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BERICHT
SIT bei Pollenallergie
Etagenwechsel durch spezifische Immuntherapie frühzeitig verhindern
Etwa jedes 8. Kind hat mit einer allergischen Rhinitis zu kämpfen. Von ihr zum allergischen Asthma ist es häufig nicht mehr weit. Allerdings könnten solche «Allergikerkarrieren» durch eine rechtzeitige spezifische Immuntherapie (SIT) bei Kindern unterbrochen werden, berichtete am 4. Burghalde-Symposium in Lenzburg Raquel Enriquez von der Kinderklinik des Kantonsspitals Aarau.
Klaus Duffner
«Wir sehen schon sehr kleine Kinder, zum Beispiel mit einem Ekzem und unspezifischen Sensibilisierungen. Später kommen sie als Schulkinder wieder mit allergischer Rhinitis und irgendwann mit allergischem Asthma», erklärte pract. med. Raquel Enriquez von der Kinderklinik des Kantonsspitals Aarau. Die zentrale Frage sei daher, ob eine frühe Intervention in der Lage ist, einen solchen Etagenwechsel zu verhindern.
Jedes 8. Kind
hat eine allergische Rhinitis
Aus der viel beachteten SCARPOLStudie mit 4400 Teilnehmern ist bekannt, dass 13 Prozent aller Schweizer Kinder zwischen 6 und 15 Jahren irgendwann an Heuschnupfen erkranken (1). Dies wurde durch eine grosse internationale Untersuchung mit über 1 Million Kindern bestätigt, nach der 8,5 Prozent der 6- bis 7-Jährigen und 14,6 Prozent der 13- bis 14-Jährigen von allergischer Rhinitis betroffen sind (2). Solche Patienten haben im Vergleich zu Gesunden in einem Zeitraum von 8 Jahren ein 4-fach erhöhtes Risiko, später ein allergisches Asthma zu entwickeln (3). Oft beginnt eine solche «Allergikerkarriere» mit einer Monosensibilisierung gegen ein Nahrungsmittelallergen in den ersten 5 Lebensjahren. Dies geht dann im Laufe der folgenden Kindheit
und Jugend in eine Polysensibilisierung gegen verschiedene inhalative Allergene über (4). Der beste Zeitpunkt für eine Frühintervention in Form einer spezifischen Immuntherapie (SIT) scheine daher das erste Auftreten der Symptome einer allergischen Rhinitis zu sein, erklärte Enriquez, und zwar noch vor der Entstehung von Polysensibilisierungen beziehungsweise des allergischen Asthmas. In der Praxis werden meist mindestens zwei oder mehr Heuschnupfensaisons abgewartet, bevor man eine SIT beginnt.
Was bringt die frühe Intervention?
Wichtig scheint eine ausreichend lange Behandlung beziehungsweise eine genügend hohe Gesamtdosis des SIT-Extrakts zu sein. Gemäss einer Studie aus dem Jahr 2011 führte die subkutane Applikation eines Alternaria-alternataExtrakts bei Kindern gegenüber Plazebo nach 2 Jahren zu einer um 40 Prozent und nach 3 Jahren zu einer um 60 Prozent höheren Wirksamkeit (5).
Wie nachhaltig ist eine SIT bei Kindern?
6 und 12 Jahre nachdem man eine 3-jährige SIT bei Kindern abgeschlossen hatte, verfolgte ein Schweizer Team um Dr. Peter Eng, was aus den Allergien der mittlerweile jungen Erwachsenen geworden war (6). Zwar zeigten
sich parallel zum Pollenflug immer noch Symptome, allerdings signifikant weniger als bei Patienten, die in ihrer Kindheit keine Immuntherapie gegen bestimmte Gräser erfahren hatten. Auch die Entwicklung von Sensibilisierungen gegen komplett neue Allergene war in der SIT-Gruppe, sowohl nach 6 als auch nach 12 Jahren, mit 61 Prozent signifikant geringer als in der Kontrollgruppe mit 100 Prozent. «Somit scheint dies ein bleibender Effekt zu sein», so Enriquez. Ähnliche sekundärpräventive Resultate wurden übrigens auch bei frühen Immuntherapien gegen Milbensensibilisierungen nachgewiesen.
