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FORTBILDUNG
Zerumenentfernung – Indikationen, Methoden, Gefahren
Die Entfernung von Ohrenschmalz ist dann erforderlich, wenn zu viel Zerumen gebildet wird oder der Selbstreinigungsmechanismus des Gehörgangs nicht funktioniert. Doch welche Methode ist dabei zu empfehlen: die chemisch-physikalische Strategie, die mechanische Entfernung oder eine Kombination? Mit welchen Komplikationen ist zu rechnen, und welche Geräte können dabei zum Einsatz kommen?
Fritz Meyer
In der frühen Volksmedizin war Ohrenschmalz als lokales Wundtherapeutikum (1) durchaus in Mode. Nicht zu Unrecht, denn die protektiven Qualitäten des Zerumens für das Ohr sind unumstritten. Ohrenschmalz besteht (2) aus den Sekreten der Zeruminaldrüsen und Haarfollikeltalg, der langkettige Fettsäuren, Alkohole, Squalen und Cholesterin enthält. Verdichtet werden diese eher flüssigen Anteile durch abgestorbene Zellen des Gehörgangepithels. Wegen seines Lysozymgehalts und seines sauren pH-Wertes wirkt Ohrenschmalz bakterizid und fungizid, durch seinen Fettanteil bildet es einen hydrophoben Schutzwall.
MERKSÄTZE
O Eine routinemässige Gehörgangstoilette ist nicht erforderlich; normalerweise reinigt sich das Ohr von selbst.
O Probleme entstehen, wenn zu viel Zerumen gebildet wird und/oder der natürliche Selbstreinigungsmechanismus aufgrund alters- oder krankheitsbedingter Konsistenzänderungen des Zerumens oder anatomisch-lokaler Besonderheiten nicht ausreichend funktioniert.
O Ohrenschmalz kann durch chemisch-physikalische Mobilisierung, mechanisch oder durch eine Kombination beider Methoden entfernt werden.
O Bei suspekter Ausgangslage (z.B. Trommelfelldefekte, chronische Mittelohreiterungen in der Vorgeschichte, frühere Trommelfellverletzungen oder Mittelohroperationen) wird der Patient am besten zum HNO-Arzt überwiesen.
Ohrreinigung meist überflüssig
So gesehen ist eine routinemässige Gehörgangstoilette nicht erforderlich, zudem reinigt sich das Ohr von selbst: Vom Entstehungsort wandert das Zerumen durch die Unterkieferbewegungen nach aussen, wird dabei dunkler, dichter und bekommt seinen typischen Geruch (2). Problematisch wird es, wenn zu viel Zerumen gebildet wird und/oder der natürliche Selbstreinigungsmechanismus aufgrund alters- oder krankheitsbedingter Konsistenzänderungen des Zerumens (Abbildung 1) oder anatomisch-lokaler Besonderheiten (zu enger oder zu grosser Gehörgang, Haarwuchs im Gehörgang, Exostosen) nicht ausreichend funktioniert. Eine niederländische Untersuchung (3) an 1000 Patienten wies bei jedem vierten Patienten eine übermässige Ohrenschmalzbildung nach, wobei über 75-jährige Männer zu 78 Prozent, Frauen zu 63 Prozent betroffen waren. Das mag daran liegen, dass in dieser Altersgruppe Ohrenschmalz tendenziell fester ist und damit leichter impaktiert.
Praxisrelevanz
Zunehmende oder plötzliche Hörminderungen sind neben Ohrenschmerzen und präventiven Pflegemassnahmen (Hörgeräteträger, Wassersportler) die Hauptgründe für eine Zerumenentfernung. Sie gehört zu den am häufigsten durchgeführten Prozeduren im Kopf-Hals-Bereich (3–5).
Wer macht was wie?
