Transkript
INTERVIEW
FORTBILDUNG
«Da ist sehr viel Scham im Spiel»
Falsche Scham und Fehldiagnosen verzögern Diagnose und Therapie der Acne inversa/Hidradenitis suppurativa
PD Dr. Dr. Alexander Navarini vom Universitätsspital Zürich ist davon überzeugt, dass Acne inversa, die auch als Hidradenitis suppurativa bezeichnet wird, viel häufiger ist, als die aktuellen Behandlungszahlen vermuten lassen. Offenbar quälen sich viele Patienten schamhaft über Jahre mit den Beschwerden, bevor sie einen Arzt aufsuchen. Aber auch Fehldiagnosen sind nicht selten. Im Gespräch mit ARS MEDICI gab der Zürcher Dermatologe wichtige Tipps zur Diagnose sowie einen Überblick über neue therapeutische Optionen.
ARS MEDICI: Herr Dr. Navarini, woran liegt es, dass die Diagnose Hidradenitis suppurativa mitunter erst nach Jahren korrekt gestellt wird? Gehen die Patienten nicht zum Arzt, oder erkennen die Ärzte die Erkrankung nicht? PD Dr. med. Alexander Navarini: Beides trifft zu. Die Krankheit manifestiert sich in den grossen Falten der Haut, in den Achseln, zwischen den Gesässhälften und bei manchen Patientinnen auch unter den Brüsten. Falls nur eine Region davon betroffen ist, sehen diese Veränderungen für den Laien, aber auch für den Hausarzt, der damit eher selten konfrontiert ist, wie Furunkel aus. Die typische Therapie bei Furunkeln ist,
ARS MEDICI: Spätestens wenn jemand zum dritten Mal mit einem Furunkel in die Praxis kommt, sollte der Hausarzt also Verdacht schöpfen? Oder gleich beim ersten Mal? Navarini: Ganz wichtig ist das Befallsmuster, man muss die anderen typischen Regionen kontrollieren und einen Bakterienabstrich machen, um zu überprüfen, welche Keime vorhanden sind. Bei der Hidradenitis suppurativa sind in der Regel normale Hautkeime im Spiel, aber nicht der pathogene Staphylococcus aureus, der typischerweise in Furunkeln vorhanden ist. Spätestens dann, wenn der Abstrich negativ ist oder der normalen Hautflora entspricht, sollte man an Hidradenitis suppurativa denken.
ARS MEDICI: Wann immer ein Patient mit einem Furunkel in der Praxis auftaucht, sollte ich also einen bakteriellen Abstrich machen? Navarini: Genau, so lautet die Regel, die hoffentlich immer befolgt wird. Wir machen übrigens auch immer einen Abstrich des Nasenvorhofs, denn Furunkulosen sind, begünstigt durch ein symptomloses Reservoir des Staphylococcus aureus, im Nasenvorhof. Wir haben keine Daten dazu, ob Abstrich und Biopsie in der Praxis und im Spital wirklich immer gemacht werden. Es ist auch sehr wichtig, nach Chronizität oder rezidivierendem Auftreten der Furunkel zu fragen. Des Weiteren sollte der Hausarzt nach dem Rauchen fragen, das Gewicht des Patienten bedenken sowie nach anderen Akneformen beim Patienten und seiner Familie fragen.
«Bei jedem Patienten mit einem Furunkel sollte man einen Bakterienabstrich durchführen.»
dass man sie aufschneidet, entlastet und danach antibiotisch behandelt beziehungsweise eine Drainierungshilfe einlegt. Wenn nicht danach gesucht wird, ob noch weitere Manifestationen in anderen Regionen bestehen oder früher einmal aufgetreten sind, kommt es relativ häufig zur Fehldiagnose «rezidivierende Furunkel». Die Hidradenitis suppurativa ist aber eine chronische Erkrankung. Sie gehört zum Kreis der akneformen Hauterkrankungen und führt zu chronischem Auftreten dieser Läsionen. Die Therapie ist eine andere als bei Furunkeln: Man gibt andere Antibiotika, typischerweise für viel längere Perioden, hat chirurgische Möglichkeiten, und es gibt seit Kurzem auch neuere Medikamente, die sehr effektiv das Krankheitsbild verbessern können.
