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Vogel haben
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Vogel haben

V iele meiner PatientInnen haben einen Vogel – und das ist gut so. Und keineswegs so gefährlich, wie man als Medizinstudent denkt, der vor allem von Vogelgrippe, Psittakose und anderen federviehassoziierten Erkrankungen gehört hat. Salutogenetisch betrachtet, sind Vögel gesundheitsfördernd. Je mehr Vogelhalter es gibt, desto weniger Näschter müssen unsere Spitäler zur Verfügung stellen, denn die Piepmätze halten ihre Gastgeber gesund. Sie sind gut gegen Depression und Einsamkeit, weil sie dem Leben Sinn verleihen. Das Gezwitscher ihres Sittichs, so eine meiner frisch verwitweten Patientinnen, wäre das Beste gegen die Trauer, die sie mehrmals täglich überfällt, wenn ihr der Verlust ihres Mannes wieder einfällt. Immer wieder schildern sie einem Patienten, dass sie trotz suizidaler Gedanken sicher keinen Suizid begehen würden, denn was sollte dann mit ihrem Graupapagei, ihrem Kanarienvogel, geschehen? Bei Hausbesuchen einer chronisch kranken, meist bettlägerigen alten Patientin freue ich mich über ihr Strahlen, wenn sie zu ihrer riesigen Volière schaut. Dieser Käfig ist das, was sie am Leben erhält, ihre Freude und ihr Stolz. Dort hüpfen, schnäbeln, flattern, picken und singen vier knallgelbe Federkugeln herum. Für mich sehen sie alle gleich aus, aber die alte Dame kann Enrico, Placido, José und René am Gefieder und Gesang mühelos auseinanderhalten. Die Hobby-Ornithologin Rosmarie, die zu den unmöglichsten Zeiten ein definiertes, riesiges Areal inspiziert und ihre Beobachtungen meldet, kann ungefähr 600 einheimische Piepmätze identifizieren. Ohne die ehrenamtliche Zähl- und Dokumentationsarbeit von Hunderten von Vogelfreunden wäre die ornithologische Forschung der Schweiz arm dran, denn diese Idealisten helfen beim Erstellen von Karten und tragen zum Naturschutz bei. Geprüfte und zertifizierte Feldornithologen erkennen Weiblein und Männlein, Pracht- und Schlichtkleider, die verschiedenen Federkleider nach der Mauser während der Immatur. Finden sie eine Feder, können sie sagen, ob es sich um eine Brust-, Rücken-, Schwanz-, Steuer oder Deckfeder handelt oder ob sie aus der Hand- oder Armschwinge stammt. Ich hingegen freue mich einfach nur über die wunderbaren himmelblau, weiss und schwarz gestreiften Eichelhäherfedern, stecke sie mir an den Hut und fühle mich beschwingt – ganz ohne Redbull. Mit Vögeln kenne ich mich nicht aus, sondern sitze nur entspannt unter einem alten Apfelbaum und be-

obachte das Wesen, welches dort Falläpfel anpickt – ohne zu wissen, ob dies jetzt eine Goldammer ist. Mich Hobbygärtner freut, dass viele Vögel Insekten fressen. Im Wald lausche ich gerne dem Konzert um mich herum, aber ich ärgere mich, wenn mich frühmorgens das Gebrüll (nein, es ist kein Gepiepse mehr!) der Meisen in der Buche vor meinem Schlafzimmer weckt. Der Gesang der Amsel abends versöhnt mich dann aber wieder. Die Schweiz ist eine Grossmacht der Weltvogelkunde. Ihr Swiss Bird Index ist ein gutes System, um den Umgang der Menschen mit der Natur einzuschätzen. Auf der SWISSBird, der grossen Ziervogelschau in Zofingen, trifft sich die Gemeinde der Vogelliebhaber mit ihren Schönheiten zum Wettbewerb. Meine Favoriten sind natürlich Christophes Reisfinken (Padda oryzivora), denen ich den Sieg wünsche. Als ich vor Jahren in China bei einem dortigen Arzt versuchte, ein wichtiges Projekt zu ergattern, scheiterten wir fast an der Sprachbarriere. Ich bemerkte seine Reisfinken in der Bambusvolière und zeigte ihm im Internet, welche Preise mein Freund Christophe mit seinen Prachtkerlen gewonnen hatte. Schlagartig war ich für den chinesischen Kollegen vertrauenswürdig, einer, der Vogel-VIPs kennt – und der Deal gelang. Obwohl ich eigentlich Katzenliebhaber bin, werde ich die Schweizerische Vogelwarte Sempach mein Leben lang unterstützen. Nicht nur, weil sie grossartige Arbeit leistet, sondern weil sie mir in einer schweren Stunde beistand. Bei meiner ersten Assistenzarztstelle, in der Chirurgie in Luzern, schimpfte mein Oberarzt, dass ich wegen meiner «zwei linken Hände» nie Arzt, geschweige denn Chirurg werden könne. Als ich danach traurig am Ufer des Sempachersees sass, bat mich ein Vogelwartler spontan um Hilfe beim Beringen. Das klappte gut, und er lobte mich, dass ich die fragilen Flatterwesen behutsam und doch fest genug hielte. Mein manuelles Geschick sei super, und ich könne jederzeit bei ihnen in der Vogelwarte arbeiten. Da kehrte mein Selbstwertgefühl zurück, ich stellte am nächsten Tag den OA zur Rede und wurde kleinchirurgisch tätiger Hausarzt. Im Rahmen der ärztlichen Schweigepflicht verheimliche ich aber, dass sich meine Liebe zu Vögeln auch auf Enten, Hühner, Fasanen, Tauben und Wachteln erstreckt. Gerne grilliert, pochiert, im Speckmantel und mit süss-sauren Beilagen …

ARSENICUM

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ARS MEDICI 24 I 2014