Transkript
Schulung für Schmerzpatienten
Raus aus der Passivität
FORTBILDUNG
Viele ältere Menschen mit chronischen Schmerzen des Bewegungsapparats sehen in erster Linie körperliche Einflussfaktoren als Ursache ihrer Beschwerden an. Dabei können auch psychosoziale Belastungsfaktoren eine wichtige Rolle spielen. Ein neues Schulungskonzept ermöglicht es auch Senioren und Hochbetagten, diese Einflüsse zu erkennen und so einen besseren Umgang mit dem Schmerz zu erlernen.
MARION DUNKEL
Als chronische Schmerzen werden Schmerzzustände bezeichnet, welche drei bis sechs Monate und länger anhalten (6). Im Gegensatz zum Akutschmerz zeichnen sich chronische Schmerzzustände durch eine Umgewichtung der beeinflussenden Faktoren aus (4). Diese sind im biopsychosozialen Schmerzmodell berücksichtigt (6) und legen eine fachübergreifende, interdisziplinäre Vorgehensweise nahe (3, 5).
Häufige Krankheitsvorstellungen In weit verbreiteten Krankheitsvorstellungen werden beispielsweise Schmerzen als ein ausschliesslich lokales Geschehen eingeschätzt, welches auf rein körperliche Faktoren beschränkt bleibt. Daher stehen viele Patienten möglichen psychosozialen Einflussfaktoren eher skeptisch gegenüber (2).
Merksätze
O Als chronische Schmerzen werden Schmerzzustände bezeichnet, welche drei bis sechs Monate und länger anhalten.
O Chronische Schmerzzustände sind gekennzeichnet durch eine Umgewichtung der beeinflussenden Faktoren und erfordern eine fachübergreifende, interdisziplinäre Vorgehensweise.
O Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit durch eigene Aktivität sind den Betroffenen oftmals nicht bewusst.
O Mithilfe von Schulungen können sich Patienten für das biopsychosoziale Modell öffnen und eigene Schmerzzustände sowie deren Einflussfaktoren wahrnehmen und beeinflussen lernen.
Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit durch eigene Aktivität sind den Betroffenen oftmals nicht bewusst. Sie erwarten Behandlungen und zeigen sich in ihrer Einstellung eher passiv. Häufig werden viele Kontakte zum Gesundheitssystem veranlasst. Wenn der Chronifizierungsprozess dadurch nicht verhindert werden kann, verschlechtert sich möglicherweise der gesundheitliche Zustand der Patienten. Um diesen Prozess aufzuhalten oder umzukehren, können Schulungen zu chronischen Schmerzen und zum Umgang mit ihnen hilfreich sein (2).
Schulungskonzept Um Patienten Informationen zu vermitteln, haben sich Schulungen beziehungsweise Edukationen bewährt (2). Diese Massnahmen bezwecken, ursprüngliche Vorstellungen und Überzeugungen der Patienten bezüglich Schmerzen zu erweitern und zu verändern (vgl. Tabelle 1). Mit Hilfe von Schulungsinhalten können sich Patienten für das biopsychosoziale Modell öffnen und eigene Schmerzzustände sowie deren Einflussfaktoren wahrnehmen und beeinflussen lernen. Dadurch lässt sich ein neues Verständnis für die Zusammenhänge der eigenen Schmerzverarbeitung entwickeln. Beispielsweise können Gefühle von Niedergeschlagenheit als schmerzverstärkend empfunden werden, Freude und Ablenkung als schmerzhemmend. Sind neue Zugangswege und Strategien im Umgang mit Schmerzen gefunden, verringern sich nach eigener Erfahrung häufig Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit.
