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BERICHT
Rückenschmerzen – woran man bei der Abklärung denken sollte
Funktionelle Defizite von strukturellen Veränderungen abgrenzen
Rückenschmerzen sind ein häufiger Konsultationsgrund in der Allgemeinpraxis. Oftmals bessern sich die Beschwerden nach einer kurzen Therapie oder bilden sich auch ganz von allein zurück. Allerdings leidet ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Betroffenen unter persistierenden oder rezidivierenden Symptomen und Belastungsintoleranz. Was man in der Diagnostik beachten sollte, skizzierte Dr. med. Patric Gross, Chefarzt am St. Katharinenspital in Diessenhofen, anlässlich des letzten Rheumatop.
Uwe Beise
Bei der Diagnostik eines Rückenschmerzpatienten sollte laut Gross zunächst ermittelt werden, ob eher strukturelle Veränderungen die Beschwerden hervorrufen, ob funktionelle Defizite des «Organsystems Rücken» vorliegen
oder ob belastende psychosoziale Einflussfaktoren im Vordergrund stehen. Im Grundsatz gilt: Je akuter der Rückenschmerz, desto eher liegen strukturelle Veränderungen vor, je chronischer er ist, desto eher ist von belastenden
Akute lumbale Schmerzen
Anamnese Körperliche Untersuchung
Nicht spinale Ursachen
Warnzeichen «red flags»
Radikuläre Ausstrahlung
Unspezifische Kreuzschmerzen
Rasche (evtl. NF-mässige) Zuweisung ans Wirbelsäulenzentrum
Reevaluation nach 1 Woche Überweisung an Spezialisten und weitere Abklärung bei Persistenz über 1 bis 2 Wochen trotz Therapie
Reevaluation bei Persistenz über 4 Wochen trotz Therapie
Abbildung: Diagnostisches Vorgehen bei akuten Rückenschmerzen
psychosozialen Problemen auszugehen. Funktionelle Defizite können zwar auch bei akuten Rückenschmerzen vorhanden sein, eine bedeutende Rolle spielen sie jedoch beim rezidivierenden und beim chronifizierten Rückenschmerz.
Welche Abklärung bei akuten
Rückenschmerzen?
Beim akuten Rückenschmerz gilt es laut Gross, anhand ausführlicher Anamnese und kurzer klinischer Untersuchung eine Triage vorzunehmen: Ziel ist es, unabwendbar gefährliche Verläufe, extraspinale Ursachen und Kreuzschmerzen mit radikulärer Ausstrahlung von unspezifischen Rückenschmerzen abzugrenzen (Abbildung). Folgende Fragen sind dabei zu beantworten: O Woher kommt der Schmerz? Gibt es
nicht spinale Ursachen? O Gibt es komplizierende Faktoren,
also «red flags» (s. Tabelle 1)? Patienten mit «red flags» müssen unter Umständen einer sofortigen Abklärung und Therapie zugeführt werden. O Ist eine radikuläre Ausstrahlung vorhanden (vorwiegend Beinschmerzen)? Bei Ruheschmerz oder belastungsabhängigem Schmerz mit radikulärer Ausstrahlung sollen die Patienten nach einer Woche erneut einbestellt werden, um sicherzugehen, dass die Patienten keine Parese entwickeln. Eventuell ist auch die Möglichkeit einer wirbelsäulennahen Infiltration in Betracht zu ziehen. O Gibt es bereits chronische Verlaufszeichen («yellow flags»)? (Tabelle 2). Auf yellow flags sollte man spätestens dann achten, wenn die Beschwerden sich nicht bessern.
