Transkript
EDITORIAL
Bereits heute soll uns Google besser kennen als wir uns selbst. Ob das wirklich so ist, hat meines Wissens
zwar noch niemand ernsthaft überprüft, glauben werden es die meisten wohl trotzdem. Das neueste Heilsversprechen der smarten Knöpflidrücker aus Kalifornien preist die Vorzüge des Anhäufens individueller Gesundheitsdaten, um damit «data mining» zu betreiben, die Suche nach der Stecknadel der Erkenntnis im gigantischen Heuhaufen irrelevanter Informationen: «Stellen Sie sich vor, Sie könnten in den Krankenblättern der US-Bevölkerung recherchieren. Ich denke, das würde schon im ersten Jahr 10000 Leben retten», meint
Verzögerung durch zeitraubendes Studium der Fachliteratur oder den Besuch von Fortbildungsveranstaltungen, dürfte noch lange ein solcher bleiben. Und falls es doch einmal so weit kommen sollte, müsste man sich für den Einsatz im Arzt-PatientenGespräch einiges einfallen lassen, um den Störenfried Bildschirm verschwinden zu lassen. Man weiss nämlich, dass Ärzte, denen während der Konsultation Patientendaten elektronisch zur Verfügung stehen, mehr als ein Drittel der Zeit nicht mehr ihren Patienten, sondern den Monitor anschauen. Die Patienten wiederum versuchen in dieser Situation nicht nur die Aufmerksamkeit ihres Arztes, sondern auch einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen (3). Gute Kommunikation sieht anders aus, ganz abgesehen davon, dass Nonverbales dann noch öfter übersehen wird als
Einmal so richtig abschalten
Google-Chef Larry Page. Wie er auf diese Grössenordnung kommt, bleibt sein Geheimnis. Er hat auch schon einmal von 100000 Leben fabuliert, die man damit pro Jahr retten würde. Wer so argumentiert sei in der Regel entweder kein Arzt oder jemand, der es besser weiss, aber mit einer reisserischen Schlagzeile in die Presse will, kommentierte ebenso treffend wie trocken ein Gesundheitsfachmann die Statements des Google-Chefs in einem Blog der Washington Post (1). Doch was wissen wir heutzutage wirklich über den Nutzen computergestützter Entscheidungshilfen, insbesondere für den Alltag in der Hausarztpraxis? Der aktuelle Stand der Erkenntnis zu den «computer-based clinical decision support systems (CDSS)» in der Praxis: Wenn überhaupt, sind sie nützlich für den Arzt aber kaum für den Patienten (2). So zeigte sich beispielsweise in 28 Studien mit Diabetespatienten, dass schlaue Software zwar die Abläufe zu optimieren vermochte, auf patientenrelevante Parameter wie HbA1c, Blutdruck oder Lipidwerte jedoch kaum Einfluss hatte (2). Der Wunschtraum, mittels CDSS den aktuellen Stand der Medizin zum Wohl der Patienten «in Echtzeit» automatisch in die Praxis zu bringen, ohne
bei Gesprächen von Angesicht zu Angesicht ohne Ab-
lenkung. Überdies sei bei Anwesenheit von Kollege
Computer während des Patientengesprächs wahr-
scheinlich auch «die Fähigkeit der Ärzte, zuzuhören, zu
denken und Problemlösungen zu erwägen, erheblich
eingeschränkt», so die Studienautoren (3).
In diesem Sinne scheint es mir eine gute Idee, nicht
nur über die kommenden Feiertage einmal so richtig
abzuschalten, sondern auch den Computer während
des Patientengesprächs. So notwendig und nützlich er
sonst auch ist, im Arzt-Patienten-Gespräch wird er zum
Störenfried.
Renate Bonifer
1. Matt McFarland: The incredible potential and dangers of data mining health records. http://www.washingtonpost.com/blogs/innovations/wp/2014/10/01/the-incrediblepotential-and-dangers-of-data-mining-health-records/.
2. Murphy ME et al.: Computer-based clinical decision support for general practitioners. Family Practice 2014; 31(5): 497–498.
3. Montague E, Asan O: Dynamic modeling of patient and physician eye gaze to understand the effects of electronic health records on doctor–patient communication and attention. International J Med Informatics 2014; 83(3): 225-234. Zitiert in Braun B: Nutzung von elektronischen Patienteninformationen und Entscheidungshilfen kann Arzt-Patient-Kommunikation negativ beeinflussen. http://www.forum-gesundheitspolitik.de/artikel/artikel.pl?artikel=2330.
ARS MEDICI 24 I 2014 1209