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FORTBILDUNG
Chronische Schmerzen bei alten Patienten
Welche therapeutische Strategien sind sinnvoll?
Viele alte Menschen leiden unter persistierenden Schmerzen, darunter nicht wenige trotz Schmerzmitteln. Häufig bestehen gleichzeitig Depressionen und kognitive Einschränkungen, die zusätzliche Probleme bereiten. Der folgende Beitrag stellt eine Kombination medikamentöser und nicht medikamentöser Therapien vor, die in dieser Situation sinnvoll sind.
JAMA
Persistierende Schmerzen im höheren Alter sind häufig, und sie behindern die Patienten nicht selten in erheblichem Mass. So gut wie immer sind Komorbiditäten vorhanden. Die Schmerzen sind meist muskuloskeletal bedingt. Wie bei anderen geriatrischen Syndromen auch ist der klinisch relevante Erkenntnisgewinn mittels diverser diagnostischer Untersuchungen oft nur bescheiden. Ebenfalls typisch ist, dass sich die persistierenden Schmerzen über eine längeren Zeitraum hinweg aufgrund mehrerer Ursachen entwickelten und es in der Folge zu einer wachsenden Behinderung im Alltag, erhöhter Sturzgefahr, Schlafstörungen, Depression und Angst sowie einer Verminderung sozialer Kontakte und einer sich stetig verschlechternden Lebensqualität kommt. Die Behandlung wegen chronischer Schmerzen ist zwar bei Patienten jeden Alters eine Herausforderung, bei alten Menschen kommen jedoch zusätzliche Probleme hinzu:
Merksätze
O Paracetamol ist die erste Wahl für ältere Patienten mit leichten bis mittelstarken chronischen Schmerzen.
O Topische NSAID, Tramadol oder beides werden empfohlen, falls Paracetamol nicht ausreicht.
O Orale NSAID sollen nicht auf Dauer eingenommen werden.
O Die Therapie sollte immer eine individuell angepasste Kombination medikamentöser und nicht medikamentöser Massnahmen sein.
O Es ist von zentraler Bedeutung, dass der behandelnde Arzt und sein Patient ein «therapeutisches Bündnis» schliessen.
O altersbedingte Änderungen im Stoffwechsel mit veränderter Resorption und einem verminderten renalen Abbau von Medikamenten,
O altersbedingte sensorische und kognitive Beeinträchtigungen, O altersbedingte Multimorbidität und Polypharmazie.
KOMMENTAR
Dr. med. Wolfgang Schleinzer, MSc, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Ars Medici
Schmerzen im Alter müssen nicht akzeptiert werden
Die Angst vor dem Älterwerden ist häufig in der Angst vor zu-
nehmenden Schmerzen begründet. Das Schmerzerleben ist ein
komplexer neuronaler Prozess. Einerseits führt das Alter zu
einem Anstieg der Wahrnehmungsschwelle, andererseits
scheint aber der Organismus älterer Patienten vulnerabler hin-
sichtlich Schmerzintensität und Schmerzchronifizierung zu
werden.
Die Erfassung und Analyse chronischer Schmerzprobleme ist
aufwändig und oft durch die Multimorbidität und Multilokalität
erschwert. Schlafstörungen, sozialer Rückzug oder Appetit-
losigkeit beziehungsweise Gewichtsverlust sind nicht selten
indirekte Anzeichen, um einen Schmerzhintergrund zu über-
prüfen. Nach Abklärung behandelbarer Ursachen ist die medi-
kamentöse Therapie bei meist vorbestehender Polypharmazie
eine Gratwanderung und folgt insbesondere beim Opiateinsatz
dem Prinzip «start low – go slow», um eine Balance zwischen
ausreichender Wirkung und tolerablen Nebenwirkungen zu
erreichen.