«Aus der Anamnese und den klinischen Befunden lassen sich oft bestimmte
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Tabelle 1:
«Red flags» bei akuten Rückenschmerzen
O Alter < 20 oder > 50 Jahre (nicht ohne zusätzliche Faktoren) O Fieber, Nachtschweiss O Gewichtsverlust O Nachtschmerz, Ruheschmerz O Immunsuppression: Steroide, Drogenanamnese, HIV O Malignom in der Anamnese O kürzliches Trauma O neurologische Symptomatik: Kontinenzstor̈ ung, Reithosenanas̈ thesie, Paresen
Tabelle 2:
«Yellow flags» bei (chronischen) Rückenschmerzen
O Auffälligkeiten bei der Schmerzbeschreibung O starkes Krankheitsgefühl und Schmerzerleben, Katastrophisierung O erschwerte Rückkehr zur Arbeit bei früheren ähnlichen Ereignissen O Therapieresistenz gegenübeer adäquaten Massnahmen, vermehrte Entlastung durch
Bettruhe, Fremddelegieren von zumutbaren Alltagsaktivitäten O schlechte Eigenprognose über zukünftige Gesundheit und Arbeitsfähigkeit O vorhandene Arbeitskonflikte, Versicherungsprobleme, früherer Anwaltsbeizug
Analgesie, Aufklärung, Aktivität
Die Therapie beim akuten «low back pain» (ohne Radikulopathie) orientiert sich an der 3A-Regel: Analgesie, Aufklärung, Aktivität! Gross machte darauf aufmerksam, dass Rückentapes sehr gut analgetisch wirken, als Alternative oder auch zusätzlich zu Antirheumatika. Bei radikulärem Syndrom gibt es folgende therapeutische Optionen: Konservativ O Analgesie: NSAR, Opiate, Muskelrelaxans O Infiltrationen: Sakralblock, epidural interlaminär und transforaminal O Mobilisation nach Beschwerden, keine Bettruhe, schmerzlindernde Lagerung,
Instruktion über Paresen O Physiotherapie: schmerzhemmend, Nervenwurzel entlastend, Stabilisation Operativ: O Notfall (zwingend rasch): Cauda-equina-Syndrom O bald: schwere motorische Ausfälle O eventuell: bei Therapieresistenz O niemals: nur Rückenschmerzen, «yellow flags», diskrepante Befunde Bild/Klinik
zählen folgende Laboruntersuchungen: BSR/CRP, Blutbild, alk. Phosph., Ca/ Phosphat, GOT/GPT, Urinstatus, evtl. Elektrophorese. Röntgenuntersuchungen helfen bei gewöhnlichem «low back pain» oft nicht weiter, da sie zu wenig spezifisch sind. Manche im Röntgenbild nachweisbare Veränderungen können zwar Schmerzen verursachen, müssen es aber nicht. So ist seit Langem bekannt, dass degenerativ veränderte Gelenke und Bandscheiben zuweilen völlig asymptomatisch sind. Das MRI hilft beim ausschliesslichen «low back pain» diagnostisch zumeist nicht weiter. Einen Nutzen attestierte Gross dem MRI in Fällen, in denen klinisch eine neurale Kompression zu vermuten sei (Diskushernie, Spinalkanalstenose). Als hilfreich und zuverlässig erweist sich das MRI auch bei der Diagnose von Tumoren, frischen osteoporotischen Frakturen, Spondylodiscitis und Spondylarthritis.
Funktionelle Defizite erfassen
Gross hob hervor, dass bei rezidivierenden und chronisch persistierenden Schmerzen die Erfassung der funktionellen Defizite von grosser Bedeutung sei. «Wir sind es gewohnt, ausschliesslich Strukturdiagnostik zu betreiben, die zentrale Frage aber lautet: ‹Was kann das Organsystem Rücken wirklich leisten und was eben nicht›», meinte Gross. Die dafür notwendige Prüfung der Funktions- und Leistungsfähigkeit des Rückens würde aber oft nicht ausreichend berücksichtigt. Nach Meinung von Gross lassen sich in der Praxis beispielsweise anhand der einfachen klinischen Tests nach Luomajoki Patienten identifizieren, die eine fehlende Kontrolle über Rücken und Rumpf haben (Bewegungs-KontrollDysfunktion). Die Analyse liefert zugleich den Ansatz zu einer Therapie, die darauf zielt, dem Patienten den Zusammenhang zwischen Bewegung und Stabilität bewusst zu machen.
klinische Muster bestimmen, die als Arbeitshypothesen auf die zugrunde liegende Schmerzursache hinweisen und für das weitere klinische Vorgehen sinnvoll sind», meinte Gross. Neben dem radikulären Syndrom und der Claudicatio spinalis sind die in Tabelle 3
aufgeführten klinischen Syndrome zu unterscheiden.
Röntgen oft wenig hilfreich Bei persistierenden Beschwerden sollte eine Reevaluation mit allfälligen Zusatzuntersuchungen stattfinden. Hierzu
Interdisziplinäre Therapie bei
chronifizierten Schmerzen
Von chronischen Rückenschmerzen spricht man, wenn die Beschwerden länger als 3 Monate anhalten. Im chronischen Stadium ist die Beziehung zwischen Schmerz und Verletzung nicht mehr vorhanden, der
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Testbatterie für Bewegungskontrolle der LWS
Zuerst jeweils Test korrekt (Resultat negativ), und dann nicht korrekt (Test positiv). 1. «Waiters bow»: vorwärts beugen von der
Hüfte, ohne die LWS zu flektieren. 2. «Pelvic tilt»: das Becken nach hinten kippen, LWS geht in die Flexion. 3. Einbeinstand: Stan-
dard: Spurbreite ein Drittel von Trochanterbreite, Norm: 8 cm Ausweichen lateral (Test positiv, wenn laterales Ausweichen mehr
als 10 cm). 4. «Sitting knee extension»: das Knie so weit strecken wie möglich ohne Bewegung vom Rücken. 5. «Rocking all fours»:
das Becken nach hinten verschieben, ohne dass der Rücken flektiert; das Becken nach vorne bringen, ohne dass der Rücken exten-
diert (gibt insgesamt einen Punkt, wenn eine oder beide Seiten positiv). 6. «Prone knee bend»: das Knie beugen, ohne dass der
Rücken extendiert oder rotiert.
