Transkript
FORTBILDUNG
Schmerzhafte diabetische Neuropathie
Zu oft nicht erkannt, zu oft nicht adäquat behandelt
Schmerzhafte Neuropathien sind eine häufig Diabeteskomplikation mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen. Die diabetische sensomotorische Polyneuropathie muss aktiv gesucht werden. Zur Therapie stehen heute verschiedene Medikamente mit nachgewiesener Wirksamkeit zur Verfügung.
BMJ
Zusammen mit der Zunahme von Diabeteserkrankungen werden auch schmerzhafte diabetische Neuropathien zunehmen. Bei Typ-2-Diabetes treten Symptome der sensomotorischen Neuropathie im Verlauf früher auf als bei Typ-1Diabetes. Schon bei Diagnosestellung haben 8 Prozent der Typ-2-Diabetikerinnen und -Diabetiker eine Neuropathie. Wenig überraschend hat die schmerzhafte diabetische
Merksätze
O Die schmerzhafte diabetische Neuropathie wird unterdiagnostiziert und daher auch unterbehandelt.
O Diabetes kann verschiedene Muster von Nervenschädigung hervorrufen, wovon das distale symmetrische Muster am häufigsten ist.
O Es existieren verschiedene diagnostische Untersuchungen zur Bestätigung einer Neuropathiediagnose, einschliesslich Messungen der Nervenleitungsgeschwindigkeit für dicke Fasern und Hautbiopsien für dünne Fasern.
O Eine strikte Glykämiekontrolle vermindert die Inzidenz einer Neuropathie bei Typ-1-Diabetes effektiver als bei Typ-2-Diabetes.
O Zur Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie gibt es mehrere effektive Medikamente, insbesondere Antiepileptika (Kalziumkanalhemmer), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und trizyklische Antidepressiva.
O Erzielen diese einzeln oder in Kombination keine ausreichende Symptomkontrolle, kommen Opioide zum Einsatz.
Neuropathie im Vergleich zur schmerzlosen Form einen negativen Einfluss auf die körperliche und mentale Lebensqualität. Von den Betroffenen werden die Schmerzen meist als brennend, elektrisch oder stechend beschrieben. Weitere häufige Symptome sind Allodynie (Schmerz auf harmlose Stimuli) sowie Hyperalgesie (erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Schmerz).
Diagnose Die diabetische sensomotorische Neuropathie ist gekennzeichnet durch symmetrische Taubheit, Parästhesien oder Schmerzen in den distalen unteren Extremitäten, die allein oder in Kombination auftreten können. Bei der Untersuchung können sockenförmige Sensibilitätseinbusse, beeinträchtigter Vibrationssinn und gestörte Stellungsempfindung in den Zehen, abgeschwächter oder fehlender Achillessehnenreflex, Schwäche oder Atrophie der intrinsischen Fussmuskulatur mit konsekutiven Fussfehlstellungen auffallen. Die Symptome und Ausfälle breiten sich zentripetal aus und folgen weder einzelnen Nerv- noch Dermatomarealen. In der letzten Dekade haben verschiedene Konsensusgremien Definitionen der diabetischen Neuropathie entworfen. Sie heben hervor, dass die Wahrscheinlichkeit für diese Diagnose mit der Zahl der typischen Symptome und Untersuchungsbefunde steigt. Eine Sicherung der Diagnose kann mittels Nervenleitungsmessungen zur Dokumentation einer Schädigung der dicken Nervenfasern und mittels Hautbiopsie zur Dokumentation einer Schädigung der dünnen Nervenfasern erfolgen. Letztere stellt einen eigenen Phänotyp der schmerzhaften diabetischen Neuropathie dar, bei dem dünne myelinisierte und nicht myelinisierte Fasern betroffen sind, was sich im Syndrom der brennenden Füsse äussert. Andere Subtypen umfassen die asymmetrische diabetische lumbosakrale Radikuloplexus-Neuropathie, die Mononeuropathie (Karpaltunnelsyndrom), die behandlungsinduzierte Neuropathie nach Beginn einer blutzuckersenkenden Therapie mit Insulin oder oralen Antidiabetika sowie die Mononeuritis multiplex. Die Diagnostik stellt auf die klinischen Symptome und Befunde ab und sollte durch eine standardisierte Messmethode ergänzt werden. Dies kann eine Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit und -amplitude sein oder die Messung der Empfindlichkeit auf Druck und leichte Berührung mittels graduierter Monofilamente. Eine quantifizierte Messung der nicht myelinisierten Nervenfasern ist in der Biopsie von behaarter Haut der unteren Extremitäten, diejenige der myeliniserten Nervenfasern in der Biopsie von glatter Haut der Hand- oder Sohlenflächen möglich.
