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BERICHT
Je mehr Bakteriengene, desto gesünder der Wirt
Was das Mikrobiom des menschlichen Darms verrät
Die Erforschung des Darmmikrobioms zählt zu den aufstrebenden Gebieten in Medizin und Biologie. Die Auswirkungen der Darmflora auf Metabolismus und Immunsystem werden immer besser verstanden. Für wirksame Interventionen ist die Datenlage allerdings noch recht dünn.
Reno Barth
Das Darmmikrobiom besteht – so Prof. Dr. Joël Doré, Leiter der Forschungsabteilung für Ökologie und Physiologie des Verdauungstraktes am französischen Institut für landwirtschaftliche Forschung, INRA – aus 1014 bis 1015 Bakterien. Das sind 100 Trillionen Zellen und damit 10-mal so viel, wie es Körperzellen im menschlichen Organismus gibt. Das Mikrobiom könne als eigenes Organ betrachtet werden, das in Beziehung sowohl zum menschlichen Genom als auch zur menschlichen Ernährung steht und sowohl das Immunsystem als auch neurale und endokrine Funktionen beeinflusst. Diese vielfältigen Interaktionen seien, so Doré, das Ergebnis einer sehr langen Co-Evolution. Doré: «Die grosse Mehrzahl der im menschlichen Darm lebenden Spezies ist nur dort lebensfähig und lässt sich ausserhalb des Organismus nicht anzüchten.» Damit sind die meisten Spezies klassischen Kulturtechniken nicht zugänglich, eine Beschreibung des Mikrobioms ist nur über das Genom möglich. Die dabei entstehenden Probleme sind allerdings erheblich, denn die Zahl der Gene dürfte nach aktuellem Forschungsstand rund 150-mal höher sein als die des menschlichen Genoms. Die Erforschung des Darmmikrobioms wurde daher erst relativ spät begonnen. Erste Versuche, das Mikrobiom mittels DNA-Sequenzierung zu beschreiben, zeigten in den Neunzigerjahren, dass im Darm eine erhebliche Artendiversität mit einigen Kernspezies besteht und dass das Mikrobiom zur Homöostase tendiert und
Versuchen zur Beeinflussung erheblichen Widerstand entgegensetzt. Einen entscheidenden Durchbruch brachten die neuen, hoch entwickelten Methoden der Genetik, insbesondere ein neuer Forschungszweig namens Metagenomik, der sich mit der Gesamtheit des Genoms eines Biotops beschäftigt. Mittlerweile ist es möglich geworden, direkt nach dem genetischen «Fingerabdruck» des gesamten Mikrobioms zu suchen. Dabei zählen auch die Mengenverhältnisse der vorhandenen Bakterien. Man spricht also von quantitativer Metagenomik. «Wir sind heute bereits in der Lage, sehr schnell die Zahl der Gene des Mikrobioms festzustellen und einen Genkatalog zu erstellen», sagt Doré. Im Rahmen des MetaHIT-Programms der EU (METAgenomics of the Human Intestinal Tract) wurde mittlerweile ein kompletter Genkatalog des Darmmikrobioms basierend auf Proben von 124 Individuen aus Europa und Asien erhoben (1). Dank DNA-Sequenzierung mit sehr hohem Durchsatz konnten bis anhin 10 Millionen Gene aus Proben von mehr als 1200 Personen identifiziert werden (2).
Deutliche interindividuelle Schwan-
kungen bei Spezies und Genzahl
Die Untersuchungen zeigten deutliche interindividuelle Schwankungen im Darmmikrobiom. Dies betrifft einmal die Speziesebene. Doré: «Im Schnitt werden bei einem Menschen rund 500 000 der bekannten Darmbakteriengene gefunden. Dabei gibt es Kern-
gene. Rund die Hälfte der bekannten Gene wird bei rund der Hälfte der untersuchten Menschen gefunden. Mittlerweile konnten wir mehr als 50 Spezies identifizieren, die zu diesem Kernmikrobiom gehören.» Das Metagenomprojekt zeigte jedoch auch, dass sich Individuen nicht nur in Bezug auf die Enterotypen unterscheiden, sondern auch hinsichtlich der Menge der vorhandenen Bakteriengene. Die als Zahl der menschlichen Mikrobiomgene angegebene halbe Million ist lediglich ein Durchschnittswert mit grosser statistischer Schwankungsbreite. Bei einem konkreten Menschen werden zwischen 200 000 und 800 000 Bakteriengene gefunden, wobei eine höhere Genzahl der Gesundheit förderlich sein dürfte. Mittlerweile ist es auch gelungen, bestimmte Mikroben zu identifizieren, die sich als Marker eignen. Beispielsweise spricht das Vorhandensein von Faecalibacterium prausnitzii für eine hohe Zahl von Bakteriengenen im individuellen Mikrobiom. Das Auftreten solcher Markerspezies kann mit hohem prädiktivem Wert als diagnostisches Modell für die Zahl der Gene des Mikrobioms eingesetzt werden. Doré: «Bei rund einem Viertel der Bevölkerung findet man eine niedrige Zahl von Bakteriengenen, was mit Inflammation und einer insgesamt ungünstigeren Stoffwechsellage assoziiert ist.»
