Transkript
BERICHT
Mangelernährung im Alter
Diagnose und therapeutische Optionen in der Praxis
Gewichtsverlust sowie Mangel- und Unterernährung sind bei älteren Menschen weitverbreitet. Eine Übersicht über diagnostische und therapeutische Möglichkeiten wurde auf einem Symposium im Rahmen der Medica Education Conference vorgestellt. Zu den Schwerpunkten zählten Dysphagie und Demenz.
Claudia Borchard-Tuch
«Bei einem optimalen Ernährungsstatus entsprechen Nährstoffaufnahme und -bedarf einander», erklärte Dr. rer. oec. troph. Rebecca Diekmann, Oldenburg. Sie machte deutlich, dass dieses Gleichgewicht für den älteren Menschen nicht immer leicht zu halten sei. Die Ursachen sind vielfältig: Schmerzen, Zahn- und Gebissprobleme, Verände-
MERKSÄTZE
O Die individuelle Zuwendung spielt bei der Therapie eine wichtige Rolle.
O Eine energiereiche Kost mit hoher Nährstoffdichte ist der erste Behandlungsschritt. Um die Energie- und die Nährstoffzufuhr zu erhöhen, kann eine Anreicherung erfolgen. Trinknahrungen bieten eine weitere Möglichkeit.
O Ausgehend von Zustand und Prognose des Patienten kann eine künstliche Ernährung in Erwägung gezogen werden.
O Bei Dysphagie ist es zumeist möglich, eine kritische Phase mithilfe von Schluckkost zu überwinden.
O Bei Demenz stellt die ausreichende Proteinversorgung eine besondere Problematik dar. Die Effektivität spezieller Demenzsupplemente ist noch nicht ausreichend geklärt.
rungen beim Riechen oder Schmecken, gastrointestinale Probleme, Dysphagie, Demenz und die Einnahme bestimmter Medikamente (z.B. Amantadin, Amphetamin, Benzodiazepine oder Neuroleptika) können die Ernährung beeinträchtigen.
Gesamteindruck wichtiger
als einzelne Parameter
Mangelernährung hat viele Erscheinungsformen und ist nicht immer einfach zu diagnostizieren. Eine ausführliche Anamnese und eine gründliche körperliche Untersuchung sind wichtig. Nicht zuletzt aufgrund der für die Älteren unzureichend vorhandenen Normwerte ist der Gesamteindruck klinischer, anthropometrischer, funktioneller und biochemischer Aspekte wichtiger als Einzelbefunde (1). Hilfreich kann in diesem Sinne der Einsatz eines validierten Fragebogens wie des Mini Nutritional Assessment (MNA) sein, welcher im Internet kostenfrei verfügbar ist (www.mma-elderly.com). Bedeutsamer als das absolute Gewicht ist die Gewichtsentwicklung. Für diese ist es meist erforderlich, zusätzliche Informationen aus dem Umfeld des Patienten zu erfragen. Ein Gewichtsverlust von über 5 Prozent innerhalb eines Monats beziehungsweise von über 10 Prozent innerhalb eines halben Jahres ist als prognostisch ungünstig zu werten. Existieren keine Vormessungen, können Hinweise auf zu weite Klei-
dungsstücke oder abnehmende Kleidergrössen von Bedeutung sein. Der Body-Mass-Index (BMI) sollte bei Erwachsenen mindestens 18,5 betragen. Dieser Wert wird nach Ansicht vieler Experten jedoch für ältere Menschen als zu niedrig angesehen. Daher ist für diese bereits ein BMI < 20 als pathologisch zu werten. Für Fälle von fortgeschrittener Malnutrition ist die Bestimmung des Serumalbuminspiegels ein wichtiger Prognoseindikator. Bereits bei einem Albuminwert < 3,5 g/dl sollte von einer signifikanten pathologischen Erniedrigung des Serumalbumins ausgegangen werden. Allgemeine Massnahmen und Spezialnahrung Neben Krankheitseinflüssen