Schmerzen müssen nicht der physiologische Preis für höheres
Alter sein und deshalb akzeptiert werden. Analgetika stellen
dabei nicht die einzige therapeutische Massnahme dar, sondern
sind Teil eines individuell zu entwickelnden Konzeptes, welches
auch Anleitung zur körperlichen Aktivität und einer psycho-
sozialen Unterstützung mit dem Ziel der Erhaltung oder
Wiederherstellung des Selbstwertgefühls enthalten soll.
Gemeinsam mit dem Patienten wird das persönliche Ziel fest-
gehalten, wie zum Beispiel die Schmerzfreiheit in Ruhe oder
das Ermöglichen wichtiger Alltagstätigkeiten – entscheidend ist
die Lebensqualität!
O
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Wirksamkeit nicht medikamentöser Massnahmen gemäss publizierten Studien
Behandlung
Wirkung
Effektgrösse1 Evidenzlevel2 Bemerkungen
Allgemeine Massnahmen Kognitive Verhaltenstherapie
Akupunktur
Meditation (Achtsamkeit)
↓ Schmerz ↔ Behinderung ↓ Schmerz ↓ Behinderung ↓ Rückenschmerz
Massage Beratung zur Selbsthilfe
↓↓ Schmerz ↓ Steifheit ↓↓ Behinderung
↔ Schmerz ↔ Behinderung
0,47 0,15 0,35 0,35 k.A.
0,96 0,31 0,74 0,06 0,06
IIb Empfehlenswert, falls Durchführung durch qualifizierte Therapeuten.
Ia Als Zusatztherapie zu erwägen.
Ib Kontrollgruppe mit intensivem Beratungsprogramm profitierte in der Studie in gleichem Mass.
Ib Als Zusatztherapie zu erwägen.
Ia Wird in einigen, aber nicht allen Guidelines empfohlen.
Bewegungszentrierte Massnahmen
Training
↓↓ Schmerz ↓ Behinderung
Tai chi
↓↓ Schmerz ↓ Steifheit ↓↓ Behinderung
Yoga ↓ Schmerz ↓ Behinderung
0,25–2,75 k.A.
0,86 0,53 0,86
k.A. k.A.
Ib Training (Kraft, Beweglichkeit, Balance, Ausdauer) wird in allen Guidelines eindringlich empfohlen.
IIb Erwägen, falls verfügbar.
III Erwägen, falls in guter Qualität verfügbar.
1Die Effektgrösse wird aus der Wirksamkeit (z.B. Schmerzreduktion abzüglich der in einer Plazebo- bzw. Kontrollgruppe gemessenen Werte) und der Standardabweichung in einer Studie errechnet. Als Faustregel gilt: Ein Punktwert von 0,2 gilt als kleiner Effekt, 0,5 als moderat und 0,8 als gross; Plazebo erreicht bis 0,3 Punkte, höhere Werte können vorkommen.
2Evidenzlevel: Ia (Metaanalyse randomisierter Studien), Ib (mindestens 1 randomisierte, kontrollierte Studie), IIa (mindestens 1 kontrollierte Studie ohne Randomisierung), IIb (mindestens 1 quasi-experimentelle Studie), III (rein deskriptive Studien, Korrelationen, Fall-Kontroll-Studien); k.A.: keine Angaben.