Der Enterotyp wird in den
ersten Lebensjahren etabliert
Eine wichtige Erkenntnis aus MetaHIT war die Definition sogenannter Enterotypen (3). Diese werden beschrieben als «bevorzugte Muster in der ökologischen Landschaft des menschlichen Darmmikrobioms». Bisher wurden drei solcher Enterotypen beschrieben, die jeweils durch ein dominantes Bakterium (Bacteroides, Prevotella und Ruminococcus) als sogenanntem «Driver» charakterisiert werden. Die Voraussetzung dafür ist ein hohes Mass an Stabilität des individuellen Metagenoms. Allerdings sei es, so Doré, unter bestimmten Voraussetzungen durchaus möglich, von einem Enterotypen in einen anderen zu wechseln. Grundsätzlich werden Enterotyp und Genzahl bereits früh in der Kindheit festgelegt. Der Geburtsweg (vaginale Geburt oder Sectio) spielt dabei ebenso
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eine Rolle wie die erste Ernährung (Stillen vs. Ersatzmilch) und die nach dem Abstillen vorrangig gegebene Nahrung. Doré: «Weltweit scheint es drei vorrangige Energiequellen nach dem Abstillen zu geben: Weizen, Mais und Reis, die jeweils in bestimmten Regionen zum Einsatz kommen. Das scheint einen Einfluss auf die Entwicklung des Darmmikrobioms zu haben. Auch die Hygienebedingungen sowie Antibiotikabehandlung in der ersten Lebensphase nehmen Einfluss auf das Mikrobiom.» Hier kommt auch die Hygienehypothese zur Entstehung von Allergien und Autoimmunerkrankungen ins Spiel. Es wird vermutet, dass eine geringe mikrobielle Diversität zu einer verzögerten Reifung des Immunsystems in der Darmmukosa führt, was in weiterer Folge ungünstige Reaktionen auf Allergene und Auto-Antigene begünstigt (4). Für eine geringe Zahl von Spezies und einen niedrigen Gene-Count im Darmmikrobiom wurde der Begriff Dysbiose geprägt. Doré: «Eine Dysbiose ist charakterisiert durch geringen Artenreichtum und seltenes Auftreten von Faecalibacterium prausnitzii auf der Seite des Mikrobioms sowie durch zumindest geringgradige Inflammation auf der Seite des Wirts.» Es mehren sich die Hinweise, dass der westliche Lebensstil der Industrienationen der mikrobiellen Diversität nicht förderlich ist. So zeigt eine Studie aus den USA, dass in verschiedenen Regionen der Welt die Diversität des Mikrobioms bis zum Alter von drei Jahren kontinuierlich zunimmt. Danach war die mikrobielle Diversität jedoch generell bei Amerikanern weniger ausgeprägt als bei Südamerikanern oder Afrikanern (5). Erhebliche Unterschiede im Darmmikrobiom konnten auch zwischen Kohorten von Kindern aus Italien und Burkina Faso nachgewiesen werden (6). Ernährungsgewohnheiten dürften langfristig den Enterotyp bestimmen. So erwies sich der mit niedrigem GeneCount assoziierte Bacteroides-Typ auch als assoziiert mit einer Diät reich an tierischem Fett und Protein. Im Gegensatz dazu wird bei Menschen, die sich kohlenhydrat- und ballaststoffreich ernähren, häufiger der günstigere Prevotella-Enterotyp gefunden. Leider ist eine Veränderung des Enterotyps durch kurzfristige Diätinterventionen
nicht möglich (7). Doré: «Die Enterotypen sind also ziemlich stabil und resistent gegen Veränderungen in der Diät. Ob es mit längerfristiger Ernährungsumstellung gelingt, von einem Typ in einen anderen zu wechseln, wird gegenwärtig untersucht.»
