Begleitmedikamenten eher vermeiden oder weglassen, begrenzter Nutzen oder mit Nebenwirkungen assoziiert, nach Alternativen suchen O Kategorie D («don’t»): bei älteren Menschen vermeiden, zuerst weglassen, nach Alternativen suchen.
STUDIE REFERIERT
Tabelle: Medikamente zur Langzeitbehandlung von LUTS bei älteren Patienten (Auswahl)
Substanzklasse 5-alphaReduktaseInhibitoren Alpha1-Blocker
Antimuskarinika
Beta3-Agonist PDE-5-Inhibitor
Medikament Dutasterid Finasterid
FORTA-Kategorie Anzahl der Bewerter B5 B5
Alfuzosin
D
Doxazosin
D
Silodosin
C
Tamsulosin
C
Terazosin
D
Darifenacin
C
Fesoterodin
B
Oxybutynin
Standarddosis/
rasch freisetzend
D
Oxybutynin
niedrig dosiert/retard C
Propiverin
D
Solifenacin
C
Tolterodin
C
Trospium
C (B)
Mirabegron
C
Tadalafil
C
5 5 5 5 5 5 5
5
4 5 5 5 5 5 5
kunft standardmässig erfolgen – gerade wenn es um Indikationen geht, die häufig die ältere Bevölkerung betreffen. Zudem sollte den Bedürfnissen gebrechlicher («frail») älterer Menschen mehr Beachtung geschenkt werden, fordern die Autoren.
Antimuskarinika: teils geeignet,
teils ungeeignet
Was Antimuskarinika anbelangt, wurden die verschiedenen Substanzen unterschiedlichen FORTA-Kategorien (B bis D) zugeordnet. Dies macht deutlich, dass es klinisch relevante Unterschiede zwischen den verschiedenen Wirkstoffen dieser Substanzklasse gibt. Das Antimuskarinikum Fesoterodin wurde bei Menschen ab 65 Jahren gut untersucht und bewusst auch bei Patienten ab 75 Jahren getestet. Fesoterodin erwies sich in der Behandlung von Harndrang und Dranginkontinenz als wirksam. In den Studien führte es zu günstigen Ergebnissen hinsichtlich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Auch bei Patienten mit erheblichen Komorbiditäten und Polypharmazie wurden unter Fesoterodin gute Ergebnisse bei nur wenigen unerwünschten kognitiven Ereignissen beobachtet.
Darifenacin wurde in einer Studie mit Patienten im Alter ab 65 Jahren untersucht und erreichte hinsichtlich des primären Endpunkts keine statistische Signifikanz. Jedoch profitierten mehr Patienten aus der Verumgruppe als aus der Plazebogruppe von der Behandlung. Auch wurde die kognitive Sicherheit von Darifenacin bei kognitiv gesunden älteren Menschen ausführlich getestet. Daten zu Solifenacin, Tolterodin und zu oralem Oxybutynin stammen aus gepoolten Post-hoc-Analysen von älteren Menschen, die an Zulassungsstudien teilnahmen, daher sind Schlussfolgerungen nur bedingt möglich. Auch zu Trospium gibt es nur wenige Wirksamkeitsdaten, obwohl es oft als «seniorenfreundlich» dargestellt wurde, weil es die Blut-Hirn-Schranke nicht überwindet und nur zu geringen Arzneimittelinteraktionen führt. Wohl aufgrund der spärlichen Daten wurde Trospium keiner besseren FORTA-Kategorie zugeordnet.
Weitere LUTS-Medikamente
und Applikationssysteme
Der Beta3-Agonist Mirabegron wurde erst kürzlich in die klinische Praxis ein-
geführt, und es gibt noch nicht so viele
Daten, die den Einsatz von Mirabegron
bei älteren Patienten stützen. Mögli-
cherweise wird die Substanz in einer
aktualisierten FORTA-Klassifikation
einer anderen Kategorie zugeordnet.
In der vorliegenden Übersichtsarbeit
beschränkten sich die Autoren auf oral
verabreichte Medikamente, da diese
am häufigsten verordnet werden. Sie
weisen jedoch darauf hin, dass andere
Applikationssysteme wie transdermale
oder transvaginale Formulierungen
von Oxybutynin oder lokale Injektio-
nen von Onabotulinumtoxin zur Be-
handlung von Harndrang oder Drang-
inkontinenz durchaus Alternativen zu
oralen Medikamenten bieten könnten.
Allerdings wurde die transdermale,
transvaginale und lokale Medikamen-
tenapplikation bei älteren Menschen
noch nicht umfassend untersucht. Den-
noch könnten diese Behandlungsoptio-
nen in Zukunft für ältere und gebrech-
liche Menschen von Interesse sein, um
First-Pass-Effekte zu vermeiden, die
Verträglichkeit zu verbessern und
Nebenwirkungen zu vermeiden oder
zu reduzieren.
O
Andrea Wülker
Oelke M et al.: Appropriateness of oral drugs for longterm treatment of lower urinary tract symptoms in older persons: results of a systematic literature review and international consensus validation process (LUTS-FORTA 2014). Age and Ageing 2015; pii: afv077.
Interessenkonflikte: Die Autoren geben Verbindungen zu verschiedenen Pharmaunternehmen an und haben von diesen auch Honorare bezogen.
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