Nicht medikamentöse Massnahmen Für die Behandlung von Patienten mit persistierenden Schmerzen wird ein multimodaler Ansatz empfohlen, das heisst eine Kombination medikamentöser und nicht medikamentöser Therapien, die individuell zusammengestellt werden. Viele nicht medikamentöse Schmerztherapien beruhen auf kognitiven Techniken (z.B. Selbsthypnose, Meditation) oder Verhaltenstherapie (z.B. realistische Ziele setzen, Trainieren). Gerade für nicht medikamentöse Therapien können darum bereits leichte kognitive Beeinträchtigungen (mild cognitive impairment) zu einem grossen Problem werden, insbesondere wenn die exekutiven Funktionen (Planen, Organisieren, Entscheiden) beeinträchtigt sind. Nicht medikamentöse Therapien stossen nicht selten auf Widerstände seitens der Patienten (zu viel Aufwand, «bringt sowieso nichts»). Es kann hilfreich sein, den Patienten eindrücklich zu erklären, dass sowohl medikamentöse als auch nicht medikamentöse Behandlungen bei chronischen Schmerzen zum heutigen Therapiestandard gehören, weil sich dies in Studien als besonders wirksam erwiesen hat. Zwar waren die bisherigen nicht pharmakologischen Studien bei chronischem Schmerz fast alle nur recht kurz (weniger als 6 Monate), trotzdem kann selbst eine nur vorübergehende Linderung der
Schmerzen dank nicht pharmakologischer Massnahmen für den Patienten viel bringen, nämlich neue Hoffnung, Motivation und eine bessere Lebensqualität. Von besonderer Bedeutung sind rehabilitative und physiotherapeutische Massnahmen, um die Balance und Kraft alter Menschen zu trainieren und damit das Sturzrisiko zu senken. Für alle geriatrischen Schmerzpatienten wird darum das individuell angepasste Trainieren von Kraft, Beweglichkeit, Balance und Ausdauer empfohlen. Für die oft sehr in ihrer Mobilität eingeschränkten alten Patienten kann jedoch bereits das Aufsuchen einer physiotherapeutischen Praxis eine unüberwindbare Hürde sein. Physiotherapeuten, die Patienten zuhause aufsuchen, können nicht nur dieses Problem lösen. Sie können gleichzeitig das häusliche Umfeld der Patienten optimieren (z.B. adäquate Einrichtung und Gehhilfen) und Patienten, Pflegende und Familienangehörige vor Ort beraten. In Tabelle 1 sind Studienresultate zu nicht pharmakologischen Massnahmen für Patienten mit chronischen Schmerzen aufgelistet. Da es keine «Head-to-head»-Studien für dieses Verfahren gibt, richtet sich die Wahl nach den persönlichen Präferenzen des Patienten sowie der Praktikabilität und Verfügbarkeit vor Ort.
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FORTBILDUNG
Tabelle 2:
Empfehlungen zur medikamentösen Therapie für ältere Patienten mit chronischen Schmerzen
Substanz
Empfehlung
Wichtige Nebenwirkungen
Effektgrösse Evidenzlevel
Analgetika Paracetamol orale NSAID topische NSAID
Tramadol
starke Opioide
Medikament der 1. Wahl
Mit Vorsicht zu gebrauchen, so kurz wie möglich, falls keine Alternative vorhanden. Schmerzreduktion nach 1 Jahr äquivalent zu oralen NSAID. Als Alternative zu oralen NSAID, besonders bei lokalem Schmerz. Monitoring der Nebenwirkungen nicht vergessen.
Für ältere Patienten mit mittleren bis schweren chronischen Schmerzen oder mit bedeutenden schmerzbedingten Einschränkungen bezüglich Alltag und Lebensqualität.
Im Allgemeinen gut verträglich; Lebertoxizität bei Überdosierung.
Schmerz: 0,21
gastrointestinale, renale und kardiovaskuläre Nebenwirkungen
Schmerz: 0,32
Im Allgemeinen gut verträglich; Sicherheit bei Patienten mit Antikoagulanzien oder Niereninsuffzienz unklar.
Schmerz: 0,41 Behinderung: 0,44 Steifheit: 0,43
Obstipation, Nausea, Kopfschmerzen, Schwindel, k.A. Somnolenz; Wechselwirkungen mit Antidepressiva (MAO, SSRI, Trikzylika)
Sturzrisiko, Obstipation, Lethargie, Nausea, Kopfschmerzen, Schwindel, Somnolenz
Schmerz: 0,56 Behinderung: 0,43
Ia Ia Ib
Ib
Ia
Adjuvante Medikamente
trizyklische Antidepressiva
Tertiäre trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin oder Doxepin wegen häufiger Nebenwirkungen vermeiden.