Beispiel aus der Praxis Eine 84-jährige Patientin mit chronischen, dumpf brennenden Rückenschmerzen stellt sich vor. Die Schmerzen zeigen sich besonders intensiv nach dem Aufstehen. In der Anamnese berichtet sie von einer Bandscheibenoperation vor 15 Jahren. Eine akute Operationsindikation besteht derzeit nicht. Zusätzlich zu den medikamentösen Verfahren und medizinischen Untersuchungen äussert die Patientin Interesse an nicht medikamentösen Therapieansätzen. In einer Einzelschulung lernt sie die Unterschiede zwischen akuten und chronischen Schmerzen wie auch die ganzheitliche Schmerzverarbeitung kennen. Daher erkennt sie nun, dass es körperlich induzierte wie auch «seelische» Schmerzanteile gibt. Mit dem Begriff «seelischer Schmerz» beginnt sie, eigene schwierige Lebensumstände zu assoziieren. Sie achtet vermehrt auf sich und nimmt immer häufiger wahr, wann ihre Rückenschmerzen zu- und abnehmen. Sie erkennt unter anderem das Gefühl von Einsamkeit als Auslöser für die Verstärkung der Rückenschmerzen. Daher
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Mögliche Veränderungen der Einstellung zu chronischen Schmerzen mithilfe von Schulungen
Befinden Krankheitsvorstellung
Botschaft Schmerzmanagement
Therapievorstellung Intervention Ziel
Häufige Merkmale von Patienten mit chonischen Schmerzen Mögliche Ausrichtungen bei einer Schulung
Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit
Selbstwirksamkeit, dadurch Stimmungsaufhellung
somatisch orientierte Krankheitsvorstellung, Fokus auf schmerzortnahen Bereich
Öffnung für das biopsychosoziale Krankheitsmodell, Fokus zusätzlich auf schmerzortferne bzw. psychosoziale Faktoren
«Nimm meinen Schmerz, ich schaffe es nicht alleine.» «Ich möchte etwas für mich tun, um den Schmerz günstig beeinflussen zu lernen.»
Keine Eigenverantwortlichkeit im Umgang mit Schmerzen, Einflussnahme von Stress und Stimmungslage wird nicht erkannt.
Übernahme einer Teilverantwortung im Umgang mit Schmerzen, Einflussnahme von Stress und Stimmungslage wird erkannt.
«passive» Behandlungswünsche
Verbesserung der Eigenaktivität
häufige Beanspruchung des Gesundheitssystems
Umsetzung eines Eigenübungsprogramms in den Alltag
Schmerzfreiheit
Wohlbefinden und Aktivität mit Schmerzen (1)
Tabelle 2:
«Goldene Regeln chronischer Schmerzen» und Schmerzverarbeitung
Aussagen der «Goldenen Regeln»
Wirkung auf Schmerzverarbeitung
«Bei chronischen Schmerzen sind im Vergleich zum Akutschmerz noch zusätzliche Faktoren beteiligt.»
Öffnung für biopsychosoziales Modell
«Der Schmerz sitzt nicht nur da, wo es wehtut, sondern im gesamten Organismus und beinhaltet dadurch körperliche und seelische Anteile.»
Öffnung für biopsychosoziales Modell
«Der chronische Schmerz neigt dazu, immer mehr zu werden.»
Abbau von Vermeidungsstrategien und Bewegungsangst
«Die eigene Schmerzhemmung kann den Schmerz schrittweise lindern beziehungsweise in den Hintergrund treten lassen.»
Aufmerksamkeitslenkung, Verfeinerung der Wahrnehmung, Selbstwirksamkeit
«Der Schmerz kann dann günstig reagieren, wenn man das tut, was guttut.»
Aufmerksamkeitslenkung, Verfeinerung der Wahrnehmung, Selbstwirksamkeit
«Der Umgang mit chronischen Schmerzen erfordert ein gewisses Masshalten an Arbeit und körperlicher Bewegung. Dieses Mass ist individuell zu erspüren.»
Überprüfung von Durchhalte- und Vermeidungsstrategien
«Massnahmen zur Entlastung können dazu beitragen, einen hohen Schmerz- und Belastungsschmerz zu verändern.»
Verfeinerung der Wahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Überprüfung von Durchhaltestrategien
«Wer erkennt, welche Massnahmen sich günstig auf den Schmerz auswirken, kann die Schmerzverarbeitung Schritt für Schritt günstig beeinflussen lernen.»
