Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Nichts auslassen, sich alles gönnen, nicht sparen auf den Sankt-Nimmerleinstag hin, kein Blatt vor den Mund nehmen, keine falschen Rücksichten, sich täglich freuen über all das Schöne auf der Welt, sich nicht über Kleinigkeiten aufregen, aber sich laut einsetzen gegen alle Ungerechtigkeiten, auch wenn man keinen Erfolg hat – warum brauchts immer einen tödlichen Unfall oder einen krankheitsbedingten Schicksalsschlag im Freundes- oder Bekanntenkreis, damit man sich das wieder mehr zu Herzen nimmt?
OOO
Deutschland hat den Mindestlohn eingeführt: 8.50 Euro die Stunde. Man mags den Leuten gönnen – auch wenns Bäckern, Friseuren und Taxifahrern weh tut. Nur, was viele nicht ahnen: Um den Mindestlohn zu kontrollieren, stellt die Regierung gleich noch 1600 neue Beamte ein. Arbeitsbeschaffung à la christlich-demokratischer Sozialismus. Kontrollen, Beamte, Kontrollen …, etc. – leider nicht nur in Deutschland.
OOO
Religion ist, wenn in den Flugzeugen der offiziellen Saudi Airline wie vor sechzig Jahren in unseren Schulen Männlein und Weiblein getrennt voneinander sitzen müssen. Diese Trennung soll demnächst eingeführt werden aufgrund von Klagen saudischer Passagiere, die neben andersgeschlechtlichen Fluggästen sitzen mussten. Religion ist, wenn ultraorthodoxe Juden sich weigern, neben Frauen zu sitzen (Delta-Flug New York – Tel Aviv). Frage: Muss man wirklich jeden Unsinn tolerieren, nur weil er religiös begründet wird? Andere Frage: Ist Rassen- und Geschlechterdiskriminierung im Luftraum über liberalen Ländern eigentlich erlaubt?
OOO
Nicht schlecht, der Vorschlag: Herkunft, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, sexuelle Orientierung, politische Ausrichtung, Religion, Bildungsstand, Armut – alles ungeeignete Auswahlkriterien für Einwanderer oder Bürgerrechtsaspiranten. Ein einziger Parameter sollte ausschlaggebend sein – für eine strikte Ablehnung: Humorlosigkeit.
OOO
«Ich bi scho en arme Schawinski.» Der Bekannte, der das so hinwarf, machte einen etwas angeschlagenen Eindruck. Auf die Frage, was ihm denn fehle beziehungsweise was er denn mit diesem ungewöhnlichen Statement meine, hatte er selber keine befriedigende Antwort. Wir einigten uns darauf, dass das ein Ausdruck des tiefen Mitleids mit sich selber darüber sei, dass es Menschen gebe, die das unvergleichliche Genie des Leidenden nicht erkennen und täglich lobpreisen. Und dass wir in diesem Sinn alle ein wenig «arme Schawinskis» sind. Die einen halt mehr, die andern weniger.
OOO
Na ja, die Welt ist manchmal eben doch kompliziert: In der Ukraine kämpfen muslimische Krimtataren auf Seiten der Ukrainischen Armee gegen die russlandfreundlichen Aufständischen. Also auf Seiten der mit «Beratern» zugegenen Europäer und Amerikaner. Es sind dieselben Krimtataren, die bis vor wenigen Wochen noch in Syrien gegen den syrischen Staat gekämpft haben. Geführt von Kommandanten, die heute den Islamischen Staat (IS) gegen die USA und die Kurden anführen. Ist halt so: Wenn Ideologien und Interessen kuddelmuddeln, kann das für Unbeteiligte tödlich enden.
OOO
Ständerat Thomas Minder fand, einkaufen im Ausland sei unpatriotisch. Da geriet er auf Facebook aber grad an die Rechten. Das tönte dann so: «Für die Fenstersanierung im Bundeshaus Ost wurde eine tschechische Firma aufgeboten, die 1,5 Mio. Franken absahnte. Sonst noch Fragen?» Oder so: «Die Wirtschaft lebt uns nichts anderes vor. Billiglöhner aus dem Ausland einstellen, Jobs ins Ausland verlegen, Leute vor der Pensionierung entlassen und Steuern im Ausland ‹optimieren› – alles um der Gewinnmaximierung willen.» Oder dann so: «Hätte ich als sogenannte ‹dringendst benötigte hochqualifizierte Fachkraft› den Job gefunden, den ich wollte, hätte ich heute 30 Tausend Franken mehr zur Verfügung, die ich gerne in der Schweiz ausgeben würde. Da sich aber 150 Schweizer Firmen einen Dreck dafür interessiert haben, dass ich mein Leben lang hier konsumiert, die Lehre gemacht und studiert habe, 2 Kinder versorgen und alles bezahlen muss, gehe ich halt auch im Ausland einkaufen!» Oder so: «Beim Einkaufstourismus geht es vor allem um ausländische Produkte. Wenn ich die im Ausland kaufe, ‹leiden› die Grossimporteure und ausländische Produzenten, die völlig überhöhte Preise verlangen.» Und schliesslich so: «Soso, wann immer es den Firmen passt, dürfen die globalisieren und Arbeitsplätze nach Lust und Laune ins Ausland verlegen. Nur ich kleiner Pimpf darf nicht mitspielen im grossen Globalisierungsspiel und mein Kapital gewinnbringend einsetzen?»
OOO
Und das meint Walti: Trägt der Bauer rote Socken, will er seinen Bullen schocken.
OOO
Walti am nächsten Tag, eher mürrisch: Mir ist langweilig. Ich könnte ja arbeiten – aber mir ist lieber langweilig.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 4 I 2015
189