Anticholinerge und adrenerge Nebenwirkungen, QTc-Verlängerung; Serummonitoring wird empfohlen.
k.A.
Antikonvulsiva
Für ältere Patienten mit neuropathischem Nebenwirkungsprofil kann Gebrauch bei älteren Schmerz empfohlen (Gabapentin, Pregabalin). Personen einschränken; Dosisanpassung von
Gabapentin und Pregabalin bei Nierenfunktionsstörungen.
k.A.
topisches Lidocain
Für ältere Patienten mit lokalisiertem neuropathischem Schmerz empfohlen.
Im Allgemeinen gut verträglich; häufigste Nebenwirkung: Kopfschmerzen.
SSRNI
Für ältere Patienten mit neuropathischem Im Allgemeinen gut verträglich; Nebenwirkungen: k.A. Schmerz empfohlen (Duloxetin, Venlafaxin). Hyponatriämie, Schwindel, Abdominalschmerzen,
Nausea.
SSRI Werden nicht empfohlen; keine Studien mit älteren Patienten vorhanden.
Ib Ib
IIb Ib
1Die Effektgrösse wird aus der Wirksamkeit (z.B. Schmerzreduktion abzüglich der in einer Plazebo- bzw. Kontrollgruppe gemessenen Werte) und der Standardabweichung in einer Studie errechnet. Als Faustregel gilt: Ein Punktwert von 0,2 gilt als kleiner Effekt, 0,5 als moderat und 0,8 als gross; Plazebo erreicht bis 0,3 Punkte, höhere Werte können vorkommen.
2Evidenzlevel: Ia (Metaanalyse randomisierter Studien), Ib (mindestens 1 randomisierte, kontrollierte Studie), IIa (mindestens 1 kontrollierte Studie ohne Randomisierung), IIb (mindestens 1 quasi-experimentelle Studie; k.A.: keine Angaben; SSRNI: selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer.
Medikamente Paracetamol ist nach wie vor die erste Wahl für ältere Patienten mit chronischen Schmerzen leichter bis mittlerer Intensität. Das Sicherheitsprofil des Paracetamols ist gut. Allerdings ist Paracetamol in den USA die wichtigste Ursache für akutes Leberversagen. Dies führt man in erster Linie darauf zurück, dass diese Substanz in den USA in vielen frei verkäuflichen Medikamenten enthalten ist und in den Publikumsmedien intensiv beworben wird, was das Risiko unbeabsichtigter Überdosierungen erhöht. Der langfristige Gebrauch oraler NSAID ist wegen der bekannten kardiovaskulären, renalen und gastrointestinalen Nebenwirkungen zu vermeiden. Topische NSAID sind eine Alternative bei lokal begrenzten Schmerzen.
Falls Paracetamol nicht ausreicht und die Patienten weiterhin unter deutlichen Einschränkungen wegen der Schmerzen leiden, kommen Tramadol und Opioide infrage. Vor einer Opioidverordnung sollte sich der Arzt versichern, dass die Medikamente sicher verwahrt werden und die Gabe bei kognitiv beeinträchtigten Patienten gegebenenfalls von einem Familienmitglied oder Pflegenden überwacht wird. Dosis, Wirkung und Nebenwirkungen der Opioide sind genau zu verfolgen – einerseits, um die optimale Dosis zu titrieren und andererseits um ein Opioid bei ungenügender Wirkung trotz langfristiger Anwendung wieder auszuschleichen. Der langfristige Gebrauch von Opioiden durch ältere Schmerzpatienten ist mit einem höheren Sturz- und Hospitalisationsrisiko sowie einer Verkürzung des Lebens assoziiert.