Selbstwirksamkeit, Verringerung des Gefühls der Hilf- und Hoffnungslosigkeit
«Scheinbar unbedeutende Massnahmen haben in häufigen und regelmässigen Wiederholungen auf chronische Schmerzen oftmals mehr Effekt als grosse Behandlungen.»
Selbstwirksamkeit, Verringerung des Gefühls der Hilf- und Hoffnungslosigkeit
entschliesst sie sich, an einer Seniorengruppe teilzunehmen. Der Patientin macht es sichtlich Freude, neue Gesprächspartner zu finden. Darüber hinaus erarbeitet sie mit einer Physiotherapeutin einige stabilisierende und kräftigende Übungen, die sie bereits im Liegen vor dem Aufstehen am Morgen
selbstständig durchführt. Dadurch hätten die Dauerschmerzen am Rücken ihrer Meinung nach abgenommen, und die Schmerzverstärkungen vorwiegend am Morgen seien weniger intensiv geworden.
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FORTBILDUNG
Kasten:
«Goldene Regeln chronischer Schmerzen»
1. Akute und chronische Schmerzen unterscheiden sich. Wenn eine heisse Herdplatte angefasst wird, entsteht ein akuter Schmerz, der üblicherweise ausheilt. Warum heilt ein chronischer Schmerz nicht aus? Es scheinen also bei der Entstehung chronischer Schmerzen – im Vergleich zum Akutschmerz – noch weitere Faktoren eine Rolle zu spielen. «Es sind bei chronischen Schmerzen im Vergleich zum Akutschmerz noch weitere Einflussfaktoren beteiligt.»
2. Die Schmerzverarbeitung ist ganzheitlich, also körperlich und seelisch. Viele Erkrankungen sind beschreibbar als Verschleiss von Körpergewebe oder Verminderung von dessen Funktionen. Gerade im fortgeschrittenen Alter gibt es viele körperliche Ursachen, die Schmerzen auslösen können. Die Weiterleitung von Schmerzen erfolgt durch den gesamten Körper bis in das Gehirn. Hier finden viele Verknüpfungen mit Gefühlszentren statt, die weit weg vom Schmerzort liegen. «Der Schmerz sitzt nicht nur da, wo es wehtut, sondern im gesamten Organismus und beinhaltet dadurch körperliche und seelische, also auch schmerzortferne Anteile.»
3. Die Empfindlichkeit des Schmerzsystems wird gesteigert. Eine Schmerzattacke muss nicht zwangsläufig mit einer Verschlimmerung der Grunderkrankung einhergehen. Sie wäre auch allein dadurch zu erklären, dass eine ausgeprägte Empfindlichkeitssteigerung des schmerzfördernden Systems vorliegt. «Der chronische Schmerz neigt dazu, immer mehr zu werden.»
4. Das schmerzfördernde System kann durch die Schmerzhemmung beeinflusst werden. Auch unerträgliche Schmerzen können auf die eigene Schmerzhemmung reagieren. Es ist nur die Frage, über welche Massnahmen die Schmerzhemmung zur Wirkung kommt. «Die Schmerzhemmung kann den Schmerz schrittweise lindern beziehungsweise in den Hintergrund treten lassen.»
5. Bestimmte Massnahmen wirken auf den Schmerz hemmend. Wenn wir Schmerzen unbedingt hemmen wollen, dann legen wir die Aufmerksamkeit auf den Bereich Schmerz. Der Schmerz wird uns selten den Gefallen tun, sich in diesem Moment zu verringern. Eine Verringerung der Schmerzen geht eher über die «Hintertür», indem wir den Fokus vom Schmerz wegnehmen und etwas tun, was uns wirklich gut tut und womit es uns wohlergeht.
«Der Schmerz kann dann günstig reagieren, wenn man das tut, was guttut, und damit nicht mehr so sehr auf den Schmerz achtet.»
6. Arbeit und Bewegung können sich auf die Schmerzstärke günstig und ungünstig auswirken. Um Schmerzen günstig zu beeinflussen, erfordert es offensichtlich ein individuelles Mass an Bewegung, das bei jedem Betroffenen unterschiedlich ist. Ein «Zuviel», aber auch ein «Zuwenig» an Arbeit oder Bewegung kann sich auf die Schmerzen ungünstig auswirken. «Der Umgang mit chronischen Schmerzen erfordert ein gewisses Masshalten hinsichtlich Arbeit und körperlicher Bewegung. Dieses Mass ist individuell zu erspüren.»
