Transkript
BERICHT
Refluxkrankheit als diagnostische und therapeutische Herausforderung
Gastroösophagealer Reflux ist sehr häufig und wird in der Regel mit einer antisekretorischen Therapie behandelt. Auch wenn diese bei den meisten Patienten zu einer Besserung der Symptome führt, weist das pathophysiologische Verständnis der Erkrankung doch immer noch Lücken auf.
Reno Barth
Publizierte Algorithmen für die Behandlung der gastroösophagealen Refluxkrankheit sind kompliziert und in der Praxis oft schwer umsetzbar. «Ich muss gestehen, dass ich mir dieses Schema nach der Publikation nie wieder angesehen habe», sagt Dr. med. Pali Hungin von der Durham University, einer der Autoren einer evidenzbasierten Leitlinie zu diesem Thema (1). Das zeige, wie schwierig es sei, praxistaugliche Empfehlungen für diese Erkrankung zu entwickeln. Das Problem beginne mit der Definition der gastroösophagealen Refluxkrankheit (GORD oder GERD). Diese Diagnose basiere, so Hungin, auf Symptomen, die vermeintlich in Folge eines Refluxes von Mageninhalt in den Ösophagus entstünden (2). In der Klinik wisse man allerdings in vielen Fällen nicht, wie verlässlich die Angaben zur Symptomatik seien und ob diese tatsächlich von Reflux verursacht werde, so Hungin. Auch korrelierten mögliche Komplikationen nicht immer mit der Symptomatik.
Prävalenz von gastroösophagealem
Reflux stark steigend
Diese Fragen sind von hoher praktischer Relevanz. Denn die Refluxkrankheit oder zumindest die dazu passende Symptomatik betrifft immer mehr Menschen. In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der Betroffenen beispielsweise in Norwegen um fast die Hälfte gestiegen. Laut Daten der HUNT-Studie leiden dort mehr als 15 Prozent der Men-
schen mindestens einmal pro Woche unter Refluxsymptomen. Diese Zahlen dürften auch für andere europäische Länder gelten (3). «Kann unser intellektuelles Verständnis dieser Entwicklung standhalten?», fragt Hungin. Studiendaten der vergangenen Jahre signalisieren eher das Gegenteil. So konnten in der Diamond-Studie nur bei 66 Prozent der vom Allgemeinmediziner diagnostizierten GERD-Patienten die Diagnosen nach fachärztlicher Abklärung bestätigt werden. Und von jenen Patienten, die tatsächlich GERD hatten, gaben nur 49 Prozent Sodbrennen oder Aufstossen als markanteste Symptome an (4). Hungin: «Das ist ein alarmierendes Ergebnis. Es sagt uns, dass die klinische Diagnose GERD nicht verlässlich ist.» Eine im Rahmen der UEGWeek 2014 in Wien vorgestellte Studie dürfte die Diskussion weiter anheizen (5). Sie zeigt, dass die Symptome, die Ärzte im Patientengespräch zu hören glauben, nicht die Symptome sind, die die Patienten meinen, und dass es dabei noch erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern gibt. «Wir haben uns so in unserer Terminologie verschanzt, dass wir uns von dem abkoppeln, was die Patienten tatsächlich angeben», sagt Hungin. Leider hilft auch der diagnostische Einsatz von PPI nicht weiter. Allein das Verschwinden der Symptome nach Einnahme eines PPI sagt nämlich noch nichts über deren Ursache oder deren Natur. Die Aussagekraft des PPI-Tests
wurde in der Diamond-Studie untersucht und negativ bewertet. Hungin: «Ansprechen auf einen PPI bedeutet, dass der Patient auf PPI anspricht – und nicht, dass das Problem GERD heisst.» Da es dem Patienten jedoch vorwiegend um seine Symptome geht, werden PPI in grosser Menge verwendet. Geschätzte 0,5 bis 1,5 Prozent der europäischen Bevölkerung nehmen diese Medikamente dauerhaft ein. Rechnet man die billigeren H2-Rezeptor-Antagonisten dazu, kommt man auf bis zu 5 Prozent der Gesamtpopulation, die dauerhaft eine Suppression der Magensäure betreiben. Gleichzeitig klagen jedoch bis zu 50 Prozent der LangzeitPPI-Anwender nach wie vor über GERD-Symptome (6). Eine Studie mit 200 Patienten unter PPI ergab, dass nur 14 Prozent dieser Population symptomfrei waren. Allerdings war ein saurer Reflux nur bei einer kleinen Minderheit der Betroffenen der Grund für die Beschwerden. Die meisten hatten mit nicht saurem Reflux zu kämpfen oder zeigten Symptome, die überhaupt nichts mit Reflux zu tun hatten (7). Hungin: «Wie können wir also von Refluxkrankheit sprechen, wenn die Symptomatik in den meisten Fällen überhaupt nichts mit Reflux zu tun hat?»