ARS MEDICI: Rezidivierend heisst an genau derselben Stelle? Navarini: Es muss nicht an genau derselben Stelle sein, sondern in den grossen Hautfalten. Ganz wichtig ist die aktive Untersuchung all dieser Areale. Wenn die Achsel betroffen ist, muss man dem Patienten empfehlen, auch den Genitalbereich zu zeigen. Man muss immer den ganzen Patienten untersuchen, was allerdings nicht immer goutiert wird, da gerade bei dieser Erkrankung sehr viel Scham im Spiel ist. Genau dieser Umstand führt häufig zu einer Verzögerung der Diagnose und der Therapie.
ARS MEDICI: Kommen wir noch einmal zurück auf die Frage, warum die Patienten nicht rechtzeitig zum Arzt gehen. Woran liegt das, und was könnte helfen? Navarini: Die betroffenen Körperregionen sind im Alltag nicht sichtbar, und sie sind mit grosser Scham behaftet, sodass viele Patienten die Erkrankung sehr lange verstecken – solange sie nicht unerträglich wird. Das führt bei einigen Patienten zu sehr schockierenden Ausprägungen, wobei das ganze Areal
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Zur Person
PD Dr. med. Dr. sc. nat. Alexander Navarini ist Oberarzt an der Dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich und Leiter der PsoriasisSprechstunde.
und des Oberkörpers, die mit 85 Prozent die meisten Pubertierenden haben, 16 Prozent von ihnen leiden unter einer schweren Form der Akne. Dann gibt es die Perifollikulitis der Kopfhaut, die schwere Akne der Kopfhaut, die vor allem zu Haarausfall führt. Der Pilonidalsinus, eine isolierte, sehr grosse Aknezyste zwischen den Gesässhälften, ist klinisch sehr eng mit der Hidradenitis suppurativa vergesellschaftet und sieht ihr ähnlich.
beziehungsweise der Genitalbereich komplett entstellt und vernarbt ist. Eine spezifische Therapie ist dann sehr schwierig. Wir sehen das auch in der Dermatologie bei anderen Patienten: Wenn jemand mit einem Hautausschlag an den Beinen kommt und gleichzeitig auch noch Veränderungen im Genitalbereich hat, ist es häufig so, dass er das nicht spontan auch noch zeigen will. Das ist vielen Patienten derart peinlich, dass sie Hautprobleme im Genitalbereich aktiv verstecken.
ARS MEDICI: Manche glauben, dass Nassrasieren auch nicht gut sei. Stimmt das? Navarini: Nassrasieren kann Follikulitiden, also Haarfollikelentzündungen und Pseudofollikulitiden, auslösen, wenn es falsch gemacht wird. Dass es die Hidradenitis suppurativa begünstigt, ist mir nicht bekannt. Studien zeigen, dass Rasieren und Haarentfernung nicht zu Hidradenitis suppurativa führen.
ARS MEDICI: Ist Hidradenitis suppurativa heilbar? Navarini: Viele glauben, dass die Erkrankung chirurgisch heilbar ist, aber das ist nur bedingt der Fall. Man kann natürlich die Veränderungen herausschneiden, und das wird auch häufig gemacht. Wenn es richtig durchgeführt wird, kann das für eine gewisse Zeit kurativ sein. Aber die Erkrankung kann dann trotzdem wiederkommen und neue Manifestationen an der Haut generieren.
«Dass mangelnde Hygiene schuld sei, ist ein Mythos.»
ARS MEDICI: Ist die Scham also das grösste Problem? Navarini: Nicht nur die Scham, sondern auch die Schuldfrage ist seitens des Patienten ein ganz wichtiges Thema. Hidradenitis suppurativa ist die Hauterkrankung, die am stärksten mit dem Rauchen assoziiert ist, nebst pustulöser Psoriasis. Keinesfalls dürfen die betreuenden Ärzte meinen, dass der Patient selbst schuld ist an seiner Erkrankung und erst einmal aufhören sollte zu rauchen. Natürlich empfehlen wir den Rauchstopp auch. Es ist aber nicht klar gezeigt, dass der Rauchstopp per se zu einer Verbesserung der Erkrankung führt. Wir wissen nur, dass der Status des Rauchers mit einem überzufällig häufigen Auftreten der Erkrankung assoziiert ist und dass aktive Raucher schwerer betroffen sind als Nichtraucher. Der Patient ist also nicht schuld und sollte in jedem Fall eine spezifische Therapie bekommen – auch wenn er nicht aufhören kann zu rauchen.
