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Titel
Hausarzthaus
Untertitel
-
Lead
«The stateliest house of the village», sagte die junge Reiseführerin im Car der Switzerland-Tour, auf der ich unsere japanischen Freunde begleitete, «is always the doctor’s house!»: Eine rosa Villa, schön renoviert, mit Blumengarten und Blick auf den Fluss. Laut Schild am alten Sandsteinportal haben hier Herr und Frau Dr. XY, beides Fachärzte für Allgemeinmedizin, ihre Praxis.
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Autoren
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Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
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Artikel-ID
16026
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Arsenicum: Hausarzthaus

«The stateliest house of the village», sagte die junge Reiseführerin im Car der Switzerland-Tour, auf der ich unsere japanischen Freunde begleitete, «is always the doctor’s house!»: Eine rosa Villa, schön renoviert, mit Blumengarten und Blick auf den Fluss. Laut Schild am alten Sandsteinportal haben hier Herr und Frau Dr. XY, beides Fachärzte für Allgemeinmedizin, ihre Praxis. Ich erklärte unseren Freunden, dass im repräsentativsten Haus im Dorf heute keineswegs mehr der Doktor, sondern eher der Bürgermeister, der Pfarrer, der Apotheker oder ein russischer Oligarch wohnt. Früher waren solche Häuser oft Schulhäuser. Oder Weingüter. Heute siedeln sich dort Anwälte, Immobilienmakler und Treuhänder an. In diesen Immobilien finden sich die meist leer stehenden Drittresidenzen von Superreichen. Oder B&B von hochverschuldeten idealistischen Witwen. Der heutige Hausarzt ist meist ein Mietwohnungsarzt. In einem grauen Horrorbetonblock aus den Siebzigerjahren arbeitet er, in einer architekturlosen Neunziger-Schuhschachtel oder in einem Minergie- und Minimalarchitektur-Renditeobjekt des neuen Jahrtausends, in dem 17 Grad Innentemperatur herrscht, weil die umweltfreundliche Heizungstechnik nicht funktioniert. Immer mehr Hausärzte schrumpfen zu Zimmer-Ärzten: In grossen Gemeinschaftspraxen, an denen Betriebswirte, internationale Konsortien oder die Krankenversicherungsindustrie verdienen, fristen sie ihr Sklavendasein in 15 Quadratmetern. Das Wartezimmer und das Büro der «Praxismanagerin» sind grösser. An die Käfighaltung von Akademikern gewöhnt man junge

Ärzte bereits in der Weiterbildungszeit. Hatte unsere Generation in den Kliniken noch kleine dunkle Kämmerchen für sich oder grosse Räume mit drei weiteren lustigen Kollegen, so arbeiten heutige Assistenzärzte meist nur noch in Nischen auf Korridoren, in (Pf)Legebatterien oder kleinräumigen sogenannten Grossraumbüros. Ungestört über eine Diagnose nachdenken? Ein Telefonat mit Angehörigen oder ein Gespräch mit einem Patienten – in Ruhe und einer datenschutzkonformen Umgebung? Nicht mehr möglich. Bald wird man die jungen Kollegen völlig aus den Spitälern vertreiben. Mit einem Rollkoffer werden sie ihre Utensilien von Patientenzimmer zum Ambulatorium rollen oder nur noch vom Home-Office aus per Telemedizin arbeiten. Sie werden nicht glauben, dass es einmal teppichausgelegte chefärztliche Zimmerfluchten gab, die aus Sekretariat, Privatschwesterbüro, Untersuchungs- und Sprechzimmer bestanden. Heutige Ordinarien sitzen in kleinen Kämmerchen – wenn sie Glück haben, allein! – und tippen höchstpersönlich ihre Publikationen in die PC. Man mag Statussymbole hassen – doch sie zeigen an, welchen Status die Gesellschaft den Menschen zuteilt, denen sie gehören. Wir Hausärzte arbeiten in Sozialwohnungskleinheit und werden zunehmend auf Schreibtischformat zurückgestutzt. Nostalgisch war mir zumute, als ich kürzlich bei einem vierzigjährigen Kollegen in der Innerschweiz zu Besuch war. Er hat doch tatsächlich noch ein Praxislabor, einen Röntgenraum, ein KG-Archiv, ein EKG-Räumchen, drei Sprechzimmer, einen Klein-OP und ein Wartezimmer. Seine MPA sitzen in einem hellen, offenen Raum,

an den sich eine gemütliche geräumige Wohnküche anschliesst. Oben im Haus wohnt seine Drei-KinderFamilie, inklusive zweier Suiten für die Grosseltern. Eine Rosenpracht im grossen Vorgarten empfängt die Patienten. Im noch grösseren Garten hinter dem Haus befinden sich Terrasse, Pool, Blumenbeete, alte Bäume mit einer Hängematte, Heilpflanzengärtli und englischer Rasen. Die Ehefrau arbeitet in der Praxis mit, der pensionierte Vater macht die Buchhaltung. Und als wir gerade im OP des Kollegen einer Patientin einen kleinen Tumor exzidieren, ging die Tür auf, der vierjährige Sohn kam mit seinem Elektroautoli herein und bat den Vater vertrauensvoll, es zu heilen, da es nicht mehr führe. In einer solchen Umgebung kann man nicht nur gut leben, sondern auch gut arbeiten. Doch inzwischen ist sie die Ausnahme.

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ARS MEDICI 17 I 2015