Transkript
FORTBILDUNG
Was tun bei Nervenschäden durch Krebstherapien?
Neue Leitlinie der ASCO zur medikamentenbedingten peripheren Neuropathie
In einem systematischen Review kamen Experten der American Society of Clinical Oncology (ASCO) zu dem Ergebnis, dass derzeit kein Medikament zur Prävention einer chemotherapieinduzierten peripheren Neuropathie (CIPN) empfohlen werden kann. Zur Behandlung sprechen die Experten lediglich für Duloxetin eine Empfehlung aus.
JOURNAL OF CLINICAL ONCOLOGY
Die CIPN gehört zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen und beeinträchtigt nachhaltig die Lebensqualität. Ihre Inzidenz wird im Zusammenhang mit Kombinationsregimen auf etwa 38 Prozent geschätzt, variiert jedoch je nach Medikament, Expositionsdauer und Evaluierung. Die CIPN führt häufig dazu, dass die Dosis der Chemotherapeutika verringert oder die Behandlung ganz abgebrochen wird. Eine interdisziplinäre Expertengruppe der ASCO hat jetzt eine evidenzbasierte Leitlinie mit Empfehlungen zur Prävention und zur Behandlung der CIPN und akuter neuropathischer Syndrome bei erwachsenen Krebspatienten erarbeitet. Dazu werteten die Wissenschaftler die Literatur aus dem Zeitraum von 1990 bis 2013 aus. In den systematischen Reviews wurden nur randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) eingeschlossen.
Verursachende Chemotherapeutika Zu den Chemotherapeutika mit höherer CIPN-Inzidenz gehören platinhaltige Kombinationen, Vinkaalkaloide, Bortezumib und Taxane. Die Toxizitätsprofile der einzelnen Sub-
Merksätze
O Zu den Regimen mit höherer CIPN-Inzidenz gehören platinhaltige Regime, Vinkaalkaloide, Bortezumib und Taxane.
O Zur Prävention der CIPN wird von Acetyl-L-Carnitin und Nimodipin ausdrücklich abgeraten, da beide die Neuropathie verstärken können.
O Zur Behandlung der CIPN kann Duloxetin angeboten werden; für ausgewählte Patienten kommen Nortriptylin, Gabapentin oder ein topisches Gel (Baclofen, Amitriptylin, Ketamin) zur Behandlung infrage.
stanzen sind zwar unterschiedlich, in manchen Eigenschaften unterscheidet sich eine CIPN jedoch grundsätzlich von anderen Neuropathien. Die meisten CIPN verursachenden Chemotherapeutika sind mit symmetrischen, distalen strumpfund handschuhförmigen Beschwerden verbunden. Die CIPN manifestiert sich dosisabhängig mit sensorischen Symptomen, die motorische Nervenfunktion bleibt dagegen unverändert. Bei der Fortsetzung einer Chemotherapie verschlimmern sich die neuropathischen Symptome kontinuierlich ohne Besserung zwischen den einzelnen Applikationen. Eine kumulative, durch Oxaliplatin induzierte CIPN ist bei etwa 80 Prozent der Betroffenen teilweise reversibel, und bei ungefähr 40 Prozent bildet sie sich in einem Zeitraum von 6 bis 8 Monaten nach Ende der Therapie vollständig zurück. Allerdings können sich die neuropathischen Symptome nach der Behandlung auch über weitere 2 bis 6 Monate weiter verstärken. Dieses Phänomen ist als «Coasting» bekannt. Eine durch Paclitaxel verursachte CIPN bildet sich in den Monaten nach Behandlungsende ebenfalls in den meisten Fällen zurück.
Akute neuropathische Syndrome Manche Chemotherapeutika, wie Taxane und Oxaliplatin, verursachen zusätzlich zur CIPN ein akutes neuropathisches Syndrom. Die durch Oxaliplatin induzierte akute Neurotoxizität manifestiert sich innerhalb von Stunden oder Tagen nach der Infusion mit sensorischen und motorischen Symptomen. Dazu gehören Empfindlichkeit beim Berühren kalter Gegenstände, Unbehagen bei Schlucken kalter Getränke sowie Beschwerden in der Kehle und Muskelkrämpfe. Bei Patienten mit ausgeprägter akuter Neuropathie scheint auch das Risiko für eine schwere CIPN höher zu sein. Im Zusammenhang mit Paclitaxel kann es bei der Mehrzahl der Patienten innerhalb von 1 bis 3 Tagen nach der Applikation dosisabhängig zu einem akuten Schmerzsyndrom kommen, das meist innerhalb einer Woche wieder abklingt.