7. Überlastungen können eine Schmerzverstärkung und Schmerzattacken hervorrufen. Angenommen, die Schmerzen belasten Sie sehr stark – was können Sie tun, um den Belastungsspiegel zu senken? Wie würden Massnahmen zur Entlastung wirken? Wie könnten Sie sich entlasten? «Massnahmen zur Entlastung können dazu beitragen, einen hohen Schmerz- und Belastungszustand zu verändern.»
8. Der Prozess der Chronifizierung kann umgekehrt werden. Viele Faktoren wirken auf das Schmerzsystem ein und lassen Schmerzen nicht mehr ausheilen beziehungsweise diese immer wieder aufkommen (Beispiel: Empfindlichkeitssteigerung und seelische Schmerzanteile). Auch Abnutzungserscheinungen oder krankhafte Beeinträchtigungen spielen eine Rolle. Wie müsste sich Ihrer Meinung nach zum Beispiel Ihre Stimmung verändern, damit sie sich günstig auf den Schmerz auswirkt? «Wer erkennt, welche Massnahmen sich günstig auf den Schmerz auswirken, kann die Schmerzverarbeitung günstig beeinflussen lernen.»
9. «Kleine« Massnahmen können bei regelmässiger Anwendung eine grosse und andauernde Wirkung haben. Chronische Schmerzen reagieren oftmals gut auf «kleine» Massnahmen. Es sind also eher die kleinen und steten Tropfen, die den Stein höhlen. «Scheinbar unbedeutende Massnahmen haben in häufigen und regelmässigen Wiederholungen oftmals mehr Effekt auf chronische Schmerzen als grosse Behandlungen.»
Die «Goldenen Regeln chronischer Schmerzen»
Für eine Schmerzschulung in einfachen Worten wurde das
Konzept der «Goldenen Regeln chronischer Schmerzen» ent-
wickelt (vgl. auch Tabelle 2). Zusammenhänge sowie Gesetz-
mässigkeiten über die Entstehung, die Aufrechterhaltung und
die Linderung chronischer Schmerzen werden leicht ver-
ständlich dargelegt.
Diese Regeln (vgl. Kasten), die hier in stark verkürzter Form
dargestellt sind, können Impulse für das therapeutische Ein-
zelgespräch mit älteren Patienten setzen. Sie eignen sich auch
als Schulungsgrundlage für Kleingruppen.
O
Dr. med. Marion Dunkel DEAA, MA Adolores – Praxis für Schmerz- und Stressbewältigung D-91058 Erlangen
Interessenkonflikte: keine deklariert
Literatur: 1. Dunkel M, Kramp M: Multimodale Schmerztherapie – Implementierung eines Prozess-
managements. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2012; 47: 504–510. 2. Nobis HG, Pielsticker A: Ärztliche Edukation und Kommunikation in der primären
Schmerzbehandlung. Schmerz 2013; 27: 317–324. 3. Fritsche G, Frettlöh J: Interdisziplinarität in der Behandlung chronischer Schmerzen.
In: Diener HC, Maier C (Hrsg) Die Schmerztherapie. Interdisziplinäre Diagnose- und Behandlungsstrategien, 3. Aufl. 2009: Elsevier, München/Jena. 4. Kröner-Herwig B: Schmerz – eine Gegenstandsbeschreibung. In: Kröner-Herwig B et al. (Hrsg) Schmerzpsychotherapie, 6. Aufl. 2009: Springer, Heidelberg. 5. Pfingsten M: Psychotherapeutische und psychologische Verfahren: Multimodale Verfahren. In: Baron R, Strumpf M (Hrsg) Praktische Schmerztherapie. 2007: Springer, Heidelberg. 6. Treede RD: Entstehung der Schmerzchronifizierung. In: Baron R, Strumpf M (Hrsg) Praktische Schmerztherapie. 2007: Springer, Heidelberg.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 16/2013. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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