Transkript
Kuhmilch ist nicht der Auslöser
Neue Studien zu Typ-1-Diabetes
BERICHT
Bei Typ-1-Diabetes entscheidet die Glykämiekontrolle über direkte Komplikationen, allgemeine sowie kardiovaskuläre Sterblichkeit und den Schwangerschaftsverlauf, wie die Referenten an einer Diabetesfortbildung in Bern darlegen konnten.
Halid Bas
diabetesspezifischen und der gegen Kuhmilch gerichteten Antikörper erzielen. «Diese ernüchternden Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass eine frühe Kuhmilchexposition kein Auslöser für Typ-1-Diabetes ist», sagte Spinas, «wir sollten also diesen Mythos begraben und die Aufforderung, Kuhmilch bei Säuglingen zu vermeiden, aufgeben.»
Der Beginn einer Diabetes-Typ-1Erkrankung liegt oft in den ersten Lebensjahren. Aus epidemiologischen Daten ist bekannt, dass Stillen bis zu drei Monaten vor Diabetes schützt.
MERKSÄTZE
O Eine frühe Kuhmilchexposition ist kein Auslöser für Typ-1-Diabetes, daher sollte die Aufforderung, Kuhmilch bei Säuglingen zu vermeiden, aufgegeben werden.
O Typ-1-Diabetiker mit guter Glykämiekontrolle (HbA1c ≤ 6,9%) hatten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein doppelt so hohes Risiko für die Gesamt- und die kardiovaskuläre Mortalität, solche mit sehr schlechter Glykämiekontrolle hingegen ein 8- bis 10-mal höheres Sterberisiko.
O Ein bihormonelles bionisches Pankreas verbesserte bei Erwachsenen die mittleren Glykämiespiegel und führte zu einer signifikant geringeren Anzahl von Hypoglykämien.
O Während der Schwangerschaft mit Insulinpumpe behandelte Diabetikerinnen benötigen weniger Insulin und haben tiefere HbA1c-Werte, die Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung sind aber noch nicht eindeutig geklärt.
Eine Hypothese geht davon aus, dass die Exposition mit fremden Eiweissen, beispielsweise Rinderalbumin oder Rinderinsulin aus Kuhmilch, bei Individuen mit entsprechender genetischer Disposition (HLA-Genotyp) als Trigger für die Auslösung einer gegen Betazellen gerichteten Autoimmunität wirkt, so Prof. Dr. med. Giatgen Spinas, Klinikdirektor, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich.
Kuhmilch ist nicht der postulierte
Trigger der Betazellautoimmunität
Eine seinerzeit viel beachtete Pilotstudie mit 230 Kindern aus Finnland hatte ergeben, dass das Abstillen und der Übergang zu einer auf weitgehend hydrolisiertem Kasein basierenden Babynahrung bei Verwandten ersten Grades von Typ-1-Diabetikern die Häufigkeit von gegen Betazellen gerichteten Autoimmunvorgängen reduzierte. Dieser präventive Ansatz wurde nun in der randomisierten, kontrollierten und doppelblinden TRIGR-Studie an 2159 Säuglingen mit HLA-vermittelter genetischer Prädisposition überprüft (1). Nach einer mittleren Beobachtungszeit von 6,3 Jahren liess sich im Gegensatz zur Pilotstudie mit der experimentellen Babynahrung im Vergleich zu einer normalen auf Kuhmilch basierenden Babynahrung während der ersten sechs bis acht Lebensmonate keine Reduktion der
Auch gut eingestellte Diabetiker
haben eine höhere Mortalität
Typ-1-Diabetiker tragen ein erheblich höheres Risiko für frühzeitigen Tod als die Allgemeinbevölkerung. Bei jüngeren Zuckerkranken sind dafür akute Komplikationen verantwortlich, bei älteren überwiegend kardiovaskuläre Ursachen, so Prof. Dr. med. Michael Brändle, Klinikleiter Endokrinologie, Diabetologie, Osteologie und Stoffwechsel, Kantonsspital St. Gallen. Eine Studie hat das Sterberisiko in Relation zu mehreren bekannten Glykämiewerten bei Patienten aus dem nationalen Diabetesregister in Schweden untersucht (2). Rund 34 000 Patienten wurden mit 170 000 Kontrollen verglichen. Die statistischen Analysen ergaben, dass eine HbA1c-Erhöhung um 1 Prozent mit einer Hazard Ratio (HR) von 1,3 für Tod aufgrund jeglicher Ursache und mit einer HR von 1,26 für Tod aufgrund kardiovaskulärer Ursachen assoziiert war (95%-Konfidenzintervall 1,27–1,34 bzw. 1,19–1,32). Typ-1-Diabetiker mit einem HbA1c-Wert ≤ 6,9 Prozent hatten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein doppelt so hohes Risiko für die Gesamt- und die kardiovaskuläre Mortalität. Bei Patienten mit sehr schlechter Glykämiekontrolle war das Sterberisiko hingegen 8- bis 10-mal höher. Die Überschusssterblichkeit bei Typ-1-Diabetikern geht fast ausschliesslich auf kardiovaskuläre Ursachen zurück, die höhere Mortalität bei gut
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Foto: H.B.
