Transkript
STUDIE REFERIERT
Systolischer Blutdruck unter 120 mmHg verringert das Risiko nicht weiter
Niedrigere Blutdruckwerte sind nicht unbedingt in jedem Fall besser
Epidemiologische Daten weisen auf eine lineare Beziehung zwischen steigenden systolischen Blutdruckwerten in einer Population und erhöhten Raten an kardiovaskulären Ereignissen wie Schlaganfall, Herzinfarkt und Mortalität hin. Deswegen geht man davon aus, dass eine medikamentöse Blutdrucksenkung bei Hypertonikern kardiovaskuläre Ereignisse deutlich reduziert. Aber wie aggressiv sollte der Blutdruck gesenkt werden?
JAMA INTERNAL MEDICINE
Bluthochdruck ist weit verbreitet und führt zu verschiedenen unerwünschten kardiovaskulären Ereignissen wie koronare Herzkrankheit (KHK), Schlaganfall und Herzinsuffizienz. Deshalb gehen Experten davon aus, dass schon kleine Verbesserungen der antihypertensiven Therapie von grossem kardiovaskulärem Nutzen wären.
Merksätze
O Bei Hypertonikern sollte ein systolischer Zielblutdruckwert <140 mmHg angestrebt werden.
O Eine Senkung des systolischen Blutdruckwerts auf < 120 mmHg kann das kardiovaskuläre Risiko offensichtlich nicht weiter reduzieren.
O Bei Personen ab 60 Jahren wurde der systolische Schwellenwert, ab dem antihypertensiv behandelt werden soll, auf 150 mmHg angehoben (JNC-8-Leitlinie).
Der Bericht an das Eighth Joint National Committee for Detection, Evaluation, and Treatment of High Blood Pressure (JNC-8) empfiehlt einen systolischen Zielblutdruckwert (SBP) < 140 mmHg und einen diastolischen Zielblutdruckwert (DBP) unter 90 mmHg. Der Nutzen einer Senkung des SBP auf etwa 140 mmHg ist weithin akzeptiert. Doch Patienten, die unter einer antihypertensiven Therapie diesen Wert erreicht haben, weisen möglicherweise immer noch ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko auf. Beobachtungsstudien dokumentieren eine progrediente Zunahme des kardialen Risikos bei Blutduckwerten über 115/75 mmHg. Dies weist darauf hin, dass es von erheblichem Vorteil sein könnte, den SBP nicht nur auf Werte unter 140 mmHg, sondern auf unter 120 mmHg zu senken. Jedoch ist nicht bekannt, ob ein SBP unter 120 mmHg das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse (wie Herzinsuffizienz, ischämischer Schlaganfall und KHK) tatsächlich senkt. Die ARIC (Atherosclerosis Risk in Community)-Studie ist eine longitudinale Kohortenstudie, in der die Ursachen von Atherosklerose und kardiovaskulären Erkrankungen erforscht werden. In der ARIC-Studie wurde unter anderem der Zusammenhang zwischen SBP und der Entwicklung kardialer Ereignisse wie Myokardinfarkt, Herzinsuffizienz, ischämischem Schlaganfall und KHK-bedingtem Tod untersucht. Ziel der ARICAutoren war es herauszufinden, was der optimale Blutdruckbereich ist, der bei Hypertonikern mit der geringsten Rate an kardiovaskulären Ereignissen assoziiert ist. Die Hypothese der Untersucher lautete, dass bei Patienten mit behandeltem oder unbehandeltem Bluthochdruck die Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse sich entsprechend
der SBP-Werte unterscheiden würde, wobei ein SBP von 140 mmHg oder höher oder von 120 mmHg bis 139 mmHg mit einem höheren Risiko kardiovaskulärer Ereignisse einherginge als ein SBP von unter 120 mmHg.