Prinzipiell gibt es zur Ohrenschmalzentfernung drei Wege: die chemisch-physikalische Mobilisierung (auflösen, gleitfähig machen), die mechanische Entfernung (extrahieren, saugen, spülen) oder eine Kombination beider Methoden. Hals-Nasen-Ohren-(HNO-)Ärzte entfernen Ohrenschmalz zwar auch mit Spülung, in den letzten Jahren aber deutlich häufiger instrumentell (Häkchen, Schlinge, Sauger). Das geht schneller, ist weniger aufwendig und macht anscheinend auch weniger Komplikationen (6, 7). Neben der erforderlichen Übung ist allerdings die Benutzung einer Stirnlampe, fallweise eines Ohrenmikroskops, erforderlich. Hausärzte ohne diese Optionen verhalten sich sehr heterogen – mit internationalen Unterschieden. Wie eine Befragung von 111 deutschen Hausärzten 2010 ergab (3), arbeiten rund 73 Prozent mit der Spülung, Zerumenolytika werden mit Zurückhaltung, bei 25 Prozent nie eingesetzt. Von britischen Hausärzten hingegen wird diese Massnahme zu 97 Prozent vor einer Spülung empfohlen. Während nur 1 von 100 britischen Hausärzten seine Patienten mit einem Ohrenschmalzproblem zum HNO-Arzt überwies, gab fast die Hälfte der
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Abbildung 1: Zerumenbrocken eines Patienten mit Pemphigus foliaceus. Der damals 59-jährige Landwirt entwickelte im Rahmen seiner Erkrankung auch eine auffällige Veränderung der Ohrenschmalzbildung. Diese war so stark, dass mindestens alle zwei Monate beide Ohren gereinigt werden mussten wegen Hörminderung, Juckreiz und Schmerzen. Die honigfarbenen, festen Ohrenschmalzklumpen aus Hornschuppen liessen sich nur entfernen, wenn der Patient am Tag zuvor sein Zerumen intensiv mit Olivenöl vorgeweicht hatte. Nach erfolgreicher immunsuppressiver Behandlung der Grunderkrankung endete die überschiessende und atypische Zerumenbildung und ist seitdem nie mehr symptomatisch geworden.
Abbildung 2: Im Gehörgangsmodell (angenommene Gehörgangslänge 2,5 cm) zeigt sich deutlich, dass bei grossem (8 mm Durchmesser) und gestrecktem Gehörgang (oberes Plastikrohr) die Spitze einer handelsüblichen Ohrspritze (3,3 cm lang) bei tiefem Einführen problemlos die Trommelfellebene (vertikale hellbraune Linie) überschreiten würde. Im unteren engeren Gehörgangsmodell (6 mm Durchmesser) wäre mit einer ebenfalls handelsüblichen, aber etwas kürzeren Spitze (2,3 cm lang) das Trommelfell nicht ganz zu erreichen.
deutschen Kollegen an, dies gelegentlich oder sogar häufig zu tun.
Was kann bei der Ohrspülung passieren?
Direkte Verletzungen des Trommelfells können bei Verwendung der Ohrspritze auftreten, wenn der Patient mit reflexartigen Ausweichbewegungen oder durch die Irritation von Vagusfasern in der Gehörgangswand mit einem Hustenreiz reagiert. Bei dem etwa 2,5 bis 3,5 cm langen Gehörgang des Erwachsenen sind direkte Gehörgangs- und Trommelfellverletzungen mit den handelsüblichen Spitzen einer Ohrspritze bei tiefer Einführung denkbar (Abbildung 2). Noch grösser ist die Gefahr bei behinderten und nicht kooperativen Patienten oder bei Kindern mit ihrem noch kürzeren Gehörgang. Trommelfellverletzungen bei der Ohrspülung können auch durch den Wasserdruck verursacht werden. Durch experimentelle Untersuchungen (8) an Leichen konnte belegt werden, dass der mediane Rupturdruck eines gesunden Trommelfells bei 912 mmHg liegt und mit zunehmendem Alter oder bei Vorschädigungen abnimmt. Durch weitere Messungen (9) konnten die von verschiedenartigen Ohrspritzen (Metall, Plastik, Glas) in menschlichen Gehörgängen unterschiedlicher Grösse erzeugten Drücke bestimmt werden. Dabei zeigte sich, dass mit Metallohrspritzen Drücke zwischen 200 und 300 mmHg, mit Plastik- und Glasspritzen etwas geringere produziert werden können. Die erzielbaren Drücke sind auch von der Gehörgangsdimension abhängig und können in einem grossen Gehörgang bis auf maximal 300 mmHg ansteigen.
