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Akutes Koronarsyndrom: Sofort duale Plättchenhemmung?
Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) AstraZeneca-Symposium: ACS im Fokus – von der Akutversorgung bis zur Nachbehandlung. Düsseldorf, 10. Oktober 2014
Das Timing der neuen oralen Thrombozytenaggregationshemmer bei akutem Koronarsyndrom stand im Mittelpunkt eines Symposiums im Rahmen der diesjährigen Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Der Nutzen der sofortigen Gabe eines Plättchenhemmers zusätzlich zu ASS noch vor dem Eintritt ins Spital ist gemäss neuen Studienresultaten fraglich.
CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Das akute Koronarsyndrom (ACS) stellt mit über 20 Prozent aller Einsatzindikationen den häufigsten Grund zur Not-
Merksätze
O Die aktuellen Leitlinien von ESC und EACTS empfehlen bei akutem Koronarsyndrom (ACS) eine sofortige duale Plättchenhemmung mit ASS und einem P2Y12-Hemmer.
O Der Nutzen einer obligaten präklinischen Gabe von Clopidogrel, Prasugrel oder Ticagrelor (präklinisches Loading) im Vergleich zur unmittelbaren intrahospitalen Gabe vor/nach perkutaner Koronarintervention (PCI) ist bis jetzt jedoch nicht belegt und erscheint somit nicht zwingend erforderlich.
O Nach einem ACS sollte eine duale Plättchenhemmung über 12 Monate durchgeführt werden. Die Patienten sollten zeitlebens Acetylsalicylsäure einnehmen.
arztalarmierung dar. Das ACS umfasst den ST-Hebungs-Infarkt (STEMI), den Nicht-ST-Hebungs-Infarkt (NSTEMI) und die instabile Angina pectoris. Insbesondere der STEMI ist mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden. Eine rasche Reperfusion reduziert die Mortalität und ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Erkrankung. Die perkutane koronare Intervention (PCI) stellt die bevorzugte Therapieoption in der Akutsituation dar.
Aktuelle Leitlinien Das Leitlinienkomitee «Revaskularisierung des Myokards» der European Society of Cardiology (ESC) und der European Association for Cardio-Thoracic Surgery (EACTS) hat am 29. August 2014 die aktualisierten Leitlinien zur myokardialen Revaskularisierung veröffentlicht. Professor Tienush Rassaf, Düsseldorf, erörterte die Leitlinien an einem Symposium anlässlich der diesjährigen Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK). In der frühen medikamentösen Therapie spielt die antithrombotische Therapie mit Thrombozytenaggregationsund Gerinnungshemmern eine wichtige Rolle. Darüber hinaus kommen in der Primärtherapie unter anderem Betablocker, Nitrate, Kalziumantagonisten, Morphin, Atropin und die Gabe von Sauerstoff zum Einsatz. Empfohlen wird eine duale Plättchenhemmung mit Acetylsalicylsäure (ASS) und einem Adenosindiphosphat(ADP-)P2Y12-Rezeptor-Blocker. Die Leitlinien empfehlen die Gabe eines zweiten Thrombozytenaggregationshemmers neben ASS so früh wie möglich und sehen vor, Patienten mit ACS vor einer PCI mit einem P2Y12-Hemmer zu behandeln.
Neben Clopidogrel stehen mit Ticagrelor (Brilique®) und Prasugrel (Efient®) zwei neue orale P2Y12-Rezeptor-Antagonisten zur Verfügung, welche in den jeweiligen Zulassungsstudien TRITONTIMI-38 (Prasugrel) und PLATO (Ticagrelor) dem Clopidogrel (Plavix® und Generika) überlegen waren. Die Leitlinien empfehlen daher, unter Abwägung des Blutungsrisikos die neuen P2Y12Hemmer beim ACS zu bevorzugen. Darüber hinaus ist beim STEMI eines der folgenden Antikoagulanzien erforderlich: O bei geplanter PCI: vorzugsweise
Bivalirudin oder unfraktioniertes Heparin O nach Einleitung einer Fibrinolyse mit einer fibrinspezifischen Substanz: Enoxaparin oder Heparin.