und funktionellen Alterseinbussen werden auch Versorgungsdefizite für die grosse Verbreitung von Mangelernährung verantwortlich gemacht. Gerade der ältere Mensch benötige Zuwendung und Unterstützung, betonte Dr. med. Eva Kiesswetter, Nürnberg. Eine angenehme Umgebung und Atmosphäre beim Essen sowie die richtige Auswahl, Zubereitung und Darreichungsform der Speisen und Getränke regen zum Essen an und tragen zu einer bedarfsgerechten Ernährung älterer Patienten bei. Eine energiereiche Kost mit hoher Nährstoffdichte ist wichtig. Reicht die Nahrungsaufnahme durch normale Lebensmittel nicht aus, kann eine Anreicherung erfolgen, um die Energie- und die Nährstoffzufuhr zu erhöhen. Die Anreicherung von Mahlzeiten mit natürlichen Zutaten wie Öl, Sahne und Butter steigert den Energiegehalt der Mahlzeiten und die Energieaufnahme. Auch Spezialprodukte sind eine Option, wie das pulverförmige, geschmacksneutrale Maltodextrin oder spezielle Eiweisskonzentrate. 12 ARS MEDICI 1 I 2015 BERICHT Reichen diese Massnahmen zur Sicherung einer adäquaten Nahrungsaufnahme nicht aus, bieten Trinknahrungen (oral nutritional supplements, ONS) eine weitere Möglichkeit, um die Energie- und die Nährstoffzufuhr zu erhöhen (2). Wann braucht es künstliche Ernährung? Genügen jedoch alle oben genannten Massnahmen nicht, um den Ernährungszustand des Patienten zu erhalten, muss eine künstliche Ernährung in Erwägung gezogen werden. Zunächst können Nährstoffe durch eine Ernährungssonde zugeführt werden. Ist auch das nicht möglich, kann eine parenterale Gabe die bedarfsgerechte Nährstoff- beziehungsweise Flüssigkeitszufuhr ermöglichen (3). Mit einer Sondenernährung sollte begonnen werden, wenn die orale Nahrungsaufnahme voraussichtlich länger als drei Tage unmöglich oder länger als zehn Tage unzureichend (< 50% des Bedarfs) ist. Eine positive Verlaufsprognose ist die Voraussetzung für die Sondenernährung, ausgeschlossen werden sollten terminale Krankheitsstadien. Es stehen die perkutane endoskopische Gastrotomie-(PEG-)Sonde und die nasogastrale Sonde zur Verfügung. Die nasogastrale Sonde ist für eine kurzfristige Anwendung von zwei bis drei Wochen geeignet, während die PEG-Sonde bei längerfristiger Therapie zum Einsatz kommt. Ist auch eine Sondenernährung nicht möglich oder nicht ausreichend, kann eine parenterale Gabe die bedarfsgerechte Nährstoff- beziehungsweise Flüssigkeitszufuhr ermöglichen. Wichtigstes Ziel ist, zeitlich begrenzte kritische Situationen mit geringer Zufuhr oder hohem Bedarf zu überwinden (3). Ernährung bei Dysphagie Schluckbeschwerden aufgrund eines Schlaganfalls, aber auch wegen anderer neurodegenerativer Erkrankungen weisen gerade im Alter eine hohe Prävalenz auf. «Der Ernährungsstatus muss erhalten bleiben», so Prof. Dr. Rainer Wirth, Borken. Um zu erfahren, wie das am besten gewährleistet werden kann, muss als Erstes eine detaillierte Diagnostik erfolgen. Ein Screening mit einem Wassertest, bei welchem der Patient Wasser schluckt, wird für alle empfohlen. Für eine Therapieplanung reicht das Testergebnis jedoch nicht aus. Hierfür sind Verfahren notwendig, die eine genauere Betrachtung der Vorgänge während des Schluckens ermöglichen. Die Videofluoroskopie (VFSS) oder die fiberendoskopische Untersuchung des Schluckens (FEES) sind deutlich aussagekräftiger für die