Bei korrekter Handhabung der Ohrspritze sollte der dynamische Wasserdruck beim Spülen eines durchschnittlichen Gehörgangs normalerweise nicht ausreichen, um ein gesundes Trommelfell zu verletzen. Bei sehr grossem Gehörgang, gestörtem Wasserabstrom, einem älteren Patienten und/oder einem durch Narbenbildungen vorgeschädigten Trommelfell sind druckbedingte Trommelfellrupturen denkbar. Eine wichtige, häufig unterschätzte Nebenwirkung der Ohrspülung ist die thermische Reizung der Gleichgewichtsorgane, die schon eintreten kann, wenn die Spülflüssigkeit nur 2 bis 3 °C von der Idealtemperatur (37–38 °C) abweicht. Der Patient bekommt einen Drehschwindel, der eine längere Nachbeobachtung des Betroffenen (cave: Autofahrer) erforderlich machen kann. Schon deswegen ist die korrekte Temperatureinstellung des Wassers vor der Ohrspülung obligat. Automatisch temperierende Spülvorrichtungen für den HNO-Arzt sind meist in die Untersuchungseinheiten integriert oder im Fall eines singulären Geräts (z.B. Ohrspülgerät Charly, Fa. Happersberger Otopront) bis zu 6000 Franken teuer. Allerdings werden dem interessierten Hausarzt über den Fachhandel elektrische Spülgeräte zu einem Zehntel dieses Preises, teils basierend auf modifizierten Mundduschen, teils auf der Basis anderer Technologien, angeboten.
Geräte zur Ohrspülung
Zur Sicherheit oder zur Effizienz solcher Ohrspülgeräte (beispielhaft für Deutschland: Mulimed Otoscillo, Fa. Schneider Medizintechnik; für Grossbritannien: Propulse NG, Fa. Bionix) ist eine allgemein verbindliche Aussage auch im
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Kasten:
Magistrale Rezepturen oder Fertigarzneimittel zur Auflösung von Ohrenschmalz (Bestandteile und Angriffspunkt)
Tenside: Oberflächenspannung herabsetzen Beispiel: Natriumdioctylsulfosuccinat (z.B. Otowaxol®), ÖlsäurePolypeptid-Kondensat (z.B. Cerumenex®)
Alkohole: Fett lösen Beispiel: Glyzerin (Otodolor® soft)
Säuren: Milieu antibakteriell gestalten Beispiel: Essigsäure, Salicylsäure
Öle: Gleitfähigkeit erhöhen Beispiel: Olivenöl
«Sprengmittel»: Auflockerung Beispiel: Natriumhydrogenkarbonat, Wasserstoffperoxid, hypertonische Meerwasserlösung (Audispray®)
Vergleich zur konventionellen handbetriebenen Ohrspritze nicht möglich. Nach einer aktuellen PubMed-Recherche (Suchbegriffe: removal of impacted earwax, aural water irrigation system, electric ear syringe) fand sich nur eine, für hausärztliche Bedürfnisse nicht relevante Anwendungsbeobachtung (10) zu Propulse NG aus dem Jahr 1998. Weitere Informationen zu diesen Geräten können nur den Prospekten der Hersteller entnommen werden, sodass es der individuellen Erfahrung des einzelnen Kollegen überlassen bleibt, ob er sich für ein mechanisches oder ein elektrisch betriebenes Spülverfahren entscheidet. Die Verwendbarkeit eigentlicher Mundduschen zur Ohrspülung wurde in den «National guidelines released for earwax removal» (11) der amerikanischen Otolaryngologen als «inappropriate or harmful intervention» abgelehnt.
