Transkript
BERICHT
Reizdarmsyndrom – eine organische Erkrankung
Therapie orientiert sich an den individuellen Symptomen
Bis zu 25 Prozent aller ambulanten gastroenterologischen Patienten leiden an einem Reizdarmsyndrom. Der Einsatz international gebräuchlicher Kriterien erleichtert Diagnostik und Behandlung. Neue Substanzgruppen erweitern das Therapiespektrum.
Claudia Borchard-Tuch
«Funktionelle Darmerkrankungen sind das, was nach intensiver Diagnostik übrig bleibt», als Ausschlussdiagnose definierte Prof. Dr. Thomas Frieling, Krefeld, Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom (IBS, engl.: irritable bowel syndrome). Charakteristische klinische Beschwerden bei IBS wurden jedoch 1978 erstmals zusammengefasst (1). In mehreren Konsensuskonferenzen wurden 1990 die Rom-I-, 1999 die Rom-II- und 2006 die Rom-III-Kriterien entwickelt. Bis heute existiert nur eine Studie, in der die Genauigkeit der Rom-I-Kriterien,
MERKSÄTZE
O Das Reizdarmsyndrom ist eine Erkrankung mit organischen Veränderungen.
O Die Therapie sollte den Symptomen, aber auch den Vorlieben des Patienten individuell angepasst sein.
O Die zurzeit verfügbaren Therapien bessern zumeist Beschwerden, eine vollständige Beschwerdefreiheit wird nur selten erreicht.
O Mit neueren therapeutischen Ansätzen wie Serotoninmodulatoren oder dem Guanylatzyklase-C-Rezeptor-Agonisten Linaclotid hofft man, die Beschwerden bei Reizdarmsyndrom besser kontrollieren zu können.
aber nicht der Rom-II- und III-Kriterien evaluiert wurde (2). Die Praxis einer kriterienbasierten IBS-Diagnose ist nicht unumstritten (Tabelle 1). Daher wurde die Definition des IBS in einer aktuellen S3-Leitlinie erweitert (3). Es müssen drei Kriterien erfüllt sein: O einzelne oder kombinierte chroni-
sche (> 3 Monate) Darmsymptome O eine relevante Einschränkung der
Lebensqualität O keine andere im Rahmen der klini-
schen Untersuchung erhobene Ursache/Erkrankung für die Beschwerden.
Entsprechend der neuen IBS-Definition ist eine Assoziation zu Stuhlgangveränderungen nicht mehr unbedingt erforderlich. Der Lebensqualität wird Beachtung geschenkt, und zur Sicherung der Diagnose ist eine Koloskopie beziehungsweise gynäkologische Untersuchung notwendig.
Pathogenetische Veränderungen
Bei vielen Patienten lassen sich strukturelle Veränderungen nachweisen. Mehrere Gene, die gastrointestinale Funktionen regulieren, sind mit dem IBS assoziiert, zum Beispiel Gene der mitochondrialen DNA, der Serotoninrezeptoren 2a und 3 oder des Natriumkanals Nav1.5 (exprimiert auf Schmerzfasern). Patienten mit einer infektiösen Gastroenteritis haben ein 6,5-fach höheres Risiko, ein diarrhödominantes IBS (IBS-D) zu entwickeln. In einigen Stu-
dien konnte bei Reizdarmsyndrom ein Zusammenhang zwischen einem enteralen Infekt und einer lang anhaltenden Immunaktivierung gefunden werden. Auch Stress kann eine entsprechende Aktivierung bedingen. Die Immunaktivierung in der Darmmukosa steht in Zusammenhang mit einer lokalen Zunahme von Immunzellen (Mastzellen, T-Lymphozyten) und/oder enterochromaffinen (EC-)Zellen. Bei IBS-Patienten ist eine erhöhte Mastzelldichte auch damit verbunden, dass sich Mastzellen in unmittelbarer Nähe von Nervenfasern befinden. Diese anatomische Assoziation korreliert mit der viszeralen Schmerzintensität. Ein weiteres Merkmal der IBS ist eine Störung der intestinalen Barriere. So zeigte sich in Dickdarmbiopsien von IBS-Patienten eine erhöhte Permeabilität, welche mit einer verringerten mRNA-Expression des Tight-junctionProteins in Zusammenhang stand. Die Zusammensetzung der Darmflora ist bei IBS verändert. Es finden sich vermehrt Proteobakterien und Firmicutes, aber weniger Acinetobacter, Bifidobakterien und Bacteroides. Häufig ist auch die der Dünn- und Dickdarmmotilität gestört. Die Kolontransitzeit ist beim IBS-D beschleunigt, bei der obstipationsprädominanten Ausprägung (IBS-C; engl.: constipation) dagegen verlangsamt (2).
Symptomorientierte Therapie
Entsprechend der komplexen Pathogenese ist die Therapie bei Reizdarmsyndrom individuell und sollte den Symptomen, aber auch Präferenzen des Patienten entsprechen, so Dr. med. Viola Andresen, Hamburg. Realistische Erwartung ist eine Beschwerdebesserung; eine komplette Beschwerdefreiheit wird dagegen selten erreicht. Eine stabile Arzt-Patienten-Beziehung ist die Basis für einen Therapieerfolg.
258
ARS MEDICI 5 I 2015
BERICHT
Bei manchen Patienten kann eine Psychotherapie hilfreich sein. Die klassische Psychotherapie wie auch die kognitive und verhaltenstherapeutische Therapie scheinen sowohl in Bezug auf die IBS-spezifische Angst und Depression als auch bezüglich gastrointestinaler Symptome wirksam zu sein.
