Metainformationen


Titel
Die «alten Patienten»
Untertitel
-
Lead
Wahrscheinlich sind sie das Beste in unserem Beruf: die Patienten, die man seit Jahren betreut. Weil man als alteingesessener Hausarzt so viel Neues verarbeiten muss, besteht die Gefahr von Stress, Überforderung und Burn-out. Ständig auf dem Laufenden bleiben, die aktuellsten Lehrmeinungen kritisch durchdenken, neue Diagnose- und Therapiemethoden lernen, das zehrt. Was man gelernt hat, ist obsolet oder hat man vergessen, und den letzten Stand der Kunst beherrscht man nicht mehr. Man ist zum dummen alten Arzt geworden, als Folge der eigenen Bequemlichkeit oder der zu grossen Arbeitslast. Mit zunehmendem Dienstalter wird die Liste der Fehler, die man in Diagnostik, Therapie und ärztlichem Verhalten im Berufsleben gemacht hat, immer länger.
Datum
Autoren
-
Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
-
Artikel-ID
10262
Kurzlink
https://www.rosenfluh.ch/10262
Download

Transkript


MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsenicum: Die «alten» Patienten

sorgt. Bei langjährigen Patienten muss man seine Worte nicht auf die Goldwaage legen, denn sie wissen, dass man sich klar ausdrückt. Manchmal auch zu klar.

Wahrscheinlich sind sie das Beste in unserem Beruf: die Patienten, die man seit Jahren betreut. Weil man als alteingesessener Hausarzt so viel Neues verarbeiten muss, besteht die Gefahr von Stress, Überforderung und Burn-out. Ständig auf dem Laufenden bleiben, die aktuellsten Lehrmeinungen kritisch durchdenken, neue Diagnose- und Therapiemethoden lernen, das zehrt. Was man gelernt hat, ist obsolet oder hat man vergessen, und den letzten Stand der Kunst beherrscht man nicht mehr. Man ist zum dummen alten Arzt geworden, als Folge der eigenen Bequemlichkeit oder der zu grossen Arbeitslast. Mit zunehmendem Dienstalter wird die Liste der Fehler, die man in Diagnostik, Therapie und ärztlichem Verhalten im Berufsleben gemacht hat, immer länger. Dabei wollte man doch ein guter, menschlicher Arzt werden, doch immer häufiger zweifelt man, ob man sich noch seinen Patienten zumuten kann.
Mit den alten Patienten ist das alles anders. Man kennt sie gut, und sie kennen einen. Man weiss, was sie haben, wer sie sind, wie ihr soziales Umfeld ist, was sie vertragen und was nicht. Man hat ihnen schon oft geholfen – und sie glauben fest daran, dass man es immer können wird. Sie sind ein Geschenk, die alten Patienten: auf der Beziehungsebene wie auf der fachlichen Seite. Für sie nimmt man sich gerne Zeit. Kostet die jahrelange Vertrautheit aus. Versteht sich ohne viele Worte. Man kennt seine Pappenheimer, die Introvertierten und die Extravertierten. Man weiss, was sie von einem erwarten. Ihren biografischen Rucksack kennt man und fragt sich oft, woher sie die Kraft nehmen, ihn ein Leben lang zu schleppen. Hier

in der Praxis ist der Ort, wo sie ihn kurz abstellen können, Kraft schöpfen und dann wieder weiterschleppen. Gespräche mit langjährigen Patienten sind ein Mix aus Vertrautem und Neuem. Weil man sie so gut kennt, merkt man sofort, wenn etwas nicht stimmt. Der fröhliche Schwerenöter, der so viele Krankheiten und Operationen mit einem Lachen hinnahm, hört sich auf einmal anders an. Seine Spässchen wirken aufgesetzt, auch seine Mimik hat sich verändert. Als alter Hausarzt fasst man nach, fragt intensiver, lässt nicht locker. Und dann bricht es aus ihm heraus. Die neu entdeckte Krebserkrankung der Ehefrau. Der Drogenkonsum des Sohnes. Finanzielle Sorgen der ganzen Familie. Und Symptome, die der Patient als beginnende Impotenz empfindet. «Woher haben Sie gewusst, dass es uns gar nicht gut geht?», fragt er erstaunt. Man sagt es ihm offen: «Ich kenn Sie doch!» Und kann ihm Hoffnung geben. Zwar hat man fachlich-sachlich keinerlei Trümpfe in der Hand. Aber jede Menge gemeinsame Geschichte. Man ist doch der Hausarzt, der immer helfen konnte. Der Patient erinnert sich daran, wie man zusammen mit ihm im Privatwagen zur Klinik raste, die fast schon tote Ehefrau mit dem akuten Klappenversagen wegen Endokarditis auf dem Rücksitz, und so lange auf der Notfallstation herumschrie, bis ein kompetenter Kardiologe kam. Er erzählt einem, wie beruhigt er war, als man ihm versicherte, dass die grotesken Ödeme und das nephrotische Syndrom seines damals achtjährigen Sohnes sich in Minne auflösen würden. «War ja dann auch so, gäll?!», fragt er. Man nickt. Er geht mit Hoffnung nach Hause. Und weiss glücklicherweise nicht, wie sehr sich der Hausarzt um ihn und seine Familie

Sie haben Vertrauen zu einem, auch wenn man es manchmal eigentlich nicht verdient hat, wenn man zu müde oder zu träge war, um sein Bestes zu geben. «Die Oma war so froh, dass Sie sie bis zum Schluss behandelt haben», dankt einem die Bauernfamilie. Man befürchtet insgeheim, dass die Oma noch froher gewesen wäre, wenn man bei ihr die koronare Herzkrankheit früher erkannt und sie ihren Stent eher bekommen hätte. Aber, in der Tat – man war immer da, hat Hausbesuche gemacht, und sie hat es stets geschätzt. Bei anderen langjährigen Patienten passiert einem das nicht. Man merkt sofort, dass der Nävus, den man seit Jahrzehnten kennt, jetzt anders aussieht. «Wie haben Sie das gemerkt?», staunt der Dermatologe, der die Tumorbiopsie machte. Die «alten» Patienten geben einem das Gefühl, etwas Sinnvolles, Humanes zu leisten und die Geschicke ihrer Familien zum Guten mit hingewendet zu haben. «Dr. B. wollte mich weiterbehandeln!», empörte sich die Dreissigjährige, als Erzrivale Dr. B. während meiner Ferien wieder mal «wilderte». «Herr Doktor, sie haben meine entzündeten Mandeln mit fünf Jahren, meine Akne mit fünfzehn, meinen Scheidenpilz mit zwanzig kuriert – ich bleibe doch immer bei Ihnen!» Ja, die «alten» Patienten – sie sind lebende Beweise, dass man als Arzt etwas taugt. Ab und zu etwas richtig macht. Man hat in sie all den Idealismus und die Begeisterung gesteckt, die man hatte und weswegen man Arzt wurde – und sie danken es einem reichlich.

248

ARS MEDICI 5 I 2015