Fazit für die Praxis Bei suspekter Ausgangslage (z.B. Trommelfelldefekte, chronische Mittelohreiterungen in der Vorgeschichte, frühere Trommelfellverletzungen oder Mittelohroperationen) wird der Patient am besten zum HNO-Arzt überwiesen. Bei unkomplizierter Ausgangslage kann das Ohr gespült werden, nachdem der Patient belehrt worden ist, dass er während der Spülung den Kopf absolut ruhig zu halten habe (14). Mindestens zehnminütiges Vorweichen mit einem Zerumenolytikum (vgl. Kasten) ist sinnvoll und wird international empfohlen (11–13), wobei unterschiedliche Zerumenolytika und selbst das Vorweichen mit Wasser aufgrund der aktuellen Studienlage vergleichbar wirksam (7) sein sollen. Bei der
Spülung mit körperwarm temperiertem Wasser darf der
Strahl niemals direkt auf das Trommelfell, sondern muss zur
Reduzierung des Wasserstrahldrucks gegen die hintere obere
Gehörgangswand gerichtet werden. Nach jeder Ohrschmalz-
entfernung müssen aus medikolegalen Gründen (15) Gehör-
gang und Trommelfell obligat kontrolliert werden. Beim
Vorliegen von Gehörgangsirritationen ist die Nachsorge mit
entsprechenden Ohrentropfen sinnvoll, um eine sekundäre
Gehörgangsentzündung zu verhindern.
O
Dr. med. Fritz Meyer Facharzt für Allgemeinmedizin Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Sportmedizin, Ernährungsmedizin (KÄB) D-86732 Oettingen/Bayern
Interessenkonflikte: keine deklariert
Literatur: 1. Schramm P: Kuriositäten aus der Medizingeschichte. Edition Rarissima, Taunusstein,
1985. 2. Bas H: Verstopfte Ohren: Cerumen obturans – ein HNO-Klassiker. Ars Medici 2010;
4: 148–149. 3. Schmiemann G, Kruschinski C: Zerumenentfernung in der Hausarztpraxis. Zur Ver-
sorgungsrealität eines «banalen» Behandlungsanlasses. MMW Fortschr Med 2011; 152 (Suppl 4): 111–114. 4. Fink W, Haidinger G: Die Häufigkeit von Gesundheitsstörungen in 10 Jahren Allgemeinpraxis. Z Allg Med 2007; 83: 102–108. 5. Danninger H: 5 Einjahresstatistiken (1991–1996) einer österreichischen Allgemeinpraxis. Teil III: Die Fälleverteilung. Allgemeinarzt 1997; 19: 1800–1810. 6. Schmiemann G, Kruschinski C: Komplikationshäufigkeit bei der ambulanten Zerumenentfernung. HNO 2009; 57: 713–718. 7. Kruschinski C, Schmiemann G: Art und Häufigkeit von Komplikationen bei der Entfernung von Cerumen: eine systematische Literaturübersicht. Z Allg Med 2010; 6: 236–240. 8. Jensen JH, Bonding P: Experimental pressure induced rupture of the tympanic membrane in man. Acta Otolaryngol 1993; 113(1): 62–67. 9. Sorensen VZ, Bonding P: Can ear irrigation cause rupture of the normal tympanic membrane? An experimental study in man. J Laryngol Otol 1995; 109(11): 1036–1040. 10. Jones I, Moulton C: Use of an electric ear syringe in the emergency department. J Accid Emerg Med 1998; 15(5): 327–328. 11. National guidelines released for earwax removal. www.eurekalert.org/pub_releases/ 2008-08/aaoo-ngr082008.php (zuletzt eingesehen: 16.2. 2014) 12. Hand C, Harvey I: The effectiveness of topical preparations for the treatment of earwax: a systematic review. Br J Gen Pract 2004; 54(508): 862–867. 13. Clegg AJ et al.: The safety and effectiveness of different methods of earwax removal: a systematic review an economic evaluation. Health Technol Assess 2010; 14(28): 1–192. 14. Wienke A, Janke K: Aufklärung bei Cerumen-Entfernung? Laryngorhinootologie 2007; 86(1): 51–52. 15. Küttner K: Gehörgangsspülungen bergen Risiken. Hamburger Ärzteblatt 2011; 3: 28–29.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 10/2014. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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