Fast 4500 Hypertoniker, drei Blutdruckklassen Die Wissenschaftler berücksichtigten bei ihrer Analyse 4480 Teilnehmer der ARIC-Studie, die zu Beginn der Studie (1987–1989) einen Bluthochdruck, aber keine manifeste kardiovaskuläre Erkrankung aufwiesen. Die SBP-Werte wurden zu Beginn der Studie sowie bei den 3-mal jährlich stattfindenden Kontrollterminen gemessen. Der SBP wurde als zeitabhängige Variable behandelt und folgendermassen kategorisiert: O erhöht (≥140 mmHg) O Standard (120–139 mmHg) O niedrig (<120 mmHg).
Bei den multivariaten Cox-Regressionsmodellen wurden die Parameter Alter zu Beginn der Studie, Geschlecht, Diabetesstatus, Body-Mass-Index (BMI), hohe Cholesterinspiegel, Raucherstatus sowie Alkoholkonsum berücksichtigt. Hauptzielkriterium war ein kombinierter Endpunkt aus kardiovaskulären Ereignissen (Herzinsuffizienz, ischämischer Schlaganfall, Myokardinfarkt oder KHK-bedingter Tod).
Kein besseres ereignisfreies Überleben bei niedrigem SBP Nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 21,8 Jahren hatten die Untersucher insgesamt 1622 kardiovaskuläre Ereignisse registriert. Teilnehmer mit erhöhtem SBP erlitten signifikant häufiger kardiovaskuläre Ereignisse als Teilnehmer mit niedrigem Blutdruck (adjustierte Hazard-Ratio [HR]: 1,46; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,26–1,69). Jedoch konnte kein Unterschied hinsichtlich des kardiovaskulär ereignisfreien Überlebens der Gruppe mit Standard-SBP im Vergleich zur Gruppe mit niedrigem SBP festgestellt werden (adjustierte HR: 1,00; 95%-KI: 0,85–1,17). Eine weitere Adjustierung auf blutdruckrelevante Medikamente oder diastolischen Blutdruck beeinflusste die Ergebnisse nicht signifikant. Bei Hypertonikern sind erhöhte SBP mit dem höchsten Risiko für kardio-
ARS MEDICI 21 I 2014 1069
STUDIE REFERIERT
Kasten:
Amerikanische Hypertonie-Leitlinie: systolischer Schwellenwert für Senioren jetzt 150 mmHg
Mehr als 20 Jahre lang haben die US-amerikanischen JNC (Joint National Committee)-Leitlinien (einschliesslich der JNC-7-Guideline) empfohlen, ab Blutdruckwerten von 140/90 mmHg mit einer antihypertensiven Therapie zu beginnen; darüber hinaus wurden in JNC-7 140/90 mmHg auch als Zielwert für Personen ohne Diabetes oder chronische Nierenerkrankung definiert. Die 2014 erschienene JNC-8-Guideline empfiehlt einen höheren systolischen Blutdruckwert (150 mmHg), ab dem bei Erwachsenen ab 60 Jahren antihypertensiv behandelt werden soll. Amerikanische Wissenschaftler haben anhand von Daten aus den National Health and Nutrition Examination Surveys (NHANES) der Jahre 2005 bis 2010 nun geschätzt, für wie viele US-Amerikaner dieser neue systolische Schwellenwert zutrifft.
29,4 Prozent der unbehandelten älteren Erwachsenen wiesen systolische Blutdruckwerte auf, die über dem JNC-7-Schwellenwert von 140 mmHg lagen. Dieser Prozentsatz sank auf 16,3 Prozent, wenn man den JNC-8-Schwellenwert von 150 mmHg zugrunde legte.
Von den behandelten älteren Erwachsenen hatten 36,3 Prozent systolische Blutdruckwerte über dem 140-mmHg-Schwellenwert; dieser Anteil sank auf 20,5 Prozent, wenn man den Schwellenwert bei 150 mmHg ansetzte. Insgesamt zeigten 13,1 Prozent der unbehandelten und 15,8 Prozent der behandelten Teilnehmer einen systolischen Blutdruck von 140–149 mmHg. Diese Prozentsätze waren bei Männern und Frauen und auch bei Teilnehmern ohne Diabetes oder chronische Nierenerkrankung ähnlich.
