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Titel
Grekonomie
Untertitel
-
Lead
Der Hausarzt schwitzt. Er sitzt mit Euklid, Sokrates, Aristoteles und Elefteria (= Freiheit) an einem runden Tisch und denkt an Frank A. Meyer. Die vier Griechen, die völlig unbekümmert ihre grossen Namen tragen, unterhalten sich mit dem Touristen in einem Gemisch aus Englisch und Athener Dialekt. Um sie zu verstehen, hilft ihm seine altphilologische Bildung nur wenig, denn Neugriechisch hört sich sehr anders an als die tote Sprache, die ihm eingetrichtert wurde. Verständnis hat der Hausarzt aber für ihre Wut, ihre Resignation und ihre Ratlosigkeit.
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ARSENICUM
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15881
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsenicum: Grekonomie

Der Hausarzt schwitzt. Er sitzt mit Euklid, Sokrates, Aristoteles und Elefteria (= Freiheit) an einem runden Tisch und denkt an Frank A. Meyer. Die vier Griechen, die völlig unbekümmert ihre grossen Namen tragen, unterhalten sich mit dem Touristen in einem Gemisch aus Englisch und Athener Dialekt. Um sie zu verstehen, hilft ihm seine altphilologische Bildung nur wenig, denn Neugriechisch hört sich sehr anders an als die tote Sprache, die ihm eingetrichtert wurde. Verständnis hat der Hausarzt aber für ihre Wut, ihre Resignation und ihre Ratlosigkeit. Sokrates, ein pensionierter Mathematiklehrer, der zeit seines Lebens hart gearbeitet hat, erhält nur noch 40 Prozent seiner Rente. Sein ganzes Arbeitsleben hatte er zusätzlich Nachhilfestunden geben müssen, weil sein Lehrergehalt schon so sehr karg war. Jetzt reicht es nicht mehr zum Leben und ist zu viel zum Sterben. Euklid, der wie sein Namensvetter gut rechnen kann, aber ebenfalls Hausarzt ist, erzählt derartige Gruselgeschichten aus dem griechischen Gesundheitswesen, dass dem Schweizer angst und bange wird. Aristoteles versteht die Welt nicht mehr. Und Elefteria versucht dem Xenos zu erklären, warum das griechische Volk ein wuchtiges OXI in die Urne gelegt hat. Dabei versteht der Hausarzt das – dank Frank A. Meyer – sehr gut. Der Schweizer Weise aus Berlin hat klar die Kulturunterschiede zwischen dem Süden und dem Norden aufgezeigt, die für Konflikte verantwortlich sind. Im Norden die protestantisch geprägte, ratio-

nale Denkweise, mit rigider Arbeitsund Zahlungsmoral. Im Süden die emotionalere Lebensart, wo man mal fünf gerade sein lässt, von einem Tag zum anderen und der Hand in den Mund lebt. Hier herrscht die Leichtigkeit des Seins, weswegen wir in den Ferien in diese Länder fahren, um uns vom «Chrampfen» zu erholen. Verträge? Werden hier als Vorschläge empfunden, von denen niemand erwartet, dass sie wortwörtlich ernst genommen oder gar treulich erfüllt werden. Hier erwartet man Spielraum, Flexibilität, sagt Ja, obwohl man weiss, dass es eigentlich Nein sein müsste. Denn man kann ja immer noch nachverhandeln. Weil morgen ein anderer Tag ist und sich die Umstände und die Menschen geändert haben. Hier will man dem Norden klar sagen, dass die finanziellen Belastungen für den Einzelnen unerträglich sind. Trotzdem wollen die Griechen in Europa bleiben, inklusive Euro, denn sie fühlen sich als das Land, aus dem Europa kam. Was ja auch zutrifft, und nicht nur für die junge Schöne, die von Zeus, dem lüsternen Bullen, sexuell angemacht wurde. Nostalgisch sprechen wir von all dem, was im Mittelmeerraum entstand und die Kultur des Nordens bereichert hat. Vom Parthenon-Fries, der als Elgin-Marbles nach London verschleppt wurde. Von den antiken Lehrern der Philosophie, Logik und Mathematik, ohne die unser heutiges Denken gar nicht möglich wäre. Wer der Welt ein ästhetisches Gesetz wie den Goldenen Schnitt gegeben hat, der hofft, dass sie einen Schuldenschnitt

macht. Dem Xenos wird nicht gestattet, eine Flasche Rotwein zu zahlen, die nicht mehr Oinos erythros heisst, sondern Kokina krasi, denn er ist Gast. Er wird von Gefühlen geschüttelt. Einerseits Dankbarkeit und Mitgefühl für diese warmherzigen Menschen mit ihrer grossartigen Gastfreundschaft, die jeden Sommer ertragen, wie ihr Land von fürchterlichen Touristenmassen heimgesucht wird. Andererseits Wut auf ökonomische Zwänge, die nicht nur die im Süden, sondern uns alle zu Lakaien und Sklaven machen. Aber wenn es jemand schafft, sich irgendwie zu befreien, dann sind es die Griechen, diese Meister des Überlebens. Wer ein Weltreich aufgebaut und dessen Untergang erlebt hat, wer Bürgerkriege, Seuchen, fremde Invasoren und eigene Despoten überlebt hat, wer sich von König und Militärjunta befreit hat, der wird auch die Euro-Wirren überstehen. Irgendwie und irgendwann. Meine nördlich-beschränkte Fantasie reicht nicht aus, um mir vorzustellen, wie sie das machen werden. Aber in meinem Herzen, das für den Süden schlägt, fühle ich, dass sie es schaffen werden. Und ich wünsche ihnen alles nur erdenkliche Gute dafür. Jammas!

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ARS MEDICI 14/15 I 2015