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Arsenicum – In den Eimer mit der Liste
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Rubriken — ARSENICUM
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6083
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
In den Eimer mit der Liste!

A usgerechnet in den Industrieländern wird die Angst bewirtschaftet, etwas verpasst zu haben. Bücher wie: «1000 Sachen, die Sie machen müssen» und «1000 Orte, die Sie sehen müssen» sind Bestseller. Wohlstandsverwöhnte Menschen fürchten allen Ernstes, zu kurz gekommen zu sein. Sie glauben, noch etwas nachholen zu müssen, noch nicht genug erlebt zu haben. Sie meinen, nicht alles getan zu haben, was sie tun sollten oder wollten. Deshalb quälen sich COPD-Kranke in der dünnen Luft des Jungfraujochs, weil man das als Schweizer gesehen haben muss. Darum versuchen Siebzigjährige, ein Kind zu zeugen, obwohl sie schon ein Haus gebaut und einen Baum gepflanzt haben. Im Internet gibt es Anleitungen und Vorlagen, wie man seine «Bucket List» erstellen sollte – Tausende von Dingen, die man angeblich noch tun sollte, bevor man stirbt (= to kick the bucket). Während man sich durch die Positionen klickt – zum Beispiel: «Buchen Sie ein Wochenende in einem Wellnesshotel» oder «Fangen Sie an, Golf zu spielen» –, sollen einem Bedürfnisse aufgeschwatzt werden, die man eigentlich gar nicht hat. Die meisten Sachen, die die gut situierten Wohlstandsbürger gemäss diesen Ratgebern unbedingt noch machen müssen, kosten nämlich Geld. Die Mode- und Textilbranche freut sich. Die Freizeitindustrie lässt grüssen. Die Wirtschaft steigert nur ihr Wachstum, wenn wir immer mehr kaufen. Nun wird sogar schon mit dem letzten Stündlein gedroht, um uns zu noch hektischerem Konsum zu treiben. Wobei es ja ganz sinnvoll wäre, sich mal gemütlich zu überlegen, was man immer schon machen wollte. Und sich zu fragen, warum man es eigentlich nicht gemacht hat. Kollegin Franziska zum Beispiel gestand mir kürzlich, dass sie sich immer schon die Haare wachsen lassen wollte. Jetzt, da sie nicht mehr praktiziert, tut sie es. Angesichts ihrer langen, weissen Haarpracht frage ich sie, warum sie das nicht schon vor sechzig Jahren getan habe. Damals wäre ihre Mähne rot gewesen und hätte sicher auch wunderschön ausgesehen. «Kurze Haare waren praktischer!», erklärt sie. «Und als ich die Praxis hatte, habe ich mich nicht getraut.» Warum eigentlich nicht? Wären ihre Patienten weggeblieben, wenn sie lange Haare gehabt hätte? Sicher nicht, denn sie war eine so kompetente und empathische Ärztin, dass man ihr sogar eine Irokesenbürste verziehen hätte. Auch musiziert habe sie nicht genug, schreibt sie und mailt ein Bild, auf dem sie mit vier anderen älteren Menschen Kammermusik macht. Sehr fidel sieht sie aus, wie sie da

fiedelt. Die anderen desgleichen. Und mir fällt ein, dass ich eine Stereoanlage habe und eigentlich wieder mal die Rachearie aus «Rigoletto» hören könnte. Genau das tue ich, bis mein Sohn hereinstürmt und entsetzt fragt, warum ich so huereluut sounden würde. Tja, so tönt die «tremenda vendetta» halt am schönsten. Der TTT-Moderator Moor nennt sich neu «Max». Das finde ich grossartig. Aber unser MPA-Azubi nörgelt: «Eine Namensänderung hat doch in seinem Alter keinen Zweck mehr!» Energisch widerspreche ich. «Na hör mal, Moor hat mindestens noch zwanzig Jahre vor sich. Warum sollte er die denn weiter mit dem ungeliebten Vornamen Dieter leben?» Nur weil man etwas ein wenig später macht, als man es hätte tun können, heisst das nicht, dass man es gar nicht machen soll. Better late than never … Trotzdem werde ich nicht an all die Orte fahren, die man angeblich gesehen haben muss. Mir reicht ein Reisli in ein schmuckes Dörfchen in der aargauischen Toskana, wo ich mit einer Freundin auf ihrem sonnigen Balkon eine köstliche Apfeltorte gegessen habe und von ihr erfuhr, dass ein Feldornithologe über 200 Vögel bestimmen können muss – mit Prachtkleid, mit männlichem und weiblichem Gefieder und diversen Rufen. Das Gezwitscher eines Piepmatzes auf dem Dach identifizierte sie als Zeisig-Ruf. Beeindruckt, braungebrannt, satt und erholt kehrte ich nach Hause zurück, was vermutlich beim Trekking in Papua-Neuguinea nicht der Fall gewesen wäre. Die Bucket-List-Experten werden mich auch nicht zu irgendwelchen Aktivitäten verführen, die ich bisher noch nicht vermisst habe. Wozu brauche ich Abenteuer-Trips und Lebensbalance-Seminare? Die Arbeit in der Praxis ist täglich neu – keine Simulation und kein Vergnügungspark können so spannend sein wie die facettenreiche Realität. Den Genuss-Gurus, die in TV-Werbespots streng mahnen, extra käsige Pizzas oder mega kräuterigen Kräuterfrischkäse zu kaufen und eine Kreuzfahrt zu machen, gehe ich nicht in die Falle. Mir schmeckt die leicht angebrannte Zibelewähe meiner Frau sehr gut. Aus dem bequemen Fernsehsessel heraus schauen wir uns nachher eine TV-Doku an und fallen dann todmüde in die Betten. Dieses kleine Glück ist für uns ein grosses Glück. Wenn es so bis zum Tod weitergeht, soll es mir recht sein – ich werde keine To-do- oder Bucket-Listen abarbeiten.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 19 I 2014