Empirische Therapie mit PPI
Hinsichtlich der Wirksamkeit der PPI konnte in Studien gezeigt werden, dass sie sehr gut wirken, wenn es um das Abheilen einer Ösophagitis geht, dabei aber nicht unbedingt einen ebenso markanten Effekt auf die Symptomatik entwickeln (8). Demnach liege die Domäne der PPI eher bei der erosiven Ösophagitis als beim typischen Sodbrennen, das eher auf eine funktionelle gastrointestinale Störung zurückgehe (9). Dennoch sei der Therapieversuch mit PPI bei Refluxbeschwerden sinnvoll.
212
ARS MEDICI 4 I 2015
BERICHT
Refluxkrankheit/GERD
Lebensstilberatung Antazida/Alginate
Medikamentöse Behandlung (antisekretorische Therapie)
Erfolg
Langfristiges Management
Kein Erfolg Teilerfolg
Dosis erhöhen/aufteilen Zusätzliches antisekretorisches Medikament Sphinktertonus? Hypersensitiver Ösophagus? Acid-Pocket? Diagnose überprüfen Weiterführende Untersuchungen
Acid-Pocket: verborgene Säure in der Cardia
Auf eine besondere Problemregion im Zusammenhang mit dem gastroösophagealen
Reflux weist Prof. Dr. med. Kenneth McColl von der University of Glasgow hin: die Acid-
Pocket. Dabei handelt es sich um eine Zone in der Cardia, die vom Puffereffekt einer Mahl-
zeit kaum erreicht wird und daher stark sauer bleibt. Sie enthält rund 70 ml Magensaft, der
erhebliche Probleme verursachen kann. McColl: «Das erklärt, warum Refluxbeschwerden
oft nach den Mahlzeiten am ausgeprägtesten sind, obwohl der gesamte Mageninhalt zu
diesen Zeiten am wenigsten sauer ist.» Probleme bereitet die Acid-Pocket beispielsweise,
wenn sie infolge einer Hiatushernie durch das Diaphragma nach oben gleitet und so leich-
ter sauren Reflux verursachen kann. Darüber hinaus habe die Forschung der vergangenen
Jahre gezeigt, dass es neben der «Säuretasche» auch einen «Säuremantel» gebe, dass
nämlich der pH-Wert nach Mahlzeiten in der Nähe der Mukosa generell niedriger sei als
tiefer im Magen – wenn auch nicht so niedrig wie in der Acid-Pocket. Das habe therapeuti-
sche Implikationen. Es stelle sich die Frage, ob es in allen Fällen sinnvoll sei, den pH-Wert
im gesamten Magen anzuheben, wenn es beim Reflux um ein eher lokales Problem gehe.
Die Konzentration auf die Acid-Pocket eröffne neue Wege in der Behandlung gastroöso-
phagealer Beschwerden. Um das zu erreichen, gibt es zwei Wege: Einer führt über die
Erhöhung der Magenmotilität, was zu einer besseren Durchmischung des Mageninhalts
führen soll. Diese Strategie wurde in kleinen Studien untersucht, in denen es beispiels-
weise gelang, durch Azithromycin den Säuregehalt des Refluxes zu reduzieren (15). Ein
bereits heute gangbarer Weg ist der Einsatz von Alginaten, die auf der Acid-Pocket wirken.
Sie entsprechen diesen Anforderungen, da sie im Gegensatz zu den Antazida auf Alu-
minium- oder Magnesiumbasis auf dem Mageninhalt schwimmen. Tatsächlich wurde für
Alginate gezeigt, dass sie den Reflux hemmen und somit die postprandiale Säureexposition
des Ösophagus mindern können (16).
