Transkript
FORTBILDUNG
Komplexes regionales Schmerzsyndrom
Nach einer Fraktur, einer Verletzung des Weichgewebes oder einem chirurgischen Trauma kann sich ein komplexes regionales Schmerzsyndrom entwickeln. Zur Diagnose werden die klinischen «Budapest»-Kriterien der International Association for the Study of Pain (IASP) empfohlen. Die Behandlung basiert auf aktuellen Empfehlungen zum Management neuropathischer und chronischer Schmerzen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (complex regional pain syndrome, CRPS) ist durch anhaltende neuropathische Schmerzen gekennzeichnet, die meist mit sensorischen, autonomen, motorischen oder trophischen Veränderungen einhergehen. Das CRPS entwickelt sich am häufigsten nach der Verletzung eines Gelenks, wobei die zeitliche Entwicklung oder die Intensität des Schmerzes nicht dem natürlichen Regenerationsverlauf entspricht. Das CRPS wird in 2 Hauptkategorien unterteilt: Beim CRPS 1 kann keine Nervenschädigung identifiziert werden, während beim CRPS 2 nachweislich die Verletzung eines Nervs vorliegt. Zur Häufigkeit des CRPS liegen nur wenige Daten vor. In einer retrospektiven holländischen Studie von 2007 wurde eine Inzidenz von 26,2 Fällen pro 100 000 Personenjahre ermittelt. Das Verhältnis von Frauen zu Männern variierte von 3,4–4,0 zu 1, und der Inzidenzgipfel lag bei 50 bis 70 Jahren. In einer neuen prospektiven Studie wurde das CRPS bei 3,8 Prozent von 1549 Patienten innerhalb von 4 Monaten nach einer Fraktur diagnostiziert. In einer anderen prospektiven Untersuchung entwickelte sich das CRPS bei 7 Prozent von 596 Patienten im Verlauf eines Jahres nach einer Handgelenk-, Skaphoid-, Knöchel- oder Metatarsalfraktur.
Merksätze
O Das CRPS ist mit neuropathischen Schmerzen und meist mit sensorischen, autonomen, motorischen oder trophischen Veränderungen verbunden.
O Ein CRPS ist bei brennenden Schmerzen zu vermuten, deren Intensität nicht dem Ursprungstrauma entspricht oder die nach dem Heilungsprozess persistieren.
O CRPS-Patienten sollten an spezialisierte Schmerzkliniken überwiesen werden.
Klinische Merkmale Das CRPS kann sich nach einer Fraktur, einer Verletzung des Weichgewebes oder nach einem chirurgischen Trauma entwickeln. Mitunter wird es aber auch durch längere Immobilisierung, Schädigungen des ZNS (z.B. Schlaganfall) oder viszerale Läsionen (z.B. Herzinfarkt) ausgelöst. In etwa 10 Prozent aller Fälle kann kein verursachendes Ereignis identifiziert werden. Das CRPS präsentiert sich individuell sehr unterschiedlich. Als klinische Schlüsselmerkmale gelten spontane Schmerzen, vasomotorische und motorische Störungen sowie Hyperalgesie und Allodynie. Diese Charakteristika bleiben über die normale Rekonvaleszenzzeit hinaus bestehen. Sie manifestieren sich vorwiegend distal und entsprechen nicht dem jeweiligen Dermatom oder Nerventerritorium. Zu den selteneren Erscheinungsformen gehören eine Ausbreitung der Schmerzen und Missempfindungen auf andere Gelenke oder die Entwicklung von Hautulzera. Intensität und Ausprägung der Symptome verändern sich oft innerhalb kurzer Zeit. So können sich in den ersten Wochen Anzeichen wie Schmerzen, Hauterwärmung, Rötungen und Schwellungen