(Bilder mit freundl. Genehmigung des Autors)
Je mehr Tests positiv sind, destso schlechter ist die Bewegungskontrolle. Die Zuverlässigkeit der Testbatterie wurde für sehr gut befunden (1); sie differenziert sehr gut zwischen Gesunden und Patienten mit Rückenschmerzen (2). Bei 2 positiven Tests aus 6 beträgt die Odds Ratio 8; das heisst bei 2 positiven Tests ist die Chance 8-mal höher, dass diese Person Rückenschmerzen hat.
1. Luomajoki H et al.: Reliability of movement control tests in the lumbar spine. BMC Musculoskelet Disord 2007; 8: 90. 2. Luomajoki H et al.: Movement control tests of the low back; evaluation of the difference between patients with low back pain and healthy controls. BMC Musculoskelet Disord 2008; 9: 170.
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Tabelle 3:
Klinische Symptommuster und mögliche Ursachen
Syndrom Diskogenes Syndrom
Facettensyndrom Instabilitätssyndrom Bewegungskontrolldysfunktion SIG-Syndrom
Myofasziales Schmerzsyndrom Dysfunktionales Schmerzverhalten
Pathogenese/Ätiologie Degenerative Bandscheibenveränderungen, meist mit Reizung des Lig. longit. post. Internal Disk Disruption
Dysfunktion oder degenerative Veränderungen der Facettengelenke
Dysfunktion im Bewegungssegment bei Hypermobilität, bei schwerer Segmentdegeneration, muskulärer Insuffizienz, Spondylolisthesis und Spondylolyse
Dysfunktion im Sakroiliakalgelenk
Myofasziale Schmerzpunkte – thorakal, abdominal, glutäal, lumbal
Zentrale Sensibilisierung, Somatoforme Störung
Symptomatik
O dumpf ziehender Schmerz O Zunahme in Flexion und Sitzen O oft Husten und Pressschmerzen O keine radikulären Symptome O wechselnder Shift
O spondylogene, nicht segmentale Ausstrahlung O dorsal lateral untere Extremität O Zunahme in Extension, Rotation, Seitneigung O Anlaufschmerzen, kurze Morgensteifigkeit
O wiederholtes Blockierungsgefühl O Aufrichteschmerz nach Flexion und KletterOphänomen mit Abstützen auf Beinen O Bewegungsschmerz bei überraschender O mechanischer Einwirkung
O Gesässschmerzen, meist einseitig O Ausstrahlung dorsaler Oberschenkel bis Knie O Zunahme nach längerem Sitzen und Aufstehen O und Treppensteigen O positives SIG und positiver Provokations- und O Funktionstest
O belastungsabhängige Schmerzen, Provokation O durch Dehnung und Druck O klare Schmerzreproduktion mit «referred pain O area»
O Selbstlimitierung, Katastrophisieren, «yellow O flags» O Diskrepanz Befund/Verhalten
Schmerzmechanismus hat sich also gewandelt. Meist liegt eine zentrale Hyperalgesie vor, teilweise bestehen auch neurogene Schmerzen, es gebe jedoch kaum mehr «nozizeptive Inputs», sagte Gross. Bei den Betroffenen besteht das Problem, dass sie nach der akuten Schmerzerfahrung eine Angst vor Bewegung und erneuter Verletzung und Schmerz entwickeln und deshalb ein
Vermeidungsverhalten an den Tag legen, sich schonen, zurückziehen oder auch depressiv werden und somit eine Negativspirale in Gang setzen. Beim chronischen Rückenschmerz spielen Kontextfaktoren eine entscheidende Rolle, oft ist ein interdisziplinäres Therapiekonzept nötig – mit starkem verhaltenstherapeutischem Akzent. Gross betonte, dass die Therapieziele individuell definiert werden sollten,
wobei die Verbesserung von Funktion
und Leistungsfähigkeit sowie die so-
ziale Partizipation erste Priorität ge-
niessen; die Schmerzreduktion ist ein
zweitrangiges Anliegen.
O
Uwe Beise
Quelle: «Rückenerkrankungen: Tipps für die Diagnostik», Rheuma Top 2014, Seedamm Plaza, Pfäffikon 22. August 2014.
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