Reb
Allerdings müsse man, so Hungin, bei Nichtansprechen weiterführende diagnostische Schritte machen. Infrage kommen vor allem die pH-Metrie und die intraluminale Impedanzmessung, wobei Letztere auch die Quantifizierung von nicht saurem Reflux erlaubt. Obwohl Hungin klarstellt, dass ein einfacher Algorithmus für alle Patienten mit GERD oder den zugehörigen Symptomen nicht möglich ist, schlägt er doch ein sehr klares Konzept für das Management unkomplizierter Patienten vor. Dieses beginnt mit Lebensstilberatung und dem Einsatz von Antazida beziehungsweise Alginaten. Bringt das nicht den gewünschten Erfolg, soll eine Reduktion der Säureproduktion erfolgen. Substanz der Wahl wird in der Regel ein PPI sein. Ist das ebenfalls nicht erfolgreich, hat man es nicht mit einem unkomplizierten Patienten zu tun. Eine Variation der PPI-Dosierung und der Einnahmefrequenz kann ebenso indiziert sein wie eine umfangreiche weiterführende Diagnostik. Dabei sei es alles in allem sinnvoll, den Begriff GERD zu verlassen und lieber von Sodbrennen oder Symptomen des oberen Gastrointestinaltrakts zu sprechen, als mit wenig verlässlichen Diagnosen zu hantieren.
Bessere Symptomkontrolle
und Schleimhautheilung
Prof. Dr. med. Carmelo Scarpignato, Universität Modena, unterstreicht jedoch, dass eine antisekretorische Therapie bei den meisten Patienten mit Refluxsymptomen oder Symptomen des oberen Gastrointestinaltrakts ausreichend ist. Seit den Achtzigerjahren wisse man, dass die Last der gastroösophagealen Beschwerden mit der Säureexposition im Ösophagus direkt korreliere (10). Scarpignato: «Wir haben zwei Klassen von Medikamenten, die die Säureproduktion im Magen reduzieren, die H2-Rezeptor-Antagonisten und die Protonenpumpeninhibitoren. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Wirkmechanismus, aber der Effekt ist letztlich der gleiche.» Allerdings haben sich die PPI in mehrfacher Hinsicht als überlegen erwiesen. Sie sind besser in der Symptomkontrolle, ermöglichen eine bessere Abheilung der Schleimhaut und eignen sich auch besser für eine Erhaltungstherapie (11). Sie reduzieren aber nur die Säurebelastung, nicht jedoch
ARS MEDICI 4 I 2015
213
BERICHT
den Reflux. Dementsprechend haben sie sich auch in Studien als äusserst effektiv gegen Sodbrennen erwiesen, während die Wirksamkeit gegen Regurgitation zwar vorhanden, aber deutlich weniger ausgeprägt ist (12). Bei der Refluxösophagitis zeigen Studiendaten Heilungsraten von je nach Substanz bis zu 90 Prozent (13).
Wenn die Patienten
nicht ansprechen …
Eine besondere Patientengruppe stellen Personen mit nicht erosiver Refluxkrankheit (NERD) dar. Allerdings habe NERD, wie Scarpignato betont, keine einheitliche Pathologie. Rund 42 Prozent der Betroffenen leiden unter einer «echten NERD» mit Auffälligkeiten in der pH-Metrie. Der Rest teilt sich auf in Personen mit hypersensitivem Ösophagus (teils auf Säure, teils auch auf nicht sauren Reflux) und funktionalem Sodbrennen. Echte NERD und NERD infolge eines säuresensitiven Ösophagus sprechen gut auf PPI an (14). Reagieren Patienten mit gastroösophagealen Symptomen nicht auf eine Therapie mit PPI, kommen mehrere Ursachen infrage: Die antisekretorische
Therapie kann zu wenig effektiv sein
(was sich durch Dosiserhöhung, häufi-
gere Einnahme oder die Kombination
mit einem H2-Blocker korrigieren
lässt), oder die Beschwerden haben ihre
Ursache nicht im Reflux oder zumin-
dest nicht im sauren Reflux.
O
Reno Barth
Referenzen 1. Tytgat GN et al.: New algorithm for the treatment of
gastro-oesophageal reflux disease. Aliment Pharmacol Ther 2008; 27 (3): 249–256. 2. Vakil N et al.: The Montreal definition and classification of gastro-oesophageal reflux disease: a global evidence-based consensus. Am J Gastroenterol 2006; 101 (8): 1900–1920. 3. Ness-Jensen E et al.: Changes in prevalence, incidence and spontaneous loss of gastro-oesophageal reflux symptoms: a prospective population-based cohort study, the HUNT study. Gut 2012; 61 (10): 1390–1397. 4. Dent J et al.: Accuracy of the diagnosis of GORD by questionnaire, physicians and a trial of proton pump inhibitor treatment: the Diamond Study. Gut 2010; 59 (6): 714–721. 5. Heading R et al.: Discrepancies between upper GI symptoms described by those who have them and their identification by conventional medical terminology: a survey in four countries. Präsentiert im Rahmen der Sitzung «Symptoms in patients with functional gastrointestinal disorders», UEG Week 2014. 6. Raghunath AS et al.: Review article: the long-term use of proton-pump inhibitors. Aliment Pharmacol Ther 2005; 22 Suppl 1: 55–63.