Prävention des Etagenwechsels
Von besonderer Bedeutung für die Bewertung der Wirksamkeit der spezifischen Immuntherapie im Kindesalter und der Prävention des Etagenwechsels von der Rhinitis zum Asthma sind die Daten aus der PAT-Studie (preventive allergy treatment) (7). Hierbei wurden 205 an einer allergischen Rhinitis leidende Kinder zwischen 6 und 14 Jahren 3 Jahre lang entweder mit einer SIT oder rein medikamentös therapiert. Tatsächlich war die Progression der Rhinitis zum allergischen Asthma 2,5mal geringer in der Immuntherapiegruppe als im Vergleichskollektiv. Von besonderer Bedeutung ist dabei der präventive Langzeiteffekt bezüglich der Asthmaverhinderung. Selbst 7 Jahre nach Ende der SIT entwickelten die behandelten Kinder hochsignifikant seltener ein allergisches Asthma bronchiale als jene in der Vergleichsgruppe (8).
Noch wenige Kinder mit SIT
Laut Schätzungen werden trotz dieser positiven Resutate nur 1 bis 5 Prozent der europäischen Kinder mit allergischer Rhinitis einer SIT unterzogen. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2011
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Das Wichtigste in Kürze
O SIT hat bei Kindern mit allergischer Rhinitis einen nachhaltigen krankheitsmodifizierenden Effekt, der auch Jahre nach Beendigung der Therapie noch anhält.
O Die Wahrscheinlichkeit eines Etagenwechsels wird reduziert. O Weitere Sensibilisierungen können reduziert werden. O Der Medikamentenverbrauch kann vermindert werden. O Hochqualitative SIT-Präparate sind auf dem Markt verfügbar. O Ab einem Alter von 5 bis 6 Jahren kann mit einer SIT begonnen werden. O Neue Behandlungsprotokolle mit kürzerer Aufdosierung, weniger Injektionen und
längeren Intervallen in der Erhaltungsphase führen zu einer besseren Compliance der Kinder.
Bei Pollenallergie: SCIT oder SLIT?
Zur Durchführung der spezifischen Immuntherapie (SIT) stehen prinzipiell zwei Applikationswege zur Verfügung: subkutane Injektion (SCIT) oder sublinguale Applikation mittels Tropfen oder Tabletten (SLIT). Bei Kindern ist die Evidenzlage für die SLIT besser; es gibt nur wenige Studien zur Wirksamkeit der SCIT bei Kindern. In einer Metaanalyse (1) verglich man SCIT und SLIT bei Kindern anhand von 13 Studien (n = 920) mit SCIT und 18 Studien (n = 1583) mit SLIT; in 3 der Studien wurden SCIT und SLIT direkt miteinander verglichen. Demnach vermindern sowohl SCIT als auch SLIT die Asthma-, Rhinitis- und Konjunktivitissymptome sowie den Gebrauch an Asthmamedikamenten. Für die SCIT sind schwere, potenziell lebensbedrohliche systemische Reaktionen bekannt, sie sind jedoch bei Einhalten aller Sicherheitsmassnahmen sehr selten (2). Die SLIT hat bezüglich anaphylaktischer und anderer schwerer systemischer Reaktionen ein besseres Sicherheitsprofil als die SCIT (2). Die häufigsten Nebenwirkungen der SLIT sind leichte lokale Reaktionen der Mundschleimhaut (65–85% der Patienten), die jedoch meist nach kurzer Zeit (10–15 Minuten bis wenige Stunden) von selbst zurückgehen und in der Regel nur in den ersten zwei Wochen der SLIT auftreten; auch leichte systemische Nebenwirkungen wie Urtikaria, Angioödeme oder Asthma sind bekannt (3). Weltweit wurden bisher 11 Fälle von Anaphylaxie unter SLIT dokumentiert (Anzahl verabreichter Dosen weltweit mehr als 2 Milliarden), Todesfälle unter SLIT sind nicht bekannt (3).
Aktuelle Leitlinie In einer kürzlich publizierten Leitlinie von Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wird empfohlen, für SCIT oder SLIT nur Präparate zu verwenden, für die ein entsprechender Wirksamkeitsnachweis vorliegt. Die verschiedenen Produkte sind aufgrund ihrer heterogenen Zusammensetzung nicht vergleichbar. Man darf aufgrund der Wirksamkeit von Einzelpräparaten nicht darauf schliessen, dass dies für alle Präparate einer Applikationsform zutrifft (2).
