Transkript
FORTBILDUNG
Kopfschmerzen durch Medikamentenübergebrauch
Liegt eine Suchterkrankung zugrunde?
Chