Transkript
Neue therapeutische Optionen für Typ-2-Diabetiker
Wie wählt man das richtige Medikament zum richtigen Zeitpunkt?
BERICHT
Wer Typ-2-Diabetiker behandelt, durfte sich in den letzten Jahren über eine Fülle neuer Medikamente freuen, die eine immer bessere und individuellere Therapie versprechen. Die Zulassung weiterer Antidiabetika ist zu erwarten. Doch mit der Fülle kam auch die Qual der Wahl. An einer Fortbildungsveranstaltung der Zürcher Internisten gab der Diabetologe Prof. Roger Lehmann, Universitätsspital Zürich, praktische Tipps zur Einordnung der neuen Optionen für den Gebrauch in der Praxis.
Renate Bonifer
Als grossen «Kiosk» bezeichnete Prof. Roger Lehmann die breite Auswahl oraler Antidiabetika für Typ-2-Diabetiker. Da mag so manchen Praktiker eine gewisse Ratlosigkeit beschleichen:
MERKSÄTZE
O Lebensstiländerungen und Metformin sind nach wie vor die ersten beiden Therapieschritte bei Typ-2-Diabetes.
O DPP-4-Hemmer, SGLT2-Hemmer oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten sind als erste Kombination zu Metformin empfehlenswert, wenn man Hypoglykämien und Gewichtszunahme vermeiden will.
O Es kann unter SGLT2-Hemmern zu einer gefährlichen, da häufig nicht gleich erkannten euglykämischen diabetischen Ketoazidose kommen.
O Eine Insulintherapie ist bei unklarer Diagnose und Dekompensation indiziert sowie bei Typ-2-Diabetikern, bei denen das HbA1c trotz zweier oder mehr oraler Antidiabetika nicht im Zielbereich gehalten wird.
O Zurzeit wird diskutiert, ob praktisch jeder Diabetiker über 40 Jahre ein Statin erhalten sollte.
Welches Medikament ist denn nun das richtige für meinen Patienten? Völlig klar sind nur die beiden ersten Therapiestufen: «Lifestyle ist noch nicht tot. Es gibt Patienten mit wahnsinnig guten Erfolgen, aber das ist eine Minderheit», sagte Lehmann. Wenn Lebensstiländerungen nicht ausreichen, wird Metformin verordnet. Falls Metformin alleine nicht mehr ausreicht, wird es etwas komplizierter.
Was kommt nach Metformin?
Sulfonylharnstoffe, Glitazone, GLP-1Rezeptor-Agonisten, DPP-4-Hemmer, SGLT2-Hemmer oder gar gleich ein Insulin – all diese Substanzgruppen sind mögliche Kombinationspartner für das Metformin. Als Orientierung für die Auswahl der passenden Substanzklasse seien aber vor allem zwei Aspekte wichtig, so Lehmann: Was will der Patient, und wie hoch ist das Hypoglykämierisiko? Der Patient wolle Gewicht verlieren, keine Hypoglykämien, keine Nebenwirkungen und eine einfache Anwendung seines Medikaments, zum Beispiel einmal täglich oder einmal pro Woche, und – last, but not least – die Krankenkasse sollte das Medikament bezahlen. Tabletten seien zwar jedem Patienten lieber, aber nach seiner Erfahrung würden auch Spritzen ak-
zeptiert, wenn sie wirksam sind, sagte Lehmann. Will man vor allem Hypoglykämien und Gewichtszunahme vermeiden, kämen nur drei Substanzgruppen als erster Kombipartner für Metformin infrage, so Lehmann: DPP-4-Hemmer, SGLT2-Hemmer oder GLP-1-Rezeptor-Agonisten (Tabelle 1). Wenn eine Zweierkombination mit Metformin nicht ausreicht, können diese Substanzklassen auch untereinander zu einer Tripletherapie kombiniert werden, wobei eine Kombination aus GLP-1Rezeptor-Agonist plus SGLT2-Hemmer nicht von den Kassen bezahlt wird und DPP-4-Hemmer nicht mit GLP-1Rezeptoragonisten kombiniert werden sollen: «Das ergibt keinen Sinn», sagte Lehmann, denn DPP-4-Hemmer und GLP-1-Rezeptor-Agonisten greifen an ähnlicher Stelle in den Glukosestoffwechsel ein.
Nebenwirkungsprofil hängt auch
vom Plasmaspiegel ab
GLP-1-Rezeptor-Agonisten können Übelkeit und Erbrechen auslösen, vor allem am Anfang. Diese Nebenwirkungen sind zwar lästig, haben aber nicht den gleichen Stellenwert wie die Diskussion um ein möglicherweise erhöhtes Risiko für Pankreatitis und Pankreaskarzinome. Hier gab Lehmann Entwarnung. Nach dem jetzigen Stand des Wissens gebe es unter GLP-1-Rezeptor-Agonisten wahrscheinlich kein erhöhtes Risiko für Pankreatitis und Pankreaskarzinome: «Alle Outcomestudien, die bis jetzt publiziert wurden sind, konnten dieses Risiko nicht bestätigen.» Obwohl DPP-4-Hemmer und GLP-1Rezeptor-Agonisten an ähnlichen Stoffwechselwegen ihre Wirkung entfalten, unterscheiden sie sich in ihrem Nebenwirkungsprofil. Dies beruhe auf den unterschiedlich hohen Plasmaspie-
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Tabelle 1:
In der Schweiz zugelassene DPP-4-Hemmer, SGLT2-Hemmer und GLP-1-Rezeptor-Agonisten
Substanz
DPP-4-Hemmer (Gliptine) Alogliptin Linagliptin Saxagliptin Sitagliptin Vildagliptin
Produktname
Vipidia® Tradjenta® Onglyza® Januvia®, Xelevia® Galvus®
Fixkombination mit Metformin Vipdomet® Jentadueto® Kombiglyze® XR, Duoglyze® Janumet®, Janumet® XR, Velmetia® Galvumet®
SGLT2-Hemmer (Gliflozine) Canagliflozin Dapagliflozin Empagliflozin
Invokana™ Forxiga® Jardiance®
Fixkombination mit Metformin Vokanamet® – –
GLP-1-Rezeptor-Agonisten (Inkretinmimetika)
Albiglutid
Eperzan®
Dulaglutid
Trulicity®
Exenatid
Byetta®, Bydueron®
Liraglutid
Victoza®
Fixkombination mit Insulin – – – Xutolphy®
DPP: Dipeptidylpeptidase; GLP: Glucagon-like peptide; SGLT: Sodium dependent glucose co-transporter
Stand: 15. Juli 2015, www.swissmedicinfo.ch
geln, die mit den verschiedenen Medikamentenklassen erreicht werden. Mit den oralen DPP-4-Hemmern erreiche man zwar ausreichend hohe Spiegel, um das Glukagon zu senken und die Insulinsekretion zu steigern, aber nie derart hohe Spiegel, dass sie Erbrechen und Übelkeit auslösen können. Die GLP-1-Rezeptor-Agonisten hingegen werden injiziert, was zu wesentlich höheren, supraphysiologischen Konzentrationen führt; auch der Appetit sinkt, und die Patienten essen weniger. Im Gegenzug sei aber auch die Wirkung der GLP-1-Rezeptor-Agonisten stärker, erläuterte Lehmann. Das HbA1c sinkt im Mittel um 1,5 Prozent und das Gewicht um zirka 3,4 kg. Bei den oralen DPP-4-Hemmern sinkt das HbA1c hingegen im Mittel nur um 0,9 Prozent, und das Gewicht wird nicht beeinflusst.
Cave: Ketoazidose
unter SGLT2-Hemmern
Die SGLT2-Hemmer bewirken eine renale Glukoseausscheidung. Die drei
derzeit in der Schweiz verfügbaren Substanzen Dapagliflozin, Canagliflozin und Empagliflozin sind in ihrer Wirkung bezüglich der HbA1c-Senkung etwa gleich wirksam. Sie liegt zwischen 0,7 und 1 Prozent. Auch das Gewicht sinkt, und zwar im Durchschnitt um gut 2 Kilogramm. Die wichtigste Nebenwirkung sind genitale Mykosen, die je nach Studie bei 3,2 bis 10,9 Prozent der Patienten vorkommen. Auch Harnwegsinfektionen (HWI) werden als Nebenwirkung genannt, wobei die Angaben zu den einzelnen Substanzen schwanken. So berichtete Lehmann für das Canagliflozin von einem Rückgang der HWI um 1,6 Prozent, während unter Dapagliflozin von 0 bis 7 Prozent Patienten mit HWI die Rede ist und für Empagliflozin 2 Prozent angegeben werden. Von hoher klinischer Relevanz ist eine erst seit Kurzem bekannte, zwar seltene, aber gravierende Nebenwirkung. Es kann unter SGLT2-Hemmern zu einer euglykämischen diabetischen Ketoazidose kommen – ein völlig neues
Krankheitsbild, da eine diabetische Ketoazidose normalerweise mit hohen Blutzuckerspiegeln einhergeht. Wie es genau zu dieser Nebenwirkung kommt, weiss man noch nicht. Nach den bisherigen Erfahrungen sind in erster Linie Typ-1-Diabetiker gefährdet (bei denen SGLT2- Hemmer eigentlich nicht zugelassen sind) sowie Typ-2-Diabetiker nach einer Operation. «Diese Nachricht muss verbreitet werden», forderte Lehmann, «das müssen die Notfallstationen wissen!»
Und wann braucht der Typ-2-
Diabetiker nun Insulin?
«Bei unklarer Diagnose und Dekompensation ist Insulin immer eine gute Wahl», sagte Lehmann. Er schloss sich im Wesentlichen den Indikationskriterien an, die von den amerikanischen Internisten definiert wurden: O Patienten mit neu entdecktem Typ-2-
Diabetes, Gewichtsverlust oder einem HbA1c von 13 Prozent (wobei der Referent die Grenze eher bereits bei 11 Prozent ziehen würde) O Patienten mit elektiver Chirurgie und einem HbA1c > 10 Prozent O Patienten mit Typ-2-Diabetes, langer Diabetesdauer (> 15 Jahre) und einem Nüchternblutzucker von 11,1 bis 11,3 mmol/l.
Darüber hinaus ist Insulin indiziert bei Typ-2-Diabetikern, deren HbA1c mit zwei oder drei oralen Antidiabetika nicht im individuellen Zielbereich gehalten wird. Bekanntermassen hat man sich vor einiger Zeit von allzu starren Grenzwerten für alle Typ-2-Diabetiker verabschiedet, sodass dieser individuelle Zielbereich zwischen einem HbA1c von 6 und 8 Prozent liegen kann. Eine Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes beginnt normalerweise mit einem Basalinsulin zusätzlich zu Metformin und den anderen oralen Antidiabetika, die der Patient bereits bekommt. Gestartet wird mit 10 Einheiten/Tag beziehungsweise 0,1 bis 0,2 Einheiten/kg KG/Tag. Lehmann riet dazu, insbesondere bei Patienten mit hohem Hypoglykämierisiko eher zu den neueren, lang wirksamen Basalinsulinen zu greifen: je länger die Wirkung und je geringer die Variabilität, umso geringer ist das Hypoglykämierisiko. In der Anpassungsphase muss man gerade bei den lang wirksamen Basalinsu-
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Tabelle 2:
Basalinsuline für Typ-2-Diabetiker
Insulatard® Levemir® Lantus® Toujeo® Tresiba®
Peak/ Variabilität
ja nein nein nein nein
Wirkdauer
½ Tag 1 Tag 1 Tag 1½ Tage 2 Tage
Quelle: Referat von R. Lehmann, VZI-Fortbildung, 2. Juli 2015; Toujeo® ist in der Schweiz derzeit nicht zugelassen.
linen lange genug abwarten, «mindestens drei Tage», um den Effekt richtig einzuschätzen. Die richtige Dosis Basalinsulin wird schrittweise titriert (Schritte: 10–15% oder 2–4 Einheiten 1- bis 2-mal pro Woche). Kommt es zur Hypoglykämie, so ist ihre Ursache abzuklären, und man muss die Dosis um 4 Einheiten oder 10 bis 20 Prozent senken. Insulin nach dem Basis-Bolus-Prinzip wird dann nötig, wenn der Blutzucker mit Basalinsulin alleine nicht befriedigend kontrolliert werden kann oder wenn der Patient sehr viel Basalinsulin benötigt, das heisst > 0,5 Einheiten/kg KG (z.B. über 50 Einheiten bei einem 100 kg schweren Mann). Das zusätzliche Spritzen eines schnell wirkenden Insulins zu den grösseren Mahlzeiten ein- bis dreimal pro Tag ist jedoch nicht für jeden Diabetiker eine praktikable Lösung. Als Alternative bietet sich der Wechsel zu einem Mischinsulin an. Seit einiger Zeit gibt es auch eine Fixkombination von Liraglutid plus Insulin Degludec in einer Spritze (Xutolphy®). Er habe damit gute Erfahrungen gemacht, sagte Lehmann: «Das ist eine Art MiniBasis-Bolus-System und für die Patienten extrem angenehm.» Insulinpumpen, für Typ-1-Diabetiker in der Schweiz fast die Regel, seien für Typ-2-Diabetiker eher nicht nötig. Diese Pumpen werden technisch immer ausgefeilter. Das Angebot reicht von reinen Pumpen über Pumpen mit kontinuierlicher Glukosemessung (CGMS)
bis hin zu Modellen, bei denen eine Hypoglykämie bereits im Voraus erkannt und das Insulin automatisch abgestellt wird, bis wieder gute Blutzuckerwerte gegeben sind.
Soll jeder Diabetiker
ein Statin bekommen?
Statine sind keine neue therapeutische Option, aber über ihre Indikation für Diabetiker wird neuerdings diskutiert, seit die amerikanischen Diabetologen für fast jeden Diabetiker das Statin als kardiovaskuläre Prävention fordern. Nur gut eingestellte, sonst gesunde 40-jährige Diabetiker ohne zusätzliche kardiovaskuläre Risikofaktoren und mit einem LDL < 2,6 mmol/l würden keine Statine brauchen. Bei allen anderen spielen die LDL-Grenzwerte für Statin-Indikation aus Sicht der US-Kollegen sowieso keine Rolle. Sie propagieren generell für alle Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko eine hohe, bei mittlerem kardiovaskulärem Risiko eine mittlere Statindosis. In Europa hingegen ist man zurückhaltender und empfiehlt weiterhin, sich auch am LDL zu orientieren. In einer Stellungnahme empfehlen die Schweizer Diabetologen (1), sich auch bei Diabetikern an die Empfehlungen der Schweizer Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA) (2) zu halten: Bei Diabetes mit Organschäden oder anderen Risikofaktoren beträgt der LDL-Zielwert < 1,8 mmol/l (oder eine Senkung um mindestens 50%), bei unkompliziertem Diabetes < 2,5 mmol/l. Roger Lehmann sieht jedoch keinen wirklich grundsätzlichen Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Strategie, zumindest bei den Typ-2-Diabetikern. Die meisten Typ-2-Diabetiker hätten ohnehin bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung, wodurch sie zur Hochrisikogruppe gehörten und eines Statins bedürften. Insofern brauche aus seiner Sicht eigentlich jeder Diabetiker über 40 Jahre ein Statin, sagte Lehmann. Die einzige Frage sei allenfalls noch, ob das Statin hoch dosiert sein sollte oder nicht. Dies richte sich danach, wie stark das LDL abgesenkt werden muss: Für eine Sen-
kung um 50 Prozent (Sekundärprävention) nannte Lehmann Atorvastatin 40 mg (Sortis®, Generika) oder Rosuvastatin 20 mg (Crestor®). Genügt eine LDL-Senkung um 30 Prozent (Primärprävention), kommen Atorvastatin 20 mg, Rosuvastatin 10 mg, Simvastatin 40 mg (Zocor®, Generika), Pravastatin 40 mg (Selipran®, Generika), Fluvastatin 40 mg (Lescol®, Generika) oder Pitavastatin 2 mg (Livazo®) infrage. Den Einwand von Chairman Dr. med. Stefan Zinnenlauf, Zürich, dass Statine einen Diabetes auch verschlechtern könnten, liess Lehmann nicht gelten. Es sei zwar in der Tat so, dass das NeuAuftreten eines Diabetes bei potenteren Statinen häufiger vorkomme, aber dies sei nicht als Induktion eines Diabetes zu interpretieren, sondern ein sich bereits entwickelnder Diabetes sei nur ein paar Monate früher zutage getreten. Auch sei der zu erwartende Nutzen einer Statinprävention bei Diabetikern höher einzuschätzen als der potenzielle Schaden. Auf Nachfrage aus dem Publikum ging Lehmann auf die Bedeutung einer präventiven Gabe von Azetylsalizylsäure (ASS) für Diabetiker ein. Hierzu gibt es kaum Daten, sodass keine evidenzbasierte Empfehlung gegeben werden kann. Ohne akute Blutungsgefahr sei es allenfalls bei einem Mann mit Diabetes über 50 Jahre mit multiplen kardiovaskulären Risikofaktorn eine Option oder bei einer Frau über 60 Jahre, aber nicht früher, so Lehmann. Auf alle Fälle sei aber ein Statin viel wichtiger. O
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von Prof. Roger Lehmann an der Fortbildungsveranstaltung der Vereinigung Zürcher Internisten «VZI Hightlights from Boston 2015. Best of ACP (Annual Congress of the American College of Physicians)». Lake Side Hotel, Zürich, 2. Juli 2015.
Zusätzliche Quellen: 1. Stellungnahme der SGED zu den neuen Empfehlungen
der ADA für die Behandlung von Fettstoffwechselstörungen bei Diabetes-Patienten. www.sgedssed.ch, Stand: 25. Juni 2015. 2. Nanchen D et al. im Namen der Schweizer Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA): Cholesterinmanagement in der kardiovaskulären Risikoprävention: amerikanische Guidelines 2013. Schweiz Med Forum 2014; 14(19): 378–381.
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