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Titel
Supersinnlich
Untertitel
-
Lead
In meiner Praxis gibt es viel Sinnloses, glücklicherweise auch genügend Sinnvolles. Und ab und zu etwas Sinnliches. Honni soit qui mal y pense – natürlich ist hier nicht von Erotischem die Rede. Sondern nur von den Eindrücken, die uns die neurologisch erforschten Sinnesorgane vermitteln. Was allerdings nicht so gut evidenzbasiert ist, sind die unglaublichen Fähigkeiten, über die einige meiner Patienten laut ihren eigenen Aussagen verfügen.
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-
Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
-
Artikel-ID
10392
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsenicum: Supersinnlich

In meiner Praxis gibt es viel Sinnloses, glücklicherweise auch genügend Sinnvolles. Und ab und zu etwas Sinnliches. Honni soit qui mal y pense – natürlich ist hier nicht von Erotischem die Rede. Sondern nur von den Eindrücken, die uns die neurologisch erforschten Sinnesorgane vermitteln. Was allerdings nicht so gut evidenzbasiert ist, sind die unglaublichen Fähigkeiten, über die einige meiner Patienten laut ihren eigenen Aussagen verfügen. Diese sind supersinnlich bis übersinnlich. Da ist eine Dame, die riecht die Motorsäge im Kellerabteil eines Mitbewohners im gleichen Mietshaus – und dies über drei Etagen hinweg. Dass sie sie hören könnte, wenn sie in Betrieb ist, würde ich ja nicht anzweifeln. Doch eine solche Supernase schmeckt ein wenig nach Pinocchio. Weitere meiner Patienten sind wandelnde Rauchsensoren. Da gibt es einen Ehemann, der seiner Frau vorwarf, sie würde heimlich rauchen. Unter Tränen schwor sie alle Eide, dass sie nie geraucht habe, nicht rauche und auch nicht in Zukunft vorhätte zu rauchen. Er glaubte ihr nicht und verlangte einen Cotinin-Urin-Test, den sie machen liess. Negativ: weniger als ein Nanogramm pro Milliliter. Daraufhin machte er einen Ehepaartermin in meiner Praxis ab und teilte mit, dass er nicht nur Rauch riechen könne, sondern auch den speziellen Geruch erkenne, den «Hunderte von Abbauprodukten des Nikotins» auf der Haut und im Speichel verursachten.

Seine Frau, so beharrte er, habe vermutlich listig eine Rauchpause vor der Urinabgabe eingelegt, dies erkläre den fehlenden Nachweis. Jetzt wolle er eine Anmeldung für seine Frau für einen Haartest. Daraufhin bot ich ihm eine Anmeldung für ihn selbst beim Psychiater an. Das schmeckte ihm gar nicht.
Rekordverdächtig war auch die Mutter des kleinen Florian, die durch eine ritzenlose Betondecke hindurch zu riechen meinte, wenn der Nachbar von unten rauchte. Sie war durch Diagnostik nicht zu überzeugen. Hielt Gutachter, Bauexperten und ihren Vermieter auf Trab. Es wurden sogar farbige Rauchbomben gezündet, die undichte Stellen anzeigen sollten – vergeblich, denn es gab keine Lecks zwischen den beiden Etagen. Aber sie roch den Rauch noch immer …
Überhaupt sind Mütter, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht, sehr oft im High-alert-Modus. Sie kosten vor, was sie den Kindern verfüttern. Schon ein vermeintlicher Hauch von Buttersäure in der teuren Ersatzmilch, deren Verfallsdatum in weiter Ferne liegt, und das Zeug wird weggeworfen. Genauso ergeht es Fisch, der nach Fisch riecht – auch wenn er nachweislich fangfrisch ist. Akustisch werden die Kleinen abgeschirmt, damit ihre sensiblen Öhrchen keinen Schaden nehmen. Obwohl Kinder nichts lieber tun, als mit Altersgenossen herumzu-

schreien, was jeder bestätigen kann, der nach dem Erklingen der Pausenglocke in der Nähe eines Schulhauses war oder der öffentliche Sportbäder besucht. Im Teenageralter übernimmt dann die krass starke Anlage den Job der Lärmschädigung, und Mutters gut gemeinte Mahnungen werden dank maximal laut gestellter Musik aus Kopfhörern nicht gehört.
Noch nicht messbar, aber sicher sehr schädlich ist der Elektrosmog, meinen meine jungen Patienten. Die Einwände des Hausarztes, dass es vielleicht eher der exzessive Konsum von koffeinhaltigen Limonaden und stundenlanges Gamen sein könnten, die den Twen so nervös machen, werden ungläubig belächelt. Das würden sie ja wohl bemerken, oder? Sollte man meinen. Aber die Wahrnehmung ist selektiv. Der Sonnenbrand, der die Rothaarige zur Rothäutigen macht, macht ihr keinerlei Beschwerden. Sie will nur etwas kühlende Lotion, weil sie morgen erneut in der Sonne braten möchte.
Gerade will ich mir in einer kurzen Pause die Sinnfrage stellen, als die Tür aufgeht und meine MPA mit einer Tasse Kaffee kommt. «Woher wusstest du denn, dass ich genau darauf Lust habe?», frage ich sie erstaunt. «Ich kann Gedanken spüren!», sagt sie und kichert. «Siebter Sinn!»

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ARS MEDICI 11 I 2015