Langfristige Ernährungsumstel-
lung beeinflusst das Mikrobiom
Die vielfältigen Auswirkungen einer günstigeren oder weniger günstigen Zusammensetzung des Darmmikrobioms sind mechanistisch bereits zu einem wesentlichen Teil erklärbar. Mikroben können die Energieaufnahme des Organismus beeinflussen, indem sie Ballaststoffe abbauen sowie durch Fermentation verwertbare Substanzen produzieren beziehungsweise deren Verfügbarkeit regeln. Darüber hinaus sind sie in der Mukosa aber auch in ständigem Kontakt mit der Darmbarriere und haben unter anderem Einfluss auf deren Permeabilität (8). «Man geht davon aus, dass ein ungünstiges Mikrobiom die Permeabilität der Darmbarriere erhöht, was zum Austritt von Toxinen und Inflammation führt. Ich denke allerdings, dass da auch eine Rückkopplung im Spiel ist, dass nämlich Entzündungssignale wiederum Einfluss auf das Mikrobiom nehmen und sich damit ein Teufelskreis entwickelt, in dem Dysbiose, Entzündung, Insulinresistenz et cetera einander gegenseitig verstärken», sagte Doré. Ob und wieweit Diätinterventionen hier Abhilfe bringen, wurde bereits in ersten Studien untersucht. Innerhalb einer adipösen Population ist ein atrophes Mikrobiom allerdings nicht nur prognostisch ungünstig, sondern weist auch auf geringere Erfolgsaussichten von Ernährungsinterventionen sowohl zur Gewichtsreduktion als auch zur Veränderung der metabolischen Parameter hin. Zwar ist es gelungen, durch eine fettarme sowie protein- und ballaststoffreiche Kost den Gen-Count übergewichtiger Probanden zu erhöhen, wobei allerdings nicht die Werte von Individuen erreicht wurden, die von vornherein ein diverseres Mikrobiom zeigten. Dabei brachte die Diätintervention in Bezug auf Gewichtsreduktion und Insulinresistenz bei Individuen mit niedrigem Gene-Count weniger Erfolg als bei einer hohen Zahl von Bakteriengenen (9). Doré: «Wir
können den Klinikern also schon bei Planung der Intervention sagen, wie die Chancen auf Erfolg stehen. Allerdings muss man auch betonen, dass die Diätumstellung selbst bei ungünstigen Voraussetzungen den Gene-Count immerhin um rund 25 Prozent erhöht hat.»
Ernährungsumstellung
als erste Massnahme
Epidemiologische Untersuchungen ge-
ben Hoffnung, dass langfristige Verän-
derungen der Ernährung deutlichere
Auswirkungen haben. So ergab eine
aktuelle französische Studie, dass der
Konsum einer «gesunden Kost» (in die-
ser Arbeit definiert durch reichlich
Obst, Gemüse, Suppen und Joghurt)
auch innerhalb einer rein europäischen
Population mit einem signifikant höhe-
ren Gene-Count des Darmmikrobioms
assoziiert ist (10). Daher sollte, so
Doré, eine Ernährungsumstellung
immer die erste Massnahme sein, die
zur Modifikation des Mikrobioms ver-
sucht wird, und anderen Interventio-
nen vorgezogen werden.
O
Reno Barth
Referenzen: 1. Qin J et al.: A human gut microbial gene catalogue
established by metagenomic sequencing. Nature 2010; 464 (7285): 59–65. 2. Li J et al.: An integrated catalog of reference genes in the human gut microbiome. Nat Biotechnol 2014; 32 (8): 834–841. 3. Arumugam M et al.: Enterotypes of the human gut microbiome. Nature 2011; 473 (7346): 174–180. 4. Okada H et al.: The «hygiene hypothesis» for autoimmune and allergic diseases: an update. Clin Exp Immunol 2010; 160 (1): 1–9. 5. Yatsunenko T: Human gut microbiome viewed across age and geography. Nature 2012; 486 (7402): 222–227. 6. De Filippo C et al.: Impact of diet in shaping gut microbiota revealed by a comparative study in children from Europe and rural Africa. Proc Natl Acad Sci USA 2010; 107 (33): 14691–14696. 7. Wu GD et al.: Linking long-term dietary patterns with gut microbial enterotypes. Science 2011; 334 (6052): 105–108. 8. Cani PD, Delzenne NM. Gut microflora as a target for energy and metabolic homeostasis. Curr Opin Clin Nutr Metab Care 2007; 10 (6): 729–734. 9. Cotillard A et al.: Dietary intervention impact on gut microbial gene richness. Nature. 2013; 500 (7464): 585–588. 10. Kong LC et al.: Dietary patterns differently associate with inflammation and gut microbiota in overweight and obese subjects. PLoS One 2014; 9 (10): e109434.
Symposium «Diet, immunity and systemic disease», Präsentation «Diet: Major modulators of gut microbiota» im Rahmen der 22. UEG-Week vom 18. bis 22. Oktober 2014 in Wien.
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