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Abbildung: Algorithmus für die Behandlung älterer Patienten mit nozizeptiven und neuropathischen Schmerzsyndromen.
Eine Untersuchung der US-amerikanischen staatlichen Krankenversicherung Medicare ergab, dass in den USA Opioide häufig von mehreren Ärzten pro Patient verschrieben werden und dies mit einer höheren Opioid-assoziierten Hospitalisationsrate verbunden ist. Dies unterstreicht, dass Verordnung und Monitoring der Opioidgabe von einem einzigen behandelnden Arzt gemanagt werden sollte. In dem häufigen Fall gleichzeitiger Depressionen sind Serotonin-Noradrenalin- oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) zu erwägen. Duale Wirkstoffe, wie die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) Venlafaxin und Duloxetin sind den SSRI bezüglich analgetischer Nebeneffekte überlegen. Trizyklische Antidepressiva können ebenfalls erwogen werden, zumal sie bei der Einnahme am Abend das Einschlafen fördern. Allerdings sind trizyklische Antidepressiva wegen ihrer anticholinergen Effekte für ältere Patienten eher nicht empfehlenswert. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Medikamente, die für ältere Patienten mit chronischen Schmerzen infrage kommen. Im Algorithmus in der Abbildung wird ein systematisches Vorgehen für den Beginn einer medikamentösen Behandlung vorgestellt. Grundsätzlich gilt, dass eine Kombination verschiedener Wirkstoffe mit unterschiedlichen Wirkmechanismen empfehlenswert ist und bei niedrigeren Einzeldosierungen in der Summe besseren Erfolg verspricht. Ebenso ist damit zu rechnen, dass Nebenwirkungen nach einer Neuverordnung oder einer Dosisänderung bei älteren Patienten eher auftreten als bei jüngeren. Nebenwirkungen sind bei multimorbiden, physisch geschwächten Personen gravierender, und sie führen nicht selten dazu, dass eine analgetische Medikation nicht ausreichend durchgeführt oder komplett verweigert wird. Es ist darum wichtig, diese älteren Patienten nach einer Neuverordnung oder Dosisanpassung sehr kurzfristig wieder einzubestellen oder zumindest anzurufen. Das Etablieren einer wirksamen medikamentösen Therapie braucht Zeit und Geduld. Keinesfalls sollte man einen Therapieversuch bei Patienten mit hartnäckigen chronischen
Tabelle 3:
Abklärung bei Patienten mit chronischen Schmerzen trotz analgetischer Medikation
1. Nimmt der Patient die Medikamente tatsächlich gemäss Verordnung ein? Falls nicht, Ursachen abklären (z.B. Angst vor Nebenwirkungen, Vergesslichkeit). Bei jeder Konsultation erneut betonen, wie wichtig das korrekte Anwenden der Medikamente ist. Gegebenenfalls korrekte Medikation durch Familienangehörige oder Pflegende sicherstellen.
2. Gibt es Anzeichen für Übermedikation? Medikamentensmissbrauch? Werden Medikamente (Opioide) möglicherweise an Dritte weitergegeben? Falls eine Übermedikation besteht, die Dosis der am meisten sedierend wirkenden Substanz halbieren und nach einer Woche die Situation neu bewerten. Falls Anzeichen für Medikamentenmissbrauch oder die Weitergabe der Substanz an Dritte besteht, Überweisung an Suchtspezialisten erwägen oder Opioide mit für Suchtzwecke ungeeigneter Galenik verordnen.
3. Werden die Fragen 1 und 2 verneint, ist die Medikation unzureichend. In diesem Fall sind folgende Optionen zu erwägen: a) Neue Medikation mit anderem Wirkmechanismus verordnen. b) Dosis eines der bereits verwendeten Analgetika um 50% erhöhen. Falls (a) oder (b): Die Dosis der am meisten sedierend wirkenden Substanz halbieren. c) Medikamente gegen Durchbruchschmerz während der Dosisanpassung der Medikation verordnen. d) Nichtpharmakologische Massnahmen insbesondere auch zu Beginn einer neuen Medikation und während Dosisanpassungen empfehlen.
