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STUDIE REFERIERT
Paracetamol – nicht immer harmlos
Ein systematischer Review
Paracetamol ist möglicherweise nicht so sicher wie gemeinhin angenommen. In langfristig angelegten Beobachtungsstudien war Paracetamol dosisabhängig mit kardiovaskulären, gastrointestinalen und renalen Nebenwirkungen – und sogar mit einer erhöhten Mortalität – verbunden. Diese Risiken wurden bereits bei Dosierungen im oberen Normbereich beobachtet.
Annals of the Rheumatic Diseases
Paracetamol (Panadol® und Generika) ist weltweit das am häufigsten angewendete Analgetikum. Es gehört zu den Medikamenten der ersten Stufe im WHO-Stufenschema und wird in zahlreichen internationalen Richtlinien als «First-Line»-Option zur Behandlung akuter und chronischer Schmerzen empfohlen. Zudem gilt es als sicherer im Vergleich zu anderen gängigen Analgetika wie nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) oder Opioiden. Trotz der häufigen Anwendung und der leichten Zugänglichkeit von Paracetamol war bis vor Kurzem keine Abschätzung der langfristigen Risiken bei Applikation von Standarddosierungen verfügbar. In einem systematischen Review evaluierten Emmert Roberts vom Maudsley Hospital in London (Grossbritannien) und seine Arbeitsgruppe jetzt den aktuellen Wissensstand bezüglich schwerer unerwünschter Ereignisse bei dauerhafter Einnahme von Paracetamol und erstellten ein Toxizitätsprofil. Die Wissenschaftler beschränkten ihre Literaturrecherche auf Beobachtungs-
MERKSÄTZE
O Unter Paracetamol kann es auch bei Standarddosierung zu kardiovaskulären, gastrointestinalen und renalen Nebenwirkungen kommen.
O Das Risiko für unerwünschte Wirkungen ist dosisabhängig.
studien. Randomisierte kontrollierte Studien wurden nicht berücksichtigt, da sie ihrer Ansicht nach wegen der oft kurzen Beobachtungszeiträume und der strengen Einschlusskriterien die Allgemeinbevölkerung und den klinischen Alltag unzureichend repräsentieren. Für ihren Review wählten die Autoren Beobachtungsstudien aus, in denen eine oder mehrere Nebenwirkungen von Paracetamol bei Teilnehmern über 18 Jahren unter Standarddosierungen (0,5–1 g alle 4–6 h, Maximum 4 g/Tag) im Vergleich zu keiner Einnahme von Paracetamol untersucht wurden.
Ergebnisse
Von 1888 Studien entsprachen 8 Kohortenstudien aus England, Schweden, Dänemark und den USA den Einschlusskriterien. Die maximalen Beobachtungszeiträume betrugen 2 Jahre (2 Studien), 7 Jahre (2 Studien), 11, 12, 14 und 20 Jahre. Insgesamt wurden rund 665 000 Patienten in die Studien eingeschlossen. Die Teilnehmerzahl variierte zwischen 801 und 382404 Patienten. In 2 Studien wurde die Mortalität in Verbindung mit Paracetamol untersucht. In einer britischen Studie (20 Jahre, 382 404 Teilnehmer) wurde eine dosisabhängige erhöhte Gesamtmortalität beobachtet. Bei wiederholter Einnahme von Paracetamol in niedriger Dosierung betrug die relative Rate (RR) 0,95 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,92– 0,98) und war demzufolge mit keiner Einnahme vergleichbar. Bei lang anhaltendem Gebrauch in hoher Dosierung
lag die RR bei 1,63 (95%-KI: 1,58– 1,68) und war somit um 63 Prozent erhöht. Die kardiovaskulären Risiken von Paracetamol wurden in 4 Studien untersucht. In einer davon zeigte sich in Abhängigkeit von der Dosis eine erhöhte RR für alle kardiovaskulären Ereignisse (tödlicher und nicht tödlicher Herzinfarkt, tödlicher oder nicht tödlicher Schlaganfall, tödliche koronare Herzerkrankung). Bei Einnahme von 1 bis 2 Tabletten/ Woche lag die RR bei 1,19 (95%-KI: 0,81–1,75), bei Einnahme von mehr als 15 Tabletten/ Woche war die RR auf 1,68 (95%-KI: 1,10–2,57) angestiegen. In einer anderen Untersuchung wurde eine