zeigen, die später in ein anderes klinisches Bild mit Schmerzen, kalter Haut, Zyanose und Atrophie übergehen. Das Konzept der 3 Entwicklungsphasen des CRPS wird mittlerweile nicht mehr als valide erachtet. Der CRPSSchmerz ist typischerweise neuropathisch und wird vom Patienten als brennend, prickelnd, stechend, einschiessend oder als Taubheitsgefühl beschrieben. Im Gegensatz dazu wird nozizeptiver Schmerz meist als scharf oder pochend empfunden. Im Areal des CRPS können sowohl neuropathische als auch nozizeptive Schmerzanteile vorliegen, da auch eine myofasziale Schmerzkomponente vorhanden sein kann. Vasomotorische und sudomotorische Störungen manifestieren sich als Veränderungen von Hauttemperatur, -farbe und -feuchtigkeit oder über eine Ödembildung. Die betroffene Hautregion kann warm und rosa oder kalt, gefleckt und zyanotisch sein. Manchmal wirkt die Haut atrophisch und durchscheinend. Zudem kann es zu asymmetrischem Schwitzen oder Haarwuchs im Vergleich zur nicht betroffenen Körperseite kommen. Motorische Störungen manifestieren sich durch Kraftverminderung, Schwerfälligkeit beim Beginn von Bewegungen oder als Tremor, Muskelkrämpfe und Dystonie. Bei manchen Patienten kommt es auch zur Beeinträchtigung der Körperwahrnehmung oder einem mental gestörten Bild der betroffenen Körperpartie.
Natürlicher Verlauf des CRPS Zum natürlichen Verlauf des CRPS ist nicht viel bekannt. Bei 102 CRPS-Patienten aus einer holländischen Datenbank waren seit der auslösenden Verletzung durchschnittlich
ARS MEDICI 19 I 2014
977
FORTBILDUNG
Kasten:
Budapest-Kriterien zur Diagnose des CRPS (nach Fukushima)
Zur Diagnose des CRPS muss jedes der folgenden Kriterien erfüllt sein: 1. Der Patient leidet unter anhaltenden Schmerzen, die zeitlich und in ihrer Ausprägung nicht dem natürlichen Heilungsverlauf nach einem
Trauma oder einem anderen initialen Ereignis entsprechen**. 2. Der Patient leidet unter mindestens einem Symptom aus 3 der folgenden 4 Kategorien:
Sensorik: Hyperalgesie oder Allodynie Vasomotorik: Veränderungen und/oder Asymmetrien der Hautfarbe und/oder der Hauttemperatur Sudomotorik/Ödeme: Schwellungen und/oder Schweissproduktion, Veränderungen oder Asymmetrie Motorik/Trophik: Kraftminderung, Tremor, Dystonie, reduzierte Beweglichkeit und/oder trophische Veränderungen/Asymmetrien im Zusammenhang mit den Nägeln, der Haut und/oder den Haaren 3. Der Patient weist zum Untersuchungszeitpunkt mindestens ein Zeichen in 2 oder mehr der oben genannten 4 Kategorien auf. 4. Die Zeichen und Symptome können nicht besser mit einer anderen Diagnose erklärt werden***.
**Bei etwa 10 Prozent der Betroffenen kann keine verursachende Verletzung identifiziert werden. Dennoch kann ein geringfügiges auslösendes Ereignis stattgefunden haben. ***Entsprechend diesen Kriterien sind 3 Kategorien des CRPS möglich: Das CRPS 1 ohne identifizierbare Nervenschädigung und das CRPS 2 mit offensichtlicher Nervenschädigung. Ein drittes nicht näher spezifizierbares CRPS-NOS (not otherwise specified) wird Patienten zugeordnet, die zwar nicht die klinischen Kriterien des CRPS erfüllen, deren Zeichen und Symptome jedoch nicht besser durch andere Erkrankungen erklärt werden können.