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Schmerzen zu früh abbrechen. Für die notwendige Dauer der Titration bis zur optimalen Dosis gibt es leider keine Faustregel. Sie hängt von der Pharmakologie der jeweiligen Substanz ab, vom Patienten (Komorbiditäten, Interaktionen mit weiteren Medikamenten etc.) und dem therapeutischen Ziel. Beispielsweise braucht es längere Zeit, bis Antidepressiva ausreichende Serumspiegel erreichen, während die Wirkung von Opioiden sehr viel rascher einsetzt.
Alles schon versucht? In Tabelle 3 ist zusammengefasst, wie man potenzielle Ursachen für das Versagen einer analgetischen Medikation abklären kann. Auch wenn ein Patient schon einige erfolglose Behandlungen bezüglich seiner chronischen Schmerzen hinter sich hat, sollte man sich vor therapeutischem Nihilismus hüten. Das Versagen verschiedener Therapien in der Vergangenheit heisst nicht, dass künftige Massnahmen auch nichts nützen werden. Es ist sogar möglich, dass ein Medikament, das früher einmal anscheinend nichts genützt hat, in einem neuen Setting doch eine Wirksamkeit entfalten kann.
Aus Studien ist bekannt, dass eine negative Erwartungshal-
tung den analgetischen Effekt jeglicher Substanz deutlich ver-
mindern kann. Für den behandelnden Arzt bedeutet dies eine
kommunikative Gratwanderung: Zum einen muss er den
Patienten motivieren, es mit diesem oder jenem Medikament
zu versuchen, zum anderen darf er keine überzogenen Hoff-
nungen wecken, die nur enttäuscht werden können – mit wei-
teren negativen Konsequenzen für neue Therapieversuche.
Gerade bei diesen Schmerzpatienten ist ein vertrauensvolles
«therapeutisches Bündnis» zwischen Arzt und Patient enorm
wichtig. Sie müssen gemeinsam entscheiden, welche Ziele im
individuellen Fall die wichtigsten sind und wie man diese
erreichen möchte.
O
Renate Bonifer
Makris UE et al.: Management of persistent pain in the older patient. A clinical review. JAMA 2014; 312 (8): 825–836.
Interessenlage: Einer der Autoren des JAMA-Artikels deklariert Beraterhonorare von Endo Pharmaceuticals; alle anderen erklären, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
BUCHTIPP
Schmerzmanagement beim älteren Menschen
Besonderheiten und praktische Empfehlungen
Von PD Dr. med. Markus Felder, Prof. Dr. med. Stephan Krähen-
bühl, Dr. med. Roland Kunz, Dr. phil. nat. Markus L. Lampert und
Prof. Dr. med. Friedrich Stiefel.
Nach einem Vorwort von Roland Kunz gliedert sich die Bro-
schüre in die Kapitel Grundlagen des chronischen Schmerzes,
altersbiologische Veränderungen und ihre Auswirkungen, spe-
zifische Aspekte des älteren Schmerzpatienten, Schmerzen bei
Patienten mit kognitiver Beeinträchtigung, Pharmakotherapie
bei geriatrischen Patienten, medikamentöse Schmerztherapie
beim älteren Patienten, Arzneiformen für ältere Patienten, psy-
chosoziale Aspekte des Schmerzes beim älteren Patienten, die
psychiatrische Komponente des Schmerzmanagements sowie
ein ergänzendes Kapitel zur physiotherapeutischen Schmerz-
behandlung.
Die 62-seitige Broschüre ist 2014 erschienen und bei Mundi-
pharma Medical Company Schweiz (www.mundipharma.ch) für
Ärztinnen und Ärzte gratis zu beziehen. Auch der Download der
Broschüre ist möglich.
red
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