eingestellten Zuckerkranken bleibt ungeklärt. «Die Ergebnisse dieser Beobachtungsstudie müssen mit Einschränkungen gesehen werden, da nicht für alle Patienten mehrere Blutzuckerwerte dokumentiert waren, Störfaktoren nicht gänzlich ausgeschlossen werden konnten und die Beobachtungsdauer mit zwölf Jahren eher kurz war», so Brändle.
Künstliches Pankreas verspricht
bessere Glykämiekontrolle
Auf dem Weg zu einer besseren, automatisierten Glykämiekontrolle ist ein «bionisches» Pankreas entwickelt worden, das aus kontinuierlicher Blutzuckermessung kombiniert mit einem modifizierten iPhone als Kontrolleinheit und je einer Pumpe mit subkutaner Verabreichung von Insulin und Glukagon besteht. Dieses tragbare künstliche Pankreas sei erstmals bei 20 Erwachsenen und 32 Adoleszenten unter ambulanten Bedingungen im Crossover mit einer Insulinpumpe als Kontrolle während jeweils fünf Tagen erprobt worden, berichtete Spinas (3). Das bihormonelle bionische Pankreas verbesserte bei Erwachsenen die mittleren Glykämiespiegel und führte zu einer signifikant geringeren Anzahl von Hypoglykämien. Bei den Adoleszenten waren die mittleren Plasmaglukosewerte mit dem bionischen Pankreas im Vergleich zur Insulinpumpe ebenfalls tiefer, aber die prozentuale Zeit mit tiefen Plasmaglukosespiegeln war im Vergleich zur Kontrollperiode ähnlich. Die mittlere Häufigkeit von Interventionen wegen Hypoglykämien war bei den Adoleszenten mit dem bionischen Pankreas nur halb so hoch wie bei denjenigen mit der Insulinpumpe.
Schwangere Typ-1-Diabetikerin:
Insulinpumpe oder multiple
Insulinjektionen?
