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Titel
Die Neuen
Untertitel
-
Lead
Wahrscheinlich sind sie das Beste in unserem Beruf: die neuen Patienten! Weil man als alteingesessener Hausarzt so viel Routine in der Alltagsarbeit hat, besteht die Gefahr von Langeweile, Unterforderung und Burn-out. Keine neuen Herausforderungen. Keine Notwendigkeit, sich den Kopf zu zerbrechen oder Lehrbücher zu wälzen. Meint man zumindest, obwohl das natürlich falsch ist und nur die Folge der eigenen Bequemlichkeit. Man macht mit zunehmender Berufserfahrung diagnostische Fehler, weil man glaubt, alles schon gesehen zu haben und alles zu wissen. Man macht mit zunehmendem Dienstalter therapeutische Fehler, weil man alles über denselben Leisten schlägt, immer dasselbe verschreibt und allen Ernstes glaubt, man sei ein guter Arzt.
Datum
Autoren
-
Rubrik
BERUF - PRAXIS - POLITIK - GESELLSCHAFT — ARSENICUM
Schlagworte
-
Artikel-ID
10235
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Arsencium: Die Neuen

Wahrscheinlich sind sie das Beste in unserem Beruf: die neuen Patienten! Weil man als alteingesessener Hausarzt so viel Routine in der Alltagsarbeit hat, besteht die Gefahr von Langeweile, Unterforderung und Burn-out. Keine neuen Herausforderungen. Keine Notwendigkeit, sich den Kopf zu zerbrechen oder Lehrbücher zu wälzen. Meint man zumindest, obwohl das natürlich falsch ist und nur die Folge der eigenen Bequemlichkeit. Man macht mit zunehmender Berufserfahrung diagnostische Fehler, weil man glaubt, alles schon gesehen zu haben und alles zu wissen. Man macht mit zunehmendem Dienstalter therapeutische Fehler, weil man alles über denselben Leisten schlägt, immer dasselbe verschreibt und allen Ernstes glaubt, man sei ein guter Arzt.
Mit einem neuen Patienten ist alles anders. Man kennt ihn nicht. Weiss nicht, was er hat, wer er ist. Da wird man wieder zum Entdecker, zum Forscher, arbeitet sich voller Elan in das Neuland vor. Sie sind wie Wundertüten, die neuen Patienten: Echte Geschenke! Man weiss nicht, was drin ist – es kann alles sein, sowohl auf der Beziehungsebene als auch auf der fachlichen Seite. Für neue Patienten muss man sich Zeit nehmen, sie geniessen, sie sozusagen auskosten.
Es fängt mit der Beziehungsgestaltung an. Wie wird der Neue auf die Begrüssungsworte reagieren? Ist er introvertiert oder extravertiert? Was erwartet er beziehungsweise sie von mir? Welchen biografischen Rucksack trägt er mit sich? Ist man mal im Gespräch, staunt man, wie anders der Neue auf

die ewig gleichen Fragen antwortet, die man allen Patienten stellt. Seine neuen Antworten lassen die Fragen frischer, relevanter erscheinen. Oder banal bis blöde, wenn er irritiert zurückfragt: «Warum fragen Sie das?» Man studiert die Mimik des Neuen, die man noch nicht gut lesen kann. Lauscht auf das, was man zwischen den Zeilen zu hören glaubt. Hat man einen bagatellisierenden Indolenten oder einen dramatisierenden Hypochonder vor sich? Oder gar einen sachlichen, emotional balancierten Sympath? Vorsichtig wählt man seine Worte, denn der erste Eindruck zählt, den man auf ihn macht. Vielleicht fasst er kein Vertrauen zu einem, weil man zu wenig validiert hat. Oder ihm geht das aktive Zuhören auf die Nerven, weil er gar nichts hat und nur ein AUFAttest will.
Weiter geht es mit der medizinischen Vorgeschichte und der Diagnostik. Bringt er Bundesordner mit alten Berichten mit? Ist sein Körper von Narben übersät? Ist er blutjung und vermeintlich völlig gesund? Man lässt ihm Zeit, und er erzählt. Als Hausarzt mit einem Hang zur Psychiatrie liebt man Geschichten, kann gar nicht genug Lebensläufe hören. Das ist viel interessanter, als die Lebensbeichten von Promis in «Gala» zu lesen, denn es ist nicht eine von PR-Experten gebastelte Story, sondern wirklich live. Nach Anamnese und Aktenstudium kommt die körperliche Untersuchung. Man hat Tausende von Herzen auskultiert, aber dieses hier schlägt irgendwie doch ein bisschen anders. Keine Haut ist wie die andere, und der neue Patient hat einen Nävus, der einem

einmalig vorkommt. Liebevoll notiert man alles in der KG, von der Alopezie bis zum Hammerzeh. Macht sogar Flüsterzahlen und Rinne, prüft Reflexe und Hirnnerven. Vielleicht kann man eine neue Diagnose stellen. Etwas Seltenes erkennen, was sogar die Spezialisten übersehen haben. Den Neuen damit endlich einer wirksamen Therapie zuführen, die sein Leben schlagartig zum Besseren wendet. Ihm Leiden nehmen oder ersparen. Na ja, wahrscheinlich nicht, aber auch Hausärzte dürfen tagträumen … Nach einer Stunde intensiver Arbeit hat man endlich mal wieder das Gefühl, etwas geleistet und neue Erkenntnisse gewonnen zu haben. Lehrbuchmässig fasst man seine Befunde zusammen, erläutert sie mit viel Zuwendung. Der Neue lächelt, bedankt sich.
Nachdem er das Sprechzimmer verlassen hat, seufzt man zufrieden. Und schielt jetzt auf die Rubrik, warum er zu einem gekommen ist. «Empfehlung von Freunden» liest man. Das tut dem Ego gut. «Zuweisung durch die Poliklinik» könnte bedeuten, dass einen die Kollegen da draussen für einen guten Grundversorger halten. Manchmal steht dort: «Dr. B. ist in den Ferien.» Man gelobt sich, Erzrivalen Dr. B. diesen Patienten abzuwerben, indem man superperfekt arbeitet … Doch sich als richtig guter Hausarzt profilieren, das will man bei Neuen ja sowieso immer. Man will der Arzt sein, bei dem der Neue bleibt, den er Freunden und Verwandte empfiehlt, von dem er am Stammtisch schwärmt. Ja, die Neuen – die lassen einen wieder den Idealismus und die Begeisterung empfinden, die man als junger Arzt hatte.

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ARS MEDICI 4 I 2015