7. Mainie I et al.: Acid and non-acid reflux in patients with persistent symptoms despite acid suppressive therapy: a multicentre study using combined ambulatory impedance-pH monitoring. Gut 2006; 55 (10): 1398–1402.
8. Boeckxstaens G et al.: Symptomatic reflux disease: the present, the past and the future. Gut 2014; 63 (7): 1185–1193.
9. Galmiche JP et al.: Treatment of GORD: Three decades of progress and disappointments. United European Gastroenterol J 2013; 1 (3): 140–150.
10. Joelsson B, Johnsson F: Heartburn – the acid test. Gut 1989; 30 (11): 1523–1525.
11. Savarino V et al.: Proton pump inhibitors in GORD An overview of their pharmacology, efficacy and safety. Pharmacol Res 2009; 59 (3): 135–153.
12. Kahrilas PJ et al.: Response of regurgitation to proton pump inhibitor therapy in clinical trials of gastroesophageal reflux disease. Am J Gastroenterol 2011; 106 (8): 1419–1425.
13. Richter JE et al.: Efficacy and safety of esomeprazole compared with omeprazole in GERD patients with erosive esophagitis: a randomized controlled trial. Am J Gastroenterol 2001; 96 (3): 656–665.
14. Scarpignato C: Poor effectiveness of proton pump inhibitors in non-erosive reflux disease: the truth in the end! Neurogastroenterol Motil 2012; 24 (8): 697–704.
15. Rohof WO et al.: Effect of azithromycin on acid reflux, hiatus hernia and proximal acid pocket in the postprandial period. Gut 2012; 61 (12): 1670–1677.
16. De Ruigh A et al.: Gaviscon Double Action Liquid (antacid and alginate) is more effective than antacid in controlling post-prandial oesophageal acid exposure in GERD patients: a double-blind crossover study. Aliment Pharmacol Ther 2014; 40 (5): 531–537.
Quelle: Symposium «Therapy update: GORD» im Rahmen der 22. UEG-Week, vom 18. bis 22. Oktober 2014 in Wien.
BEKANNTMACHUNG
Lundbeck-Institut zeichnet Schweizer Forscherin aus
Frau Dr. Eva Choong vom CHUV Centre des Neurosciences Psychiatriques Prilly wurde mit dem Psychiatrie-Preis des Lundbeck-Instituts 2014 ausgezeichnet. Die Jury unter der Leitung von Prof. Erich Seifritz, Zürich, würdigt damit die Arbeit der Preisträgerin zu genetischen Faktoren der Adipositas bei psychiatrischen Patienten.
Verschiedene psychiatrische Medikamente können zu teilweise massiver Gewichtszunahme und zum metabolischen Syndrom führen. Die preisgekrönte Arbeit befasst sich mit einer Genvariante (CRTC1), die sich im Tierversuch als kritisch für die Regulierung des Körpergewichts erwiesen hatte. Mittels aufwendiger Populationsstudien fand Choong heraus, dass dies auch für Träger dieser Genvariante bei verschiedenen psychiatrischen Patientenpopulationen und der Normalbevölkerung zutrifft. Damit bietet sich diese Genvariante als individueller Risikofaktor für Gewichtszunahme an, die im Sinne einer personalisierten Medizin bei der Behandlung von Patienten mit psychiatrischen Medikamenten Beachtung finden dürfte.
Dr. Urs M. Lehmann, Lundbeck-Institut, Prof. Chin Eap, Prilly (in Vertretung der Preisträgerin), Prof. Dr. med. Erich Seifritz, Zürich (v.l).
Da die Preisträgerin zurzeit am Karolinska Institute in Stockholm arbeitet und die Auszeichnung nicht persönlich entgegennehmen konnte, wurde sie an der Preisverleihung im vergangenen November von Forschungsleiter Prof. Dr. Chin Eap an der Preisverleihung vertreten.
Der Psychiatrie-Preis des Lundbeck-Instituts Psychiatrie wird jährlich für herausragende klinische Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Psychiatrie verliehen. Er ist mit 10 000 Franken dotiert und mit einem Gutschein für eine Weiterbildungswoche am Lundbeck-Institut in Dänemark verbunden.
214
ARS MEDICI 4 I 2015