Die SCIT wird einmal pro Woche beim Arzt durchgeführt, bei der SLIT erfolgt nur die
Einnahme der ersten Dosis unter ärztlicher Aufsicht, danach täglich zu Hause. Die The-
rapieadhärenz ist bei der SLIT trotzdem nicht besser als bei der SCIT. Sie sei bei jeder
spezifischen Immuntherapie – unabhängig von der Applikationsform – niedriger, als
viele Ärzte glaubten (3).
RBO
1. Kim JM, Lin SY, Suarez-Cuervo C et al.: Allergen-Specific Immunotherapy for Pediatric Asthma and Rhinoconjunctivitis: A Systematic Review. Pediatrics 2013; 131: 1155–1167.
2. Pfaar O et al.: Guideline on allergen-specifc immunotherapy in IgE-mediated allergic diseases – S2k Guideline of the German Society for Allergology and Clinical Immunology (DGAKI), the Society for Pediatric Allergy and Environmental Medicine (GPA), the Medical Association of German Allergologists (AeDA), the Austrian Society for Allergy and Immunology (ÖGAI), the Swiss Society for Allergy and Immunology (SGAI), the German Society of Dermatology (DDG), the German Society of Oto-Rhino-Laryngology, Head and Neck Surgery (DGHNO-KHC), the German Society of Pediatrics and Adolescent Medicine (DGKJ), the Society for Pediatric Pneumology (GPP), the German Respiratory Society (DGP), the German Association of ENT Surgeons (BVHNO), the Professional Federation of Paediatricians and Youth Doctors (BVKJ), the Federal Association of Pulmonologists (BDP) and the German Dermatologists Association (BVDD). Allergo J Int 2014;23: 282–319. Online: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/061-004.html.
3. Calderón MA: Sublingual allergen immunotherapy. In: Global Atlas of Allergy. European Academy of Allergy and Clinical Immunology 2014; 306–308. Online: www.eaaci.org/resources/scientific-output/global-atlas-of-allergy.ht.
wurden 100 italienische Ärzte gefragt,
welches für sie die wichtigen Faktoren
hinsichtlich einer SIT seien. Dabei
wurde bemerkenswerterweise Neben-
wirkungen und Applikationsformen wie
«geringe Dosierung» oder «Flexibili-
tät» mehr Wichtigkeit zugesprochen
als der tatsächlichen Effektivität der
Behandlung. Dabei seien heute hoch-
qualitative und sichere Produkte ver-
fügbar, meinte Enriquez. Sicher könn-
ten jedoch neue Behandlungsproto-
kolle mit weniger Injektionen und
längeren Intervallen dazu führen, dass
es zu einer noch besseren Adhärenz
beziehungsweise Compliance bei den
Kindern käme. «Insgesamt sind wir
aber der Meinung, dass bei solchen
Kindern eine Behandlung möglichst
früh durchgeführt werden sollte, da das
Immunsystem noch flexibel zu sein
scheint und es so aussieht, als habe die
Immuntherapie einen krankheitsmodi-
fizierenden Effekt.»
O
Klaus Duffner
Literatur: 1. www.bag.admin.ch/themen/ernaehrung_bewegung/
05190/05294/12844/index.html?lang=de (Swiss Study on Childhood Allergy and Respiratory) 2. Ait-Khaled N et al.: Allergy 2009; 64: 123–148. 3. Shaaban R et al.: Lancet 2008; 372: 1049–1057. 4. Langen U: Bundesgesundheitsbl-GesundheitsforschGesundheitsschutz 2012; 55 (3): 318–328. 5. Kuna P et al. J Allergy Clin Immunol 2011; 127 (2): 502–508. 6. Eng PA et al. Allergy 2006; 61: 198–201. 7. Möller C et al. JACI 2002; 109: 251–256. 8. Jacobson L et al. Allergy 2007; 62: 943–948.
Referat von pract. med. Raquel Enriquez: «Spezifische Immuntherapie bei Pollenallergie: Besonderheiten im Kindesalter» am 4. Burghalde-Symposium, 28. August 2014 in Lenzburg.
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