Auch beim NSTEMI ist zusätzlich zur Thrombozytenaggregation mit ASS und einem P2Y12-Rezeptor-Blocker eine Antikoagulation empfehlenswert. Welche Substanz zur Antikoagulation verwendet wird, hängt einerseits vom Ischämie- und Blutungsrisiko und andererseits von der geplanten Behandlung ab. Zur Verfügung stehen unfraktioniertes Heparin, Enoxaparin, Fondaparinux und Bivalirudin.
P2Y12-Hemmer vor PCI? In verschiedenen Studien kam man zu dem Ergebnis, dass der Nutzen eines P2Y12-Hemmers vor einer PCI fraglich ist. In der PCI-CURE-Studie zeigte sich keine relevante Reduktion periinterventioneller Ereignisse durch eine Vorbehandlung mit Clopidogrel (1). In der PLATO-Studie beugte Ticagrelor periinterventionellen ischämischen Ereignissen nicht besser vor als Clopidogrel; die Vorbehandlungszeit war allerdings sehr kurz (< 1 h) (2). In der ACCOAST-Studie führte die Gabe von
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Prasugrel vor der Koronarografie im Vergleich zur Gabe des Medikaments nach der Koronarografie zu keiner Reduktion der ischämischen Ereignisse und zu mehr Blutungskomplikationen (3).
ATLANTIC-Studie Zentrales Thema des Symposiums war die ATLANTIC-Studie, welche den Effekt einer frühen Gabe von Ticagrelor bei ACS untersuchte. Professor Christian Hamm, Bad Nauheim, präsentierte die Ergebnisse der Studie. Ticagrelor hat eine direkte, reversible und rasch einsetzende Wirkung am P2Y12-Rezeptor. Im Vergleich zu Clopidogrel ist die Variabilität des Wirkprofils wesentlich geringer, da eine Metabolisierung über das CYP450-System nicht notwendig ist. Es handelte sich um eine 30-tägige, internationale, multizentrische, randomisierte Doppel-
blindstudie mit 1862 STEMI-Patienten. Untersucht wurden die Wirksamkeit und Sicherheit einer prähospitalen Ticagrelorgabe (= sofort) im Vergleich zu einem intrahospitalen Beginn der Gabe bei STEMI-Patienten mit geplanter PCI. Die sofortige Gabe erfolgte im Durchschnitt 31 Minuten früher als die verzögerte. Es zeigten sich keine signifikanten Wirksamkeitsunterschiede zwischen der prä- und intrahospitalen Gabe von Ticagrelor. Der kombinierte primäre Endpunkt bestand aus dem Anteil an Patienten, die keinen normalen Fluss im Infarktgefäss bei der initialen Angiografie zeigten, sowie dem Nichterreichen einer über 70-prozentigen Rückbildung der ST-Strecken-Hebung vor PCI. Es zeigten sich keine statistisch signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Blutungsrisikos.
Auch im Zusammenhang mit dem kombinierten sekundären Endpunkt (Tod, Myokardinfarkt, Schlaganfall, notwendige Revaskularisierung oder akute Stentthrombose) gab es keine statistisch signifikanten Differenzen zwischen der prä- und der intrahospitalen Gabe. Hamm wies darauf hin, dass Ticagrelor innerhalb eines Zeitraums von 30 Minuten die Reperfusion nicht verbessert hatte. Die prähospitale Gabe von Ticagrelor zeigte jedoch nach 24 Stunden (0% vs. 0,8%; p = 0,0078) sowie nach 30 Tagen (0,2% vs. 1,2%; p = 0,023) statistisch signifikante Risikoreduktionen bezüglich Stentthrombosen nach einer PCI.