dosisabhängige Zunahme der relativen Rate erster Herzinfarkte und Schlaganfälle beobachtet, und in 2 weiteren Studien zeigte sich eine dosisabhängige Zunahme des relativen Risikos für eine neu auftretende Hypertonie. Auch gastrointestinale Nebenwirkungen wurden in Zusammenhang mit Paracetamol beobachtet. In der britischen Studie nahm die relative Rate von Nebenwirkungen im oberen Gastrointestinaltrakt (gastroduodenale Ulzera und Blutungen) in Abhängigkeit von der Dosis zu. Die RR reichten von 1,11 (95%-KI: 1,04–1,18) bei geringer Paracetamolexposition bis 1,49 (95%-KI: 1,34–1,66) bei langfristiger Applikation in hoher Dosierung. In 3 von 4 Studien kam es zu dosisabhängigen renalen Nebenwirkungen in Verbindung mit Paracetamol. In einer von ihnen zeigte sich ein erhöhtes Risiko für die Abnahme der glomerulären Filtrationsrate (GFR) um 30 Prozent oder mehr. Die Odds Ratios (OR) reichten von 1,40 (95%-KI: 0,79–2,48) bei geringer Exposition bis 2,19 (95%KI: 1,4–3,43) bei hoher Exposition. In einer weiteren Studie zeigte sich eine dosisabhängige Zunahme der Anzahl neuer Fälle akuten Nierenversagens. In der dritten Studie nahmen die OR für einen Anstieg des Serumkreatinins um 0,3 mg/dl oder mehr und eine Abnahme der geschätzten GFR (eGFR) um mindestens 30 ml/min/1,73 m² mit der Dosis zu.
Diskussion
Aus dem Review geht ein konsistenter dosisabhängiger Zusammenhang zwischen Paracetamol und unerwünschten
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Wirkungen hervor, die auch häufig bei der Applikation von NSAR beobachtet werden. Dazu gehören kardiovaskuläre, gastrointestinale und renale Nebenwirkungen sowie eine erhöhte Mortalitätsrate. Als Limitierung ihres Reviews erachten die Wissenschaftler die geringe Anzahl der ausgewerteten Studien. Als weitere Einschränkung betrachten sie die unterschiedlichen Dosierungskonzepte. In manchen Studien wurde die Einnahme von Paracetamol über die Lebenszeit untersucht, in anderen die Anzahl der Tabletten oder die eingenommene Grammzahl in einem bestimmten Zeitraum. Dies verhinderte die quantitative Auswertung in einer Metaanalyse, sodass auch keine eindeutigen Rückschlüsse auf eine sichere Dosierung möglich waren.
Da es sich um Beobachtungsstudien handelt, könnten die Ergebnisse durch eine selektive Verschreibung von Paracetamol (channeling bias) beeinflusst worden sein. Die Verbindung zwischen Dosierung und Nebenwirkungen erstreckt sich jedoch konsistent über die meisten Endpunkte und alle Studien. Dies weist nach Ansicht der Autoren auf eine beträchtliche Toxizität hin – vor allem am oberen Ende des Standarddosierungsbereichs. Ein ähnliches Sicherheitsprofil von Paracetamol wurde auch in systematischen Reviews zu kurzzeitigeren randomisierten, kontrollierten Studien beobachtet. Bei jeder Verschreibung eines Analgetikums sind eine Abwägung von Nutzen und Risiken sowie ein Kompromiss zwischen Wirksamkeit und Verträglichkeit erforderlich. Vor allem bei um-
strittenem Nutzen von Paracetamol – wie bei Knie- oder Rückenschmerzen – sollte die Verschreibung daher sorgfältiger überdacht werden. Insgesamt kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Risiken in Verbindung mit Paracetamol bis anhin unterschätzt wurden. Angesichts der häufigen Anwendung und der freien Zugänglichkeit fordern sie systematische Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Paracetamol bei verschiedenen Erkrankungen. O
Petra Stölting
Roberts E et al.: Paracetamol: not as safe as we thought? A systematic literature review of observational studies. Ann Rheum Dis 2015; online March 5, 2015; doi: 10.1136/ annrheumdis-2014-206914.
Interessenkonflikte: keine deklariert.
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