ARS MEDICI: Gibt es weitere Mythen, die eine Mitschuld der Patienten suggerieren? Navarini: Mangelnde Hygiene ist auch ein wichtiger Mythos, viele glauben, diese führe zu den Hautveränderungen. Zudem werden in gewissen Regionen, zum Beispiel zwischen den Gesässhälften, auch eingewachsene Haare als Ursache angeschuldigt. Es ist aber gar nicht klar, ob das wirklich ein Auslöser ist. Eher sind eingewachsene Haare eine Begleiterscheinung während der Erkrankung. Wahr ist, dass die Erkrankung mit Übergewicht und mit anderen Formen der Akne assoziiert ist. Es gibt die normale Akne des Gesichts
ARS MEDICI: Das heisst, man wird diese Erkrankung nie wieder los? Navarini: Die Prognose ist unsicher. Es gibt natürlich schon Patienten, die alle ihre Risikofaktoren vermindert haben. Sie hören auf zu rauchen, gleichzeitig nehmen sie noch ab, einzelne Läsionen wurden vielleicht herausgeschnitten. Dann kann es sehr gut sein, dass für eine gewisse Zeit komplett Ruhe ist. Die Erkrankung ist aber, wie auch die Akne, wie wir letzthin gezeigt haben, auch durch genetische Faktoren bedingt. Betroffene haben sicherlich zeitlebens ein erhöhtes Risiko, wieder neue Läsionen zu entwickeln, im Vergleich zur Normalbevölkerung. Auch innerhalb der Familie ist das Risiko erhöht, wenn bereits ein Familienmitglied betroffen ist.
«Bei ganz leichten Formen genügen topische Antibiotika, bei grösseren Läsionen braucht es systemische.»
ARS MEDICI: Wie sieht es mit der Compliance der Patienten angesichts dieser wenig erfreulichen Prognose aus? Navarini: Die Erkrankung verursacht Zysten und Abszesse, die Eiter produzieren, es stinkt, und es ist entstellend. Alle diese Manifestationen motivieren natürlich zu einer aktiven Therapie. Diese besteht in der antibiotischen Behandlung, sodass der Geruch, die Eiterproduktion und letztlich die Entzündung reduziert werden. Bei ganz leichten Formen der Hidradenitis suppurativa kann man mit äusserlichen Antibiotika, zum Beispiel mit Clindamycin (Dalacin® T), eine gute Wirkung erzielen. Bei grösseren Läsionen braucht es systemische Antibiotika, die wir als Kombinationstherapie über zwölf
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Wochen geben. Das führt zu einem Stillstand, zu einer Beruhigung der Läsionen, nicht nur während der antibiotischen Therapie, sondern typischerweise für mehrere Monate. Als neue Option ist der TNF-␣-Inhibitor Adalimumab (Humira®) zurzeit im Zulassungsverfahren für diese Indikation. In Studien wurde gezeigt, dass man damit zwar keine komplette Heilung, aber doch eine Unterdrückung der Entzündung erreichen kann. Es ist die einzige Therapie, die man jahrelang anwenden könnte. Eine antibiotische Therapie wird man nach spätestens zwölf Wochen wieder stoppen müssen.
ARS MEDICI: Nun ist ein Biologikum wie Adalimumab ja auch sehr teuer, zumal als lebenslange Therapie ... Navarini: Das ist so. Zurzeit ist die Öffentlichkeit aber bereit, für derartige Erkrankungen diese Kosten aufzuwenden. Wir sehen das am Beispiel der Psoriasis. Ich bin der Leiter der Psoriasis-Sprechstunde am USZ, und wir betreuen Hunderte von Patienten, die schwere Schuppenflechte haben und derartige biologische Therapien bekommen, was natürlich zu einer extremen Verbesserung der Lebensqualität führt.
«Ein TNF-a-Inhibitor ist zurzeit im Zulassungsverfahren für diese Indikation.»
ARS MEDICI: Welcher Patient mit Hidradenitis suppurativa sollte diesen Antikörper bekommen? Navarini: Aus medizinischer Sicht wäre so eine Therapie auch bei leichteren Formen sinnvoll, aber nicht aus medizinökonomischer Perspektive. Deshalb wird man die Therapie mit diesem Medikament auf mittelschwere bis schwere Fälle beschränken. Wir hoffen, den Antikörper auf effiziente Art und Weise mit chirurgischen Massnahmen kombinieren zu können. Wir haben das in einer interessanten kleinen Pilotstudie bei der Akne der Kopfhaut zeigen können. Die Pathologie der Erkrankung, welche Rezidive begünstigt, ist im Prinzip die gleiche wie bei der Hidradenitis suppurativa: Es entstehen epithelialisierte Gänge unter der Haut, welche die Narbenstränge verbinden, sodass sich das ganze Nest von Gängen auf einen Schlag wieder entzünden kann. Auch nach einer sehr effizienten antientzündlichen Therapie bleibt diese Residualpathologie. Folglich muss entweder die antientzündliche Behandlung lebenslang erfolgen, oder man versucht gleichzeitig, diese Gänge beziehungsweise Narbenstränge chirurgisch zu entfernen, und darf dann vielleicht hoffen, dass die Manifestationen nicht wieder auftreten.