5,8 Jahre vergangen. Nach Selbstauskunft der Teilnehmer waren 30 Prozent von ihnen vollständig wiederhergestellt, bei 16 Prozent verschlimmerte sich die Symptomatik weiterhin, und bei 54 Prozent blieb das CRPS stabil. Ein CRPS der oberen Extremitäten, ein anderes auslösendes Ereignis als eine Fraktur und ein «kaltes» CRPS waren mit der ungünstigsten Prognose verbunden. In der Realität könnten die klinischen Ergebnisse jedoch günstiger ausfallen, da leichte Fälle in dieser Datenbank möglicherweise nicht erfasst wurden. In einer anderen bevölkerungsbasierten Studie bildete sich das CRPS bei 55 von 74 Patienten vollständig zurück.
Wie wird das CRPS diagnostiziert? Zur Diagnose des CRPS werden derzeit die von der International Association for the Study of Pain (IASP) erarbeiteten Budapest-Kriterien empfohlen (Kasten). In einer internationalen Validierungsstudie wiesen diese klinischen Kriterien zur Unterscheidung des CRPS 1 von anderen neuropathischen Schmerzsyndromen im Umfeld von Spezialkliniken eine Sensitivität von 99 Prozent und eine Spezifität von 68 Prozent auf. Zum Nachweis des CPRS stehen keine speziellen Verfahren zur Verfügung. Einige Untersuchungen sind jedoch zum Ausschluss dieser Diagnose hilfreich. Mit einem vollständigen Blutbild, der Bestimmung des C-reaktiven Proteins, der Erythrozytensedimentationsrate und der Serumantikörper können Infektionen oder rheumatische Erkrankungen ausgeschlossen werden. Dies ist beispielsweise von Nutzen, wenn geschwollene und heisse Extremitäten auch auf eine Zellulitis oder Arthritis hinweisen könnten. Ein Duplex-Ultraschall dient dem Ausschluss tiefer Venenthrombosen oder einer peripheren arteriellen Obstruktion – beispielsweise bei einem akuten asymmetrischen Lymphödem. Die Standardradiographie kann eine fleckig erscheinende Demineralisierung des Knochens im Gelenkbereich visualisieren. Dieser Befund ist jedoch weder sensitiv noch spezifisch und somit in diesem Zusammenhang wenig aussagekräftig.
Die Ergebnisse einer Elektroneuromyographie liegen beim CRPS 1 meist im Normbereich und können beim CRPS 2 davon abweichen. Die Elektroneuromyographie sollte jedoch nicht routinemässig durchgeführt werden, weil dieses Verfahren die Schmerzen verstärken kann und die Unterscheidung zwischen den Subtypen das therapeutische Management kaum verändert.
Management des CRPS In einem aktuellen Cochrane-Review war die Evidenz zu den Behandlungsoptionen des CRPS von geringer oder sehr geringer Qualität und kann daher nicht als verlässlich erachtet werden. Bis auf leichte Fälle sollten alle CRPS-Patienten an spezielle Schmerzkliniken zur genauen Evaluierung überwiesen werden. Diese Kliniken können meist auch eine interdisziplinäre Schmerzversorgung und gegebenfalls invasive Verfahren anbieten. Zum Management anderer neuropathischer Schmerzen gelten trizyklische Antidepressiva, SerotoninNorephedrin-Wiederaufnahmehemmer sowie die Antikonvulsiva Gabapentin (Nuerontin® und Generika) und Pregabalin (Lyrica® und Generika) oder topisches Lidocain (z.B. Xylocain®) als Optionen der ersten Wahl. Diese Substanzen können auch bei Patienten mit CRPS versucht werden. In manchen klinischen Richtlinien werden auch Bisphosphonate befürwortet. Des Weiteren haben sich nichtmedikamentöse Selbsthilfemassnahmen aus dem Management anderer chronischer Schmerzerkrankungen, wie Entspannungstechniken und eine angepasste Belastungssteigerung (Pacing), als wirksam erwiesen. Anleitungen dazu werden in speziellen Patientenschulungen vermittelt.
Petra Stölting
Quelle: Fukushima FB, Bezerra DM et al.: Complex regional pain syndrome. BMJ2014; 348:g3683.
Interessenkonflikte: keine deklariert.
978
ARS MEDICI 19 I 2014