Vorsicht bei gleichzeitiger Morphingabe! Beim ACS ist die frühzeitige konsequente Schmerzbehandlung bis zur
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weitestgehenden Schmerzfreiheit ein prinzipielles Gebot und zur Vermeidung stressbedingten erhöhten Sauerstoffbedarfs auch ein kausales Behandlungsprinzip. Von besonderer Bedeutung sind daher die in der ATLANTIC-Studie erfassten Unterschiede in der Rückbildung der ST-Strecken-Hebung, wenn die zusätzliche Gabe von Morphin durch den Notarzt berücksichtigt wurde. Hier zeigte sich, dass es bei Patienten, die bereits prähospital Ticagrelor erhalten hatten, statistisch signifikant seltener (p = 0,0050) zu einer Rückbildung kam. Ursache könnte eine Hemmung der Ticagreloraufnahme durch Morphin sein, so Hamm. Dass Morphin die Absorption eines P2Y12-Hemmers, nämlich Clopidogrel, im Darm blockiert und die Plasmakonzentrationen der aktiven Metaboliten verringert, wurde in einer früheren Studie nachgewiesen (4). Der Nutzen einer obligaten präklinischen Gabe von Clopidogrel, Prasugrel oder Ticagrelor (präklinisches Loading) im Vergleich zur unmittelbaren intrahospitalen Gabe vor/nach PCI sei bis jetzt nicht belegt und erscheine somit nicht zwingend erforderlich, fasste Hamm zusammen. Professor Martin Möckel, Berlin, empfahl, Tica-
grelor erst in der Klinik zu geben, schloss aber eine präklinische Gabe nicht grundsätzlich aus. Diese sollte jedoch nur von erfahrenen Notärzten durchgeführt werden.
Und was kommt nach dem ACS? Sicher ist, dass Patienten, die ein ACS überlebt haben, auch nach der Akutphase ein deutlich erhöhtes Risiko für ein erneutes koronares Ereignis aufweisen. Um die Mortalität zu senken, ist die duale Thrombozytenaggregationshemmung – wie in den Leitlinien von ESC und EACTS empfohlen – über 12 Monate von entscheidender Bedeutung. Ein Absetzen der dualen Plättchenhemmung während der ersten 12 Monate sollte vermieden werden. Danach sollte der Patient zum Schutz vor weiteren thrombotischen Ereignissen zeitlebens ASS einnehmen. Alle Patienten mit einer relevanten linksventrikulären Dysfunktion nach einem ACS sollten einen ACE-Hemmer oder einen Angiotensinrezeptorblocker erhalten. Betablocker sollten allen Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion gegeben werden, wenn keine Kontraindikationen vorliegen.
Nicht nur durch eine medikamentöse
Langzeittherapie, sondern auch durch
eine konsequente Sekundärprävention
lässt sich die Prognose der Patienten
günstig beeinflussen. Die Leitlinien
empfehlen unter anderem folgende
Massnahmen:
O Nikotinabstinenz
O gesunde, abwechslungsreiche Ernäh-
rung und Gewichtskontrolle
O körperliche Aktivität
O regelmässige Kontrolle von Blut-
druck und Cholesterin
O antidiabetische Therapie
O Grippeimpfung.
O
Claudia Borchard-Tuch
Referenzen: 1. Mehta SR et al.: Effects of pretreatment with clopidogrel
and aspirin followed by long-term therapy in patients undergoing percutaneous coronary intervention: the PCI-CURE study. Lancet 2001; 358(9281): 527–533. 2. Wallentin L et al.: Ticagrelor versus clopidogrel in patients with acute coronary syndromes. N Engl J Med 2009; 361(11): 1045–1057. 3. Montalescot G et al.: Pretreatment with prasugrel in non-ST-segment elevation acute coronary syndromes. N Engl J Med 2013; 369(11): 999–1010. 4. Hobl EL et al.: Morphine decreases clopidogrel concentrations and effects: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. J Am Coll Cardiol. 2014; 63(7): 630–635.
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