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Aus Patientensicht wichtige Outcomes in der Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie sind Schmerzreduktion, Nebenwirkungen der Medikamente und die Lebensqualität. Für die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist die Schwere der Symptome massgebender als die elektrophysiologischen Parameter oder die Befunde der körperlichen Untersuchung. Der Schmerz hat über Schlafqualität, Stimmung, Energie und Mobilität einen Einfluss auf die Lebensqualität, die sensomotorische Neuropathie führt aber auch über gestörtes Gleichgewicht, verminderte Mobilität und gehäufte Stürze zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität.
Präventive therapeutische Ansätze Die Behandlung der diabetischen sensomotorischen Neuropathie ist vorwiegend präventiv und symptomorientiert. Zur Verzögerung des Auftretens und der Progression einer Neuropathie stützt sich die Vorbeugung hauptsächlich auf die Therapie des zugrunde liegenden Diabetes. Verschiedene grosse Studien haben gezeigt, dass eine Intensivierung der Glykämiekontrolle das Auftreten einer Polyneuropathie bei Typ-2-Diabetikern in geringem Mass verzögern kann. Allerdings war dieser Effekt in einer Metaanalyse nicht statistisch signifikant. Diese steht in Gegensatz zu mehreren Studien bei Typ-1-Diabetikern, die einen grossen, statistisch signifikanten präventiven Nutzen hinsichtlich des Auftretens einer Neuropathie durch aggressive Glykämiekontrolle belegen konnten. Eine dieser Untersuchungen, die DCCT-Studie, fand zudem Hinweise auf ein «metabolisches Gedächtnis», da Patienten, die ursprünglich zu einer intensivierten Behandlung randomisiert worden waren, auch noch Jahre später eine geringere Inzidenz von diabetischen sensomotorischen Neuropathien und mikrovaskulären Komplikationen aufwiesen als die Teilnehmer der konventionell behandelten Gruppe, die erst nach Studienende ebenfalls eine intensivierte Therapie erhielten. Für die Neuropathie betrug die relative Risikoreduktion durch die intensivierte Therapie 64 Prozent (Konfidenzintervall 45–76%). Da kompressive Mononeuropathien bei Patienten mit Diabetes häufig auftreten, sind verschiedenste chirurgische Entlastungseingriffe propagiert worden. Die Datenlage dazu ist jedoch dünn, plazebokontrollierte Studien fehlen. Aus nicht randomisierten Studien scheint hervorzugehen, dass Entlastungseingriffe beim Karpaltunnelsyndrom und Ulnariskompression am Ellbogen eine signifikante Besserung bringen.
Schmerztherapie Bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie kommen hauptsächlich drei Wirkstoffklassen in Betracht: Antiepileptika, Antidepressiva mit Hemmung der Noradrenalinwiederaufnahme sowie unspezifische Analgetika inklusive Opioide (Kasten). Antiepileptika: Gabapentin und Pregabalin haben einen ähnlichen Wirkungsmechanismus, indem sie an Kalziumkanäle im Hinterhorn binden und dort die Neurotransmitterausschüttung hemmen. Die Wirksamkeit dieser beiden Antiepileptika ist mit einer «number needed to treat» (NNT) von 3,9 bis 4,2 vergleichbar. Die meisten anderen Antiepileptika zeigten bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie nur einen beschränkten Nutzen.