Ernährung
Allgemeingültige Vorgaben für Ernährung und Lebensstil gibt es nicht. Sinnvoll sind aber Vorschläge, die sich an den bestehenden Symptomen und individuellen Unverträglichkeiten ausrichten. In einer Befragung von 1200 Reizdarmsyndrompatienten führten kleinere Mahlzeiten (69%), Vermeiden fetter Speisen (64%) und eine Erhöhung des Faseranteils in der Nahrung (58%) zu einer Besserung der Symptomatik (4). FODMAP (fermentable oligo-, di-, monosaccharides, and polyols) können die Beschwerden verstärken. Es handelt sich hierbei um eine Vielzahl von Molekülen, die im Dünndarm nicht vollständig absorbiert werden können. Im distalen Verdauungstrakt sind diese Stoffe einerseits osmotisch aktiv, andererseits werden sie durch Bakterien unter Gasbildung fermentiert. Bei starker Belastung kann es zu IBS-typischen Symptomen kommen. Im Vergleich zu Gesunden weisen IBSPatienten eine höhere Prävalenz von Laktosemaldigestion und Laktoseintoleranz auf. Andere relevante FODMAP (z.B. Fruktose, Raffinose, Fruktan, Sorbitol) sind vor allem in bestimmten Früchten und Gemüsesorten sowie Weizenprodukten enthalten.
Probiotika
Probiotika modulieren das Mikrobiom. Verschiedene Metaanalysen deuten auf eine moderate Wirksamkeit hin. Die Datenlage ist zurzeit jedoch noch widersprüchlich, und viele Fragen sind ungeklärt. Man weiss nicht, wie lange eine Therapie dauern soll, welche Zubereitungsform die günstigste ist und welche Stämme das Probiotikum enthalten sollte. Möglicherweise sei eine individualisierte Therapieform die beste, welche auf das Mikrobiom des Patienten abgestimmt ist, erklärte Andresen.
Schmerzen lindern
Schmerzen sprechen oft auf Spasmolytika wie Butylscopolamin (Buscopan®), Mebeverin (Duspatalin®) oder Pfefferminzöl sowie auf Probiotika an. Bei psychischer Komorbidität können auch Antidepressiva wirksam sein.
Stuhlregulation
Bei Obstipation sind meist osmotische Laxanzien vom Makrogoltyp effektiv und verträglich. Bauchschmerzen werden jedoch bei IBS-C durch Makrogol trotz Besserung der Obstipation nicht gelindert. Ballaststoffe sind prinzipiell möglich, sollten aber individuell eingesetzt werden, da sie des Öfteren schlecht verträglich sind. Insbesondere bei Patienten mit Blähungen und abdomineller Distension sollte auf Kleie verzichtet werden, da die Symptome verstärkt werden können. Der Guanylatzyklase-C-Rezeptor-Agonisten Linaclotid, welcher bei IBS-C wirksam ist, aktiviert einen Chloridkanal (CFTR) via cGMP. Infolgedessen kommt es zum Einstrom von Chlorid,
Bikarbonat und Wasser. Dies erhöht die
Stuhlfrequenz, die Konsistenz wird
weicher, und abdominelle Schmerzen
werden gelindert. Linaclotid (Con-
stella®) ist in der Schweiz zur Therapie
des mittelschweren bis schweren Reiz-
darmsyndroms mit Obstipation zuge-
lassen. Bei 20 Prozent der behandelten
Patienten traten zumeist leichte bis
mässige Durchfälle auf.
5-HT4-Rezeptor-Agonisten wie Pruca-
loprid beschleunigen den Transit des
Nahrungsbreis und sind beim IBS-C
wirksam. In der Schweiz ist Prucalo-
prid (Resolor®) zur Behandlung der
idiopathischen chronischen Obstipa-
tion bei Erwachsenen zugelassen, bei
denen die bisherige Therapie mit diäte-
tischen Massnahmen und Laxanzien
nicht ausreichend wirksam ist.
Bei Diarrhö (IBS-D) können neben
klassischen Antidiarrhoika Loperamid,
Cholestyramin oder lösliche Ballast-
stoffe hilfreich sein, ebenso versuchs-
weise Phytotherapeutika (z.B. STW-5)
oder Spasmolytika.
O
Claudia Borchard-Tuch
Symposium im Rahmen der MEDICA Education Conference: «Das Reizdarmsyndrom als organische Erkrankung», Düsseldorf, 12. November 2014.
Referenzen: 1. Pohl D et al.: Reizdarmsyndrom – Diagnostik und
Therapie. Gastroenterologe 2013; 8: 417–424. 2. Frieling T et al.: Reizdarmsyndrom – Epidemiologie und
Pathophysiologie. Gastroenterologe 2013; 8: 405– 416. 3. Layer P et al.: Irritable bowel syndrome: German con-
sensus guidelines on definition, pathophysiology and management. Z Gastroenterol 2011; 49: 237–293. 4. Halpert A et al.: What patients know about irritable bowel syndrome (IBS) and what they would like to know. National Survey on Patient Educational Needs in IBS and development and validation of the Patient Educational Needs Questionnaire (PEQ). Am J Gastroenterol 2007; 102: 1972–1982.
260
ARS MEDICI 5 I 2015