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BERICHT
Diagnostik und Therapie bei Frailty
Gebrechlichkeit im Alter entsteht oft durch Mangelernährung
Neben Demenz ist Frailty – die chronische altersbedingt herabgesetzte Belastbarkeit – die zweite Herausforderung im Rahmen der demografischen Veränderung der Gesellschaft. Dies erklärte der Allgemeinarzt Dr. med. Peter Landendörfer an seinem Workshop anlässlich der practica 2014. Ernährungsstörungen können meist mit Frailty gleichgesetzt werden. Wie kann man dieses Syndrom erkennen, und welche Therapiemassnahmen können helfen?
Vera Seifert
Unter einer Mangelernährung leiden 6 Prozent der zu Hause lebenden Senioren, 12,2 Prozent der pflegebedürftigen alten Menschen und 29,9 Prozent der Patienten mit Demenz. Aufgrund abnehmender Hunger- und zunehmender Sättigungssignale nimmt der Appetit im Alter ab. Hinzu kommt eine gestörte Wahrnehmung von Geruch und Geschmack, sodass das Essen als monoton empfunden wird. Ausserdem sind Funktionsstörungen des Magen-DarmTrakts häufig, wie Kau- und Schluckprobleme, verzögerte Magenentleerung und reduzierte Darmmotilität. Auch im Gefolge einer Erkrankung entstehen häufig Appetitstörungen, Essprobleme sowie Probleme beim Einkaufen und der Essenszubereitung aufgrund von eingeschränkter Mobilität. Die daraus resultierende Gewichtsabnahme führt zum Funktionsverlust, der wiederum weitere Erkrankungen bedingt – ein Teufelskreis. Ernährungsstörungen im Alter würden oft als natürliche Folge des Alterungsprozesses betrachtet, monierte Landendörfer. Dabei handelt es sich um ein Krankheitsbild sui generis, das vom Hausarzt leicht diagnostiziert werden kann. Auch die Ursachen von Frailty lassen sich als Wechselwirkung sich gegenseitig bedingender Einflussfaktoren darstellen (Abbildung 1). Nach der Definition von Fried liegt Frailty vor, wenn von den folgenden 5 Kriterien mindes-
tens 3 erfüllt sind, falls 2 Kriterien erfüllt sind, spricht man von Prä-Frailty: O unbeabsichtigter Gewichtsverlust O Erschöpfung O Muskelschwäche O langsame Gehgeschwindigkeit O geringe körperliche Aktivität.
Diagnostik bei Verdacht auf Frailty
Klinische Zeichen, die für eine Mangelernährung sprechen, sind: O Schwäche, Apathie, Müdigkeit O Muskeldystrophie O Hautläsionen, Hämatome O schuppige Haut O Risse oder wunde Stellen am Mund O schlaffe Hautfalten O «pudertrockene» Axilla O blasse Hautfarbe.
Laborparameter, die erhoben werden sollten, sind neben Blutbild, Entzündungsparametern, Elektrolyten und Blutzucker zum einen das Serumalbumin, das bei Malnutrition abnimmt (normal: > 40 g/l, grenzwertig: 35 bis 40 g/l, stark reduziert: < 30 g/l). Sinnvoll ist zudem die Bestimmung des Harnstoff-Kreatinin-Quotienten. Dieser steigt mit Abnahme der Muskelmasse im Rahmen einer Mangelernährung an. Beurteilung: O normal: < 30 O mild: 30 bis 50 O mässig: 50 bis 70 O schwer: > 70.
Für eine Frailty spricht ein ungewollter Gewichtsverlust von 5 Prozent in 1 bis 3 Monaten oder von 10 Prozent in 6 Monaten. Der Ernährungsstatus beziehungsweise das Essverhalten eines Patienten lässt sich gut mit dem Mini Nutritional Assessment (MNA®; Abbildung 2) erfassen, in dem Angaben zu Appetit- und Gewichtsverlust, Mobilität/Beweglichkeit, akuter Krankheit oder psychischem Stress in den letzten drei Monaten, Demenz oder Depression und der Body-Mass-Index abgefragt werden. Informationen zur Nahrungsaufnahme können zum Beispiel Tellerprotokolle liefern (Abbildung 3), bei denen morgens, mittags, abends und gegebenenfalls bei einer zusätzlichen Mahlzeit der Prozentsatz des geleerten Tellers (0, 25, 50, 75 oder 100%) erfasst wird. Ausser Gewichtsverlust sind Erschöpfung, Muskelschwäche, langsame Gehgeschwindigkeit und geringe körperliche Aktivität Kriterien der Frailty. Erschöpfung lässt sich diagnostisch erfassen beziehungsweise quantifizieren mithilfe des Barthel-Indexes, des Ausmasses von Atemnot bei Belastung sowie der Sprechgeschwindigkeit und -lautstärke. Muskelschwäche ist prüfbar durch den Händedruck, den ChairRising-Test und die Balance-Tests (Tandem-Test, Romberg, Unterberger Tretversuch). Eine langsame Gehgeschwindigkeit wird offenbar beim Timed-Up & Go-Test. Die geringe körperliche Aktivität lässt sich mit der Mini Mental State Examination (MMST) und der Geriatrischen Depressionsskala (GDS) beurteilen. Als kurze erste Checkliste im Rahmen einer «5-Minuten-Diagnostik» haben sich die in der Tabelle aufgeführten Punkte bewährt. Bei der körperlichen Diagnostik ist insbesondere auf den Zahnstatus zu achten:
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Abbildung 1: Ursachen der Frailty als Wechselwirkung sich gegenseitig bedingender Einflussfaktoren
Name: Geschlecht:
Alter (Jahre):
Vorname: Gewicht (kg):
Grösse (cm):
Datum:
Füllen Sie den Bogen aus, indem Sie die zutreffenden Zahlen in die Kästchen eintragen. Addieren Sie die Zahlen, um das Ergebnis des Screenings zu erhalten.