Gemäss der neuen JNC-8-Leitlinie müssen nun viele ältere US-Amerikaner nicht mehr antihypertensiv behandelt werden. Dennoch bleibt es auch unter der neuen Leitlinie eine grosse Herausforderung, die Blutdruckziele zu erreichen. Wie oben aufgezeigt, ist der Anteil älterer Menschen mit einem systolischen Blutdruck von 150 mmHg oder mehr grösser als der Prozentsatz an älteren Personen mit einem systolischen Blutdruck zwischen 140 und 149 mmHg. Bis Daten zum Nutzen eines geringeren systolischen Schwellenwerts vorliegen, sollte sich die Therapie bei älteren Menschen auf diejenigen konzentrieren, die einen systolischen Blutdruck von 150 mmHg oder höher aufweisen.
Shimbo D et al.: Prevalence and characteristics of systolic blood pressure thresholds in individuals 60 years or older. JAMA Intern Med 2014; doi:10.1001/jamainternmed.2014.2492.
Die tägliche Praxis zeigt, dass viele
Hypertoniker ihre Medikamente nicht
regelmässig einnehmen und dass bei
einem hohen Prozentsatz der Patienten
der Blutdruck nicht gut kontrolliert ist.
In der Hochdrucktherapie bringt es
nicht viel, einige Patienten aggressiv zu
therapieren, die wahrscheinlich nur
einen marginalen Nutzen von einer
straffen Blutdruckeinstellung haben,
schreibt der Kommentator und appel-
liert an die Ärzteschaft, ihre Anstren-
gungen auf alle Hypertoniker zu rich-
ten – auch auf diejenigen, die ihre
Arzttermine nicht immer pünktlich ein-
halten, sowie auf diejenigen, die auf-
grund ihrer Lebensumstände oder Be-
gleiterkrankungen ihre Medikamente
nicht immer zuverlässig einnehmen.
Traditionelle klinische Modelle werden
Patienten nicht gerecht, die Schwierig-
keiten haben, ihre Medikation einzu-
nehmen. Wir müssen ein System der
Gesundheitsversorgung entwickeln, das
die Behandlung von Hypertonikern
unterstützt, die depressiv oder sub-
stanzabhängig sind, an chronischen
Schmerzen leiden oder die aufgrund
anderer Lebensumstände ihre Blut-
druckzielwerte nicht erreichen, fordert
der Kollege. Dann würden die Chancen
steigen, hypertoniebedingte Komplika-
tionen wie Schlaganfälle, Herzerkran-
kungen und Nierenversagen zu redu-
zieren (2).
O
vaskuläre Ereignisse assoziiert. Wenn der SBP auf Werte unter 140 mmHg gesenkt ist, scheint eine weitere Senkung des SBP auf unter 120 mmHg der vorliegenden Studie zufolge das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse nicht weiter zu reduzieren (1).
Kommentar: Die richtigen Patienten angemessen behandeln Die genannten Befunde der ARIC-Studie passen nicht so ganz zu epidemiologischen Daten, die einheitlich auf einen linearen Zusammenhang zwischen stei-
genden systolischen Blutdruckwerten und zunehmenden kardiovaskulären Ereignisraten hinweisen, heisst es in einem Kommentar zur Studie (2). Offensichtlich sind niedrigere Blutdruckwerte doch nicht immer besser. Dafür sprechen auch die Ergebnisse aktueller randomisierter kontrollierter Studien (RCT), welche in den 2014 veröffentlichten JNC-8-Leitlinien berücksichtigt wurden und welche die Anhebung der systolischen Blutdruckzielwerte bei Personen ab 60 Jahren rechtfertigen (siehe Kasten).
Andrea Wülker
Interessenkonflikte: keine deklariert
Quellen: 1. Rodriguez CJ et al.: Systolic blood pressure levels
among adults with hypertension and incident cardiovascular events. The Atherosclerosis Risk in Community Study. JAMA Intern Med 2014; doi:10.1001/jamainternmed.2014.2482. 2. James PA: Let’s prioritize the right care for the right patients with hypertension. JAMA Intern Med 2014; doi:10.1001/jamainternmed.2014.1000.
1070 ARS MEDICI 21 I 2014