Empfehlungen zur Prävention In 42 RCT wurde die Wirksamkeit von chemoprotektiven Substanzen, Antikonvulsiva, Antidepressiva, Vitaminen, Mineralien und Nahrungsergänzungsmitteln zur Prävention der CIPN untersucht. Einige der evaluierten Substanzen haben bei anderen Neuropathien wie der diabetischen peripheren oder der postherpetischen Neuralgie Wirksamkeit gezeigt. Nach ihrer Literaturauswertung gelangten die Autoren jedoch zu dem Ergebnis, dass aufgrund mangelnder oder widersprüchlicher Evidenz derzeit keines der untersuchten Medikamente zur Prävention der CIPN empfohlen werden kann. Einige
804
ARS MEDICI 16 I 2014
Substanzen sollten nach Ansicht der Autoren gar nicht angeboten werden (siehe Kasten). Chemoprotektive Substanzen: Von einer CIPN-Prophylaxe mit dem Kalziumkanalantagonisten Nimodipin raten die Experten ausdrücklich ab. Eine Studie zu dieser Substanz wurde aufgrund starker Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen abgebrochen, und die Ergebnisse weisen zudem darauf hin, dass Nimodipin die CIPN im Zusammenhang mit cisplatinbasierten Regimen exazerbiert. Unter Amifostin wurden geringe Verbesserungen der neurologischen Symptome, aber auch Toxizitäten wie Übelkeit und Erbrechen beobachtet. Bei der präventiven Anwendung des rekombinanten humanen Leukämieinhibitionsfaktors (rhuLIF) wurden in Verbindung mit Carboplatin/Paclitaxel eine Verschlechterung der Neuropathieendpunkte und insbesondere eine Abnahme der Leitgeschwindigkeit des Nervus medianus beobachtet. Antikonvulsiva und Antidepressiva: Die Antikonvulsiva Carbamazepin (Tegretol® und Generika) und Oxcarbazepin (Trileptal®, Apydan®) lieferten in zwei kleinen Studien zur oxaliplatininduzierten CIPN inkonsistente Ergebnisse im Hinblick auf den protektiven Nutzen. Das Antidepressivum Amitriptylin zeigte keine neuroprotektive Wirksamkeit und war in einigen Fällen mit Toxizitäten verbunden. Bei der Applikation von Venlafaxin (Efexor® und Generika) wurden dagegen in einer relativ kleinen Studie ein signifikanter Rückgang einer oxaliplatininduzierten akuten Neurotoxizität und eine Verminderung der CIPN im Vergleich zu Plazebo beobachtet. Aufgrund der unzureichenden Datenlage kann Venlafaxin derzeit jedoch – bis zur Absicherung dieser Ergebnisse – nicht für die routinemässige Anwendung zur Prävention der CIPN empfohlen werden. Vitamine, Mineralien, Nahrungsergänzungsmittel: Von der präventiven Applikation des Nahrungsergänzungsmittels Acetyl-L-Carnitin raten die ASCO-Experten ausdrücklich ab, da in einer Phase-III-Studie mit 409 Patienten nach 24 Wochen eine Verschlimmerung der CIPN beobachtet wurde. In kleinen Studien wurde unter Kalzium/Magnesium(CaMg-)Infusionen eine deutliche Rückbildung neuropathischer Symptome beobachtet. Dies führte zur verbreiteten Anwendung in der klinischen Praxis. In einer neuen grossen Phase-III-Studie mit 353 Patienten konnten diese Einzelberichte allerdings nicht bestätigt werden. Auch im Zusammenhang mit Vitamin E, Glutathion und dem ACTH-(adrenokortikotropes Hormon-)Analogon Org 2766 wurden in kleinen Untersuchungen neuroprotektive Wirkungen beobachtet, die von grösseren Phase-III-Studien nicht bestätigt wurden. Unter Org 2766 wurde in einer grösser angelegten Studie sogar eine Verschlechterung der CIPN beobachtet. Glutamat und