ARS MEDICI: Erlaubt die Wirksamkeit eines TNF-a-Hemmers neue Spekulationen zur bis jetzt noch unbekannten Ursache der Hidradenitis suppurativa ? Navarini: Wir glauben nicht, dass der Auslöser der Erkrankung das TNF-␣ ist. Es gibt viele andere Erkrankungen ohne derartige Läsionen, bei denen auch TNF-␣ involviert ist. Bei dem Auslöser der Erkrankung handelt es sich um ein Remodelling der Haut. Wir wissen, dass eine follikuläre Okklusion in Hautregionen mit vielen apokrinen Drüsen entsteht. Dadurch gibt es eine bakterielle Superinfektion und Entzündung, welche nach einiger Zeit zu den Vernarbungen, Fisteln und Knoten führt. Im Detail ist noch nicht klar,
wie die Entstehung von Hidradenitis suppurativa genau funktioniert.
ARS MEDICI: Welche Rolle spielen Hormone und andere Biologika in der Behandlung von Patienten mit Hidradenitis suppurativa ? Navarini: Das sind auch gute Therapieoptionen. Die Hormontherapie kann bei Patientinnen mit einer klar hyperandrogenen Komponente nützlich sein. Man kann diesen Frauen zum Beispiel Kontrazeptiva mit einer antiandrogenen Komponente geben. Biologika wie Infliximab oder Etanercerpt sind ebenfalls nützlich. Adalimumab ist zurzeit das einzige Biologikum, das sich in der Zulassungsphase für Hidradenitis suppurativa befindet. Darüber hinaus werden Interleukin17-Antagonisten geprüft, und sie haben aller Erwartung nach auch eine sehr gute Wirkung. Man versucht zurzeit vieles, denn die Erkrankung ist häufig und darum auch für pharmazeutische Unternehmen interessant.
ARS MEDICI: Welche Rolle spielt der Hausarzt, welche der Spezialist bei der Betreuung dieser Patienten? Navarini: Der Hausarzt sollte, wie eingangs erwähnt, an die Biopsien bei derartigen Hautveränderungen denken. Bei unklaren Fällen ist es ideal, wenn er den Patienten vom Dermatologen behandeln lässt. Schwere Fälle, bei denen die Chirurgie ins Spiel kommen muss oder eine Biologikatherapie, werden zurzeit am besten in tertiären Zentren mitbeurteilt, da sind die Unispitäler und die grossen Kantonsspitäler gefragt. Im Prinzip steht aber der Durchführung der Kontrollen durch den Hausarzt nichts im Wege. Wir machen das auch bei unseren Psoriasispatienten so: Die Therapie wird am Unispital eingeleitet, und dann werden die Patienten in der Praxis heimatnah kontrolliert. Wenn sich ein Patient noch in einem frühen Stadium befindet, kann bei bestätigter Diagnose selbstverständlich auch der Hausarzt die Therapie durchführen.
ARS MEDICI: Falls eine Operation nötig ist: Chirurgie oder Laser? Navarini: Um grosse Regionen zu behandeln, ist der Laser nicht ideal, da die Veränderungen auch sehr tief gehen können. Es gibt zwar Studien, deren Autoren die Knoten mit Laser vaporisiert haben und zufriedenstellende Resultate propagieren. Unserer Meinung nach ist die Chirurgie aber bei ½dieser Erkrankung dem Laser überlegen.
ARS MEDICI: Könnte man den Laser eventuell in einem relativ frühen Stadium der Erkrankung einsetzen? Navarini: Das kann man schon, es ist aber meines Erachtens nicht unbedingt sinnvoll. Anstatt mit dem Laser ein tiefes Loch in die Haut zu brennen, das erst nach vier Wochen zuheilt, können Sie genauso die Läsion einfach elegant herausschneiden und die Wunde wieder teiladaptieren. Es ist zurzeit viel einfacher, einen solchen Eingriff chirurgisch zu machen. O
Das Interview führte Renate Bonifer.
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