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Kasten:
Bei neuropathischem Schmerz eingesetzte Medikamente
Wirkstoffe
Antiepileptika Pregabalin Gabapentin Carbamazepin Oxcarbazepin Natriumvalproat/Valproinsäure Lamotrigin Lacosamid
Wirksamkeit in plazebokontrollierten Studien nachgewiesen
—
ja
— —
ja
Markennamen in der Schweiz
Lyrica® Neurontin® oder Generika Carsol® CR, Tegretol®, Timonil® Trileptal® Convulex®, Depakine® Chrono oder Generika Lamictal® oder Generika Vimpat®
Antidepressiva Duloxetin Venlafaxin Amitriptylin Nortriptylin Imipramin Milnacipran
— Cymbalta® — Efexor® ER ja Saroten® Retard — Nortrilen® — Tofranil®
——
Opioide und andere Tapentadol Oxycodon Morphin Tramadol Alpha-Liponsäure Capsaicincreme/-pflaster Lidocainpflaster
— Palexia® ja Oxycontin®, in Targin® ja MST® Continus® oder Generika ja Tramal® oder Generika ja Lifestylepräparate im OTC-Bereich
Isola® Capsicum N, QutenzaTM Neurodol® Tissugel
Topiramat war in einer Phase-II-Studie vielversprechend, erwies sich in einer Phase-III-Studie aber als nicht wirksam. Plazebokontrollierte Studien mit Oxcarbazepin, Lamotrigin und Lacosamid kamen zu widersprüchlichen Ergebnissen, für Carbazepin gibt es keine plazebokontrollierten Studien. Für Valproinsäure zeigten zwei methodologisch umstrittene Studien zwar eine Wirkung, aber das Sicherheitsprofil spricht gegen einen breiten Einsatz bei neuropathischen Schmerzen. Antidepressiva: Für Wirkstoffe mit Noradrenalinwiederaufnahmehemmung konnte konsistent ein Nutzen bei der schmerzhaften diabetischen Neuropathie nachgewiesen werden. Hier liegt die NNT für eine 50-prozentige Schmerzreduktion zwischen 2,1 und 5,5. Trizyklika haben den Vorteil der täglichen Einmaldosierung, können aber störende Nebenwirkungen hervorrufen. Die neueren Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Venlafaxin und Duloxetin sind bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie ebenfalls wirksam (Kasten). Unspezifische Analgetika/Opioide: Opioide besitzen bei
schmerzhafter diabetischer Neuropathie ebenfalls eine bekannte Wirksamkeit, die für Oxycodon, Morphin, Tramadol und Tapentadol auch in plazebokontrollierten Studien dokumentiert ist. Hier ist eine sorgfältige Behandlungskontrolle und -dokumentation notwendig. Zu den Nachteilen gehören Entzugssymptome bei Absetzen und das Missbrauchrisiko. Alpha-Liponsäure, ein potenter Radikalenfänger, kann gemäss einem systematischen Review die diabetische Neuropathie und den Schmerz bessern. In den Studien war Schmerz jedoch kein präspezifizierter Endpunkt und der Effekt auf die Schmerzkontrolle nur mässig. Für die topischen Therapien fehlen plazebokontrollierte Studien. Lokal applizierbares Capsaicin wirkt gegen neuropathischen Schmerz, viele Patienten tolerieren es jedoch wegen des initialen Schmerzes bei der Applikation nicht. Lidocainpflaster sind eine Option bei lokal umschriebenen Schmerzherden. Topische Schmerztherapien haben besonders bei Patienten mit multiplen medizinischen Problemen Vorteile, da weniger Interaktionen auftreten.
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Nichtpharmakologische Therapien: Zwei randomisierte Studien fanden, dass körperliches Training den Schmerz bei prädiabetischer Neuropathie und die diabetische sensomotorische Neuropathie besserte und auch die Nervenfaserdichte in Hautbiopsien anhob. Vorderhand bleibt aber unklar, welches die optimale Trainingsintensität ist. Die American Diabetes Association empfiehlt 150 Minuten pro Woche kombiniertes Ausdauer- und Belastungstraining. Bei schmerzhaften diabetischen Neuropathien sind ausserdem transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), elektromagnetische Stimulation, Rückenmarkstimulation, tiefe Hirnstimulation, niedrig dosierte Lasertherapie und Massage ohne eindeutig nachgewiesene Wirksamkeit versucht worden. Für Akupunktur fehlen plazebokontrollierte Studien. Die verfügbare Evidenz stützt den Einsatz von Kalziumkanalhemmern, Serotonin-Noradrenalin-Hemmern und Trizyklika als Firstline-Medikamente bei neuropathischem
Schmerz. Opioide kommen in Betracht, wenn die First-Line-
Medikamente allein oder in Kombination nicht zu ausrei-
chender Schmerzkontrolle führen. Kaum Evidenz gibt es hin-
gegen zum Vergleich dieser Behandlungsstrategien oder zum
konkreten Behandlungsalgorithmus. Die meisten Studien
dauerten nur Monate, über Langzeiteffekte ist wenig
bekannt. Dringend wären auch Absetzstudien und Studien
zur Kosteneffektivität, die zukünftig mit steigenden Patien-
tenzahlen mehr Gewicht erhalten wird.
O
Halid Bas
Peltier A et al.: Painful diabetic neuropathy. BMJ 2014; 348: g1799.
Interessenlage: Zwei Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte, ein Autor hat Forschungsgelder von Impeto Medical (Produkte zur Diabetesdiagnostik) erhalten.
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