Omega-3-Fettsäuren zeigten bisher nur in kleinen Studien einen Nutzen zur Reduzierung der CIPN. Eine Bestätigung durch grössere Untersuchungen steht jedoch noch aus. Zur protektiven Wirksamkeit der All-trans-Retinsäure Tretinoin (Vesanoid®) identifizierten die Autoren nur eine kleine unverblindete Studie, in der unterschiedliche Toxizitäten beobachtet wurden. Im Zusammenhang mit Diethyldithiocarbamat kam es zu einer beträchtlichen Toxizität, sodass die Patienten ihre Chemotherapie abbrachen oder die Cisplatindosis reduziert werden musste. Nach Auswertung aller Studien kamen die ASCO-Experten zu dem Ergebnis, dass bei einer Behandlung mit zytotoxischen
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Zur CIPN-Prävention ungeeignete Substanzen
• Acetyl-L-Carnitin • Amifostin (Ethyol®) • Amitriptylin (Saroten®) • Ca/Mg bei oxaliplatinbasierter Chemotherapie • Diethyldithiocarbamat (nicht im AK der Schweiz) • Glutathion bei einer Chemotherapie mit Paclitaxel/Carboplatin (als
Einzelsubstanz nicht im AK der Schweiz) • Nimodipin (Nimotop®) • Org 2766 • Tretinoin (Vesanoid®) • rhuLIF (nicht im AK der Schweiz) • Vitamin E
Substanzen zur Prävention einer CIPN nur die Reduzierung der Dosis oder der Expositionsdauer empfohlen werden kann.
Empfehlungen zur Behandlung Die Evidenz zur Wirksamkeit verschiedener Substanzen für die Behandlung der CIPN wurde in 6 RCT untersucht und ist ebenfalls gering oder widersprüchlich. Die ASCO-Experten sprechen daher lediglich für Duloxetin (Cymbalta®) eine Empfehlung aus. In einer Studie mit 231 Patienten wurden unter Duloxetin eine signifikante Reduzierung der Schmerzen und eine Verminderung von Taubheits- und Kribbel-
gefühlen im Vergleich zu Plazebo beobachtet. Aus einer Sub-
gruppenanalyse geht hervor, dass Duloxetin bei oxaliplatin-
induzierter CIPN wirksamer sein könnte als bei paclitaxel-
induzierter CIPN. Vom Antiepileptikum Lamotrigin (Lamic-
tal® und Generika) raten die ASCO-Experten ab, da diese
Substanz weder zur Behandlung der CIPN noch bei anderen
Neuropathien Wirksamkeit gezeigt hat und zudem mit einem
Risiko für das Stephens-Johnson-Syndrom verbunden ist.
Trizyklische Antidepressiva werden zur routinemässigen
Behandlung der CIPN nicht empfohlen. Da diese Substanzen
jedoch bei anderen Neuropathien Wirksamkeit gezeigt haben,
kann nach einem ausführlichen Patientengespräch zur be-
grenzten Evidenzlage, zu potenziellen Nebenwirkungen und
zum Nutzen ein Versuch mit Nortriptylin (Nortrilen®) oder
Desipramin (nicht im AK der Schweiz) unternommen werden.
Gabapentin (Neurontin® und Generika) wird angesichts der
Wirksamkeit bei anderen neuropathischen Schmerzen und
der begrenzten Behandlungsoptionen ebenfalls nur für ausge-
wählte Patienten empfohlen. Auch eine topische Behandlung
mit einem Gel, das Baclofen (10 mg), Amitryptilin HCl
(40 mg) und Ketamin (20 mg) enthält, wird nicht allgemein
empfohlen, kann aber im Einzelfall versucht werden.
O
Petra Stölting
Quelle: Hershman DL et al.: Prevention and management of chemotherapy-induced peripheral neuropathy in survivors of adult cancers: American Society of Clinical Oncology clinical practice guidelines. J Clin Oncol 2014; 32: 1941–1967.
Interessenkonflikte: 4 der 18 Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
806
ARS MEDICI 16 I 2014