Planung der Dysphagietherapie. Je nach Befund erfolgen gezielte logopädische Therapieverfahren (z.B. Behandlung der gestörten Zungenbeweglichkeit, Regulierung der Sensibilität des Rachenrings, Beeinflussung der Geschmackswahrnehmung). Bei vielen Patienten ist es möglich, eine kritische Phase mithilfe von Schluckkost zu überwinden. Vier Schluckkoststufen wurden zur einheitlichen und standardisierten Anwendung entwickelt. Die einzelnen Stufen bauen aufeinander auf. In Stufe I erhält der Patient breiig-glatte und säurefreie Nahrung. Stufe II umfasst weiche, pürierte Nahrung. In Stufe III erhält der Patient Übergangskost, und in Stufe IV kann der Patient weitgehend Normalkost einnehmen. Dass der Energiebedarf eines Patienten, welcher mit Nahrungsmitteln der Stufen I oder II ernährt wird, ausreichend gedeckt ist, ist unrealistisch, so Wirth. Es ist davon auszugehen, dass die tägliche Aufnahme in Stufe I bei 1000 bis 1200 kcal liegt, in Stufe II bei 1200 bis 1500 kcal. Daher sollte die Ernährung durch energiereiche Lebensmittel oder bilanzierte Zusatznahrung ergänzt werden. Manche Patienten mit einer Dysphagie sind auf eine zumindest vorübergehende Ernährung mit einer Sonde angewiesen. In besonders schweren Fällen der Dysphagie muss eine Tracheotomie durchgeführt werden. Ernährung und Demenz Die Demenz zählt zu den Hauptursachen eines Gewichtsverlustes beim alten Menschen, so Prof. Dr. med. Cornel Sieber, Nürnberg. In frühen Krankheitsstadien ist Hilfe beim Einkaufen sowie bei der Vorbereitung und dem Kochen von Speisen ein wertvoller Ansatz. In fortgeschrittenen Stadien kann die Einbeziehung der dementen Patienten in die Speisezubereitung und das Kochen das Verhältnis zur Nahrungsaufnahme verbessern und auch unabhängig davon Freude bereiten (1). In fortgeschrittenen Stadien der De- menzentwicklung lassen sich durch eine angepasste Verarbeitung der Nah- rungskomponenten günstige Ergeb- nisse erzielen. Das Nahrungsangebot für demente Patienten sollte sogenann- tes Fingerfood einbeziehen, welches den Einsatz von Besteck überflüssig macht. Eine besondere Problematik bei De- menz stellt die ausreichende Protein- versorgung dar, so Sieber. Multimor- bide und gebrechliche Betagte benöti- gen mindestens 1,2 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag, bisweilen auch noch mehr. Das kann häufig nur mit Proteinanreicherung in der Nahrung erreicht werden. Protein- reiche Nahrungssupplemente haben bei leichter Demenz einen ebenso hohen Stellenwert wie bei der Malnu- trition ohne Demenz. Bei schwerer Demenz wird jedoch von der Ernäh- rungssupplemetierung – insbesondere mittels PEG – abgeraten. Inzwischen erreichen spezielle Demenzsupple- mente (z.B. Souvenaid®) den klinischen Alltag – die Datenlage ist jedoch noch unzureichend. O Claudia Borchard-Tuch Referenzen: 1. Bauer J et al.: Ernährung und Demenz. Psychoneuro 2004; 30(9): 481–488. 2. Volkert D et al.: Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Zusammenarbeit mit der GESKES, der AKE und der DGG. Klinische Ernährung in der Geriatrie. Aktuel Ernahrungsmed 2013; 38: e1–e48. 3. Volkert D: Leitlinien und Standards zur Ernährung in der Geriatrie. Z Gerontol Geriat 2011; 44: 91–99. Medica Education Conference, 13. November 2014, Düsseldorf Symposium «Mangelernährung im Alter» ARS MEDICI 1 I 2015 13