Eine gute Glykämiekontrolle während der Schwangerschaft ist wichtig für Mutter und Kind. Ob das besser mit einer Insulinpumpe oder mit mehrfach täglich zu verabreichenden Insulininjektionen zu erreichen ist, bleibt unklar. So fand eine Metaanalyse von sechs kleinen Studien keine Unterschiede zwischen diesen Behandlungsansätzen, und ein Cochrane-Review kam 2007 zum Schluss, dass zu dieser Fragestellung nicht genügend Studien vorlägen. In einer von Prof. Roger Lehmann, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich, vorgestellten retrospektiven Studie mit 387 konsekutiven Schwangerschaften aus Kanada hatten Schwangere mit kontinuierlicher subkutaner Insulininfusion zwar um 0,3 bis 0,7 Prozent tiefere HbA1cSpiegel, aber nicht weniger Hypoglykämien, diabetische Ketoazidosen oder geringere Gewichtszunahmen als Schwangere mit mehrfachen täglich verabreichten Insulinjektionen (4). Trotz besserer Diabeteseinstellung traten bei den Kindern der mit Insulinpumpen behandelten diabetischen Gebärenden häufiger Komplikationen auf (LGA, Makrosomie, Tendenz zu mehr neonatalen Hypoglykämien). Dieselbe Frage suchte eine retrospektive Studie mit 53 schwangeren Typ-1Diabetikerinnen zu beantworten, die entweder mit Insulinpumpe oder mit zweimal täglich zu verabreichenden Injektionen des lang wirkenden Insulins Detemir (Levemir®) behandelt wurden (5). Hier zeigte sich kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen, weder bei den Müttern noch bei den Kindern. Im letzten Trimenon hatten die Patientinnen unter Insulin Detemir einen höheren Insulinbedarf. «Der Nachweis einer Überlegenheit der kontinuierlichen Insulinzufuhr könnte nur in grösseren Studien erbracht werden», sagte Lehmann. Wenn Typ-1-Diabetikerinnen schwanger werden, ändern sich ihre Insulinbedürfnisse grundlegend. Sie benötigen rund 60 Prozent mehr Insulin als vor der Schwangerschaft, und im Schwangerschaftsverlauf ist der Bedarf um die 16. Schwangerschaftswoche (SSW) am tiefsten, um dann bis zum Maximum in
der 36. SSW um 80 Prozent anzustei-
gen. Dem müssen die Einstellungen für
die Basalrate und die Boluskalkulatio-
nen bei Insulinpumpen Rechnung tra-
gen. Eine Studie hat das untersucht bei
27 mit Insulinpumpen behandelten
Schwangeren und bei 96 diabetischen
Schwangeren, die mit mehrfach täglich
zu verabreichenden Insulininjektionen
behandelt wurden (6). Die notwendige
Basalrate war von der 8. bis zur 16. SSW
tiefer und musste dann von der 16. bis
zur 36. SSW um die Hälfte gesteigert
werden. Bei den Bolusinjektionen mit
rasch wirkendem Insulin waren zum
Erreichen des Glukosezielwerts von
4,8 mmol/l viermal höhere Dosen not-
wendig, entsprechend einer vierfachen
Abnahme des Kohlenhydrat-Insulin-
Verhältnisses von der Früh- zur Spät-
schwangerschaft. Die mit Insulinpum-
pen behandelten Patientinnen hatten
insbesondere in der Früh- und der Spät-
schwangerschaft einen geringeren In-
sulinbedarf, bei Geburtsgewicht, LGA
und neonatalen Hypoglykämien resul-
tierten zwischen den beiden Gruppen
keine Unterschiede.
O
Halid Bas
«The year in Diabetes 2014», Zentrum Paul Klee, Bern, 11.12.2014.
Referenzen: 1. Knip M et al.: Hydrolyzed infant formula and early
β-cell autoimmunity: a randomized clinical trial. JAMA 2014; 311(22): 2279–2287. 2. Lind M et al.: Glycemic control and excess mortality in type 1 diabetes. N Engl J Med 2014; 371(21): 1972–1982. 3. Russell SJ et al.: Outpatient glycemic control with a bionic pancreas in type 1 diabetes. N Engl J Med 2014; 371(4): 313–325. 4. Kallas-Koeman MM et al.: Insulin pump use in pregnancy is associated with lower HbA1c without increasing the rate of severe hypoglycaemia or diabetic ketoacidosis in women with type 1 diabetes. Diabetologia 2014; 57(4): 681–689. 5. Mello G et al.: Continuous subcutaneous insulin infusion (CSII) versus multiple daily injections (MDI) of rapid-acting insulin analogues and detemir in type 1 diabetic (T1D) pregnant women. J Matern Fetal Neonatal Med 2015; 28(3): 276–280. 6. Mathiesen JM et al.: Changes in basal rates and bolus calculator settings in insulin pumps during pregnancy in women with type 1 diabetes. J Matern Fetal Neonatal Med 2014; 27(7): 724–728.
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