Screening
A Hat der Patient während der letzten 3 Monate wegen Appetitverlust, Verdauungsproblemen, Schwierigkeiten beim Kauen oder Schlucken weniger gegessen? 0 = starke Abnahme der Nahrungsaufnahme 1 = leichte Abnahme der Nahrungsaufnahme 2 = keine Abnahme der Nahrungsaufnahme
B Gewichtsverlust in den letzten 3 Monaten 0 = Gewichtsverlust > 3 kg 1 = nicht bekannt 2 = Gewichtsverlust zwischen 1 und 3 kg 3 = kein Gewichtsverlust
C Mobilität 0 = bettlägrig oder in einem Stuhl mobilisiert 1 = in der Lage, sich in der Wohnung zu bewegen 2 = verlässt die Wohnung
D Akute Krankheit oder psychischer Stress während der letzten 3 Monate? 0 = ja 2 = nein
E Neuropsychologische Probleme 0 = schwere Demenz oder Depression 1 = leichte Demenz 2 = keine psychologischen Probleme
F1 Body-Mass-Index (BMI): Körpergewicht (kg)/Körpergrösse (m2) 0 = BMI < 19 1 = 19 ≤ BMI < 21 2 = 21 ≤ BMI < 23 3 = BMI ≥ 23
Wenn kein BMI-Wert vorliegt, bitte Frage F1 durch Frage F2 ersetzen. Wenn Frage F1 bereits beantwortet wurde, Frage F2 überspringen.
F2 Wadenumfang (WU in cm) 0 = WU < 31 3 = WU ≥ 31
Ergebnis des Screenings (max. 14 Punkte) 12–14 Punkte: J Normaler Ernährungszustand 8–11 Punkte: J Risiko für Mangelernährung 0–7 Punkte: J Mangelernährung
Für ein tiefergehendes Assessment (≤ 11 Punkte) bitte die vollständige Version des MNA® ausfüllen, die unter www.mna-elderly.com zu finden ist.
Wurde das Screening mit Beantwortung der Frage F2 (Wadenumfang) durchgeführt, ist die MNA® – Long Form für ein tiefergehendes Assessment nicht geeignet, bei Bedarf ein anderes Assessment (z.B. PEMU) durchführen.
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Abbildung 2: Mini Nutritional Assessment (MNA®)
O Schmerzen beim Öffnen und Schliessen des Mundes?
O behinderter Kauvorgang? O Prothese unregelmässig getragen? O Sitz der Prothese verschiebbar? O Prothese nicht intakt, ungepflegt? O Selbstständiger Wechsel der Pro-
these nicht möglich? O Läsion/Druckstelle durch Prothese? O Trockene Mundschleimhaut? O Zähne locker/kariös? Zahnfleisch
entzündet?
Zudem ist auf Exsikkosezeichen sowie Ödeme und Aszites zu achten. An apparativen Untersuchungen sind je nach Befund eventuell ein abdomineller Ultraschall, eine Röntgenübersichtsaufnahme des Thorax, eine Ösophagogastroduodenoskopie und eine Ileokoloskopie sinnvoll.
Energiebedarf erfassen
Der Grundumsatz im Alter beträgt rund 20 kcal/kg Körpergewicht (KG) pro Tag, bei kranken Senioren zirka 30 kcal/kg KG pro Tag und bei Untergewicht sowie Hyperaktivität bei Demenz bis zu 40 kcal/kg KG pro Tag. Um den Gesamtenergiebedarf berechnen zu können, wird der Grundumsatz mit dem Körpergewicht und dem Mass physischer Aktivität (PAL: physical activity level) multipliziert. Er beträgt zum Beispiel bei alten oder gebrechlichen Menschen mit geringer Mobilität beziehungsweise sitzender Tätigkeit 1,2, bei mittlerer Mobilität, Mangelernährung und bei Rekonvaleszenz mit Wunden/Dekubitus oder Infektionen 1,4 und bei aktiven alten Menschen mit erhöhter Mobilität (z.B. täglicher Spaziergang von 1 h) 1,6. Auch Fieber erhöht den PAL. Der Eiweissbedarf bei stabiler Stoffwechsellage beträgt 1 g/kg KG pro Tag.
Massnahmen bei Mangelernährung
Ist eine Mangelernährung diagnostiziert, gilt es, das Ess- und Trinkverhalten zu fördern. Dazu können je nach individueller Situation verschiedene Massnahmen beitragen. So können bei Kaustörungen eine Zahnbehandlung sowie die Mund- und Prothesenpflege helfen, bei Schluckstörungen eine logopädische Behandlung und bei Defiziten der Alltagskompetenz Ergotherapie. Selbstverständlich müssen bestehende Erkrankungen behandelt und die Medi-
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Tabelle:
Checkliste «5-Minuten-Diagnostik» bei Verdacht auf Frailty
O Ganggeschwindigkeit O Lautstärke der Stimme O Sprechgeschwindigkeit O Händedruck O Hinsetzen (mit/ohne Aufstützen?) O Sachinhalte (Emotionen/Kognition) O Gewicht O Krankheiten O persönliches/soziales Umfeld
Abbildung 3: Tellerprotokoll
kamente auf mögliche appetithemmende Substanzen überprüft werden. Ganz wichtig ist die soziale und häusliche Situation. Bei mangelnder Mobilität kann zum Beispiel «Essen auf Rädern» eine Hilfe sein. Die Essensumgebung (Unterstützung durch Pflegende, Kommunikation, Zuwendung beim Essen) und individuelle Vorlieben oder Abneigungen spielen zudem eine grosse Rolle. Auch Hilfsmittel wie Teller mit Randerhöhungen, Bestecke mit verdicktem Griff, Antirutschmatte und Coombes-Becher mit Aussparung für die Nase können gute Dienste leisten (Abbildung 4). Diese Becher haben, so Landendörfer, im Vergleich zu Schnabeltassen den Vorteil, dass man Flüssigkeit auch im Liegen zuführen kann, ohne eine Aspiration befürchten zu müssen. Lässt sich mit diesen Massnahmen keine ausreichende Kalorienzufuhr erreichen, kommen als nächste Stufe die Gabe von Trinknahrung per os, dann die enterale Ernährung über Sonde und schliesslich die parenterale Ernährung infrage. Bei der Verordnung von Sondenkost ist darauf zu achten, dass in der Regel 1,2 kcal/ml ausreichend sind, so Landendörfer. Sie kann zum Beispiel indiziert sein bei Schluckstörungen, demenziellen Syndromen oder Depression. Allerdings sollte die Anlage einer PEG nach Möglichkeit nur eine vorübergehende Lösung sein, solange die natürliche Zufuhr ausreichender Nahrungsmengen nicht möglich ist. Die Indikation ist regelmässig zu überprüfen, und selbstverständlich kann zusätzlich oral
Abbildung 4: Praktische Hilfsmittel bei funktionellen Störungen
Nahrung aufgenommen werden. Die Zufuhr sollte bevorzugt über Pumpe erfolgen, die Zufuhrgeschwindigkeit ist erst nach mehreren Stunden guter Verträglichkeit zu steigern. Während der Verabreichung und in den folgenden 30 Minuten sollte der Patient strikt hochgelagert werden.
Flüssigkeitszufuhr Als Faustregel zum Flüssigkeitsbedarf gilt: O 30 bis 40 ml/kg KG O 1 ml je zugeführte kcal O zirka ein Drittel feste Nahrung, zirka
zwei Drittel Flüssigkeit.
Ein erhöhter Flüssigkeitsbedarf besteht bei Fieber (zusätzlich 10 ml pro Grad Fieber), Diarrhö, Erbrechen, Schwitzen, erhöhter Atemintensität und hoher Protein- beziehungsweise Kochsalzzufuhr. Eine Indikation zur subkutanen Infusion besteht, wenn die ermittelte erforderliche Trinkmenge über Tage nicht
erreicht wird, wenn eine Steigerung
trotz «geführter Hand» nicht möglich
ist und wenn sich der Allgemeinzu-
stand verschlechtert. Kontraindika-
tionen sind massive periphere Ödeme,
die gleichzeitige Gabe von Antikoa-
gulanzien, eine Thrombozytopenie
(< 40 000/mm3) und ein massiver Volu-
menmangelschock. Die Vorteile der
subkutanen Infusion: Die Venen wer-
den geschont, es ist nicht mit wesentli-
chen Blutungen bei unruhigen Patien-
ten zu rechnen, bei Herzinsuffizienz
wird der Kreislauf mehr geschont als
bei i.v.-Infusionen, und bei Hypokali-
ämie kann Kalium (bis zu 40 mmol/l)
beigemischt werden.
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Vera Seifert
Quelle: Workshop P. Landendörfer «Kleine Geriatrie des Hausarztes» an der practica, 22. bis 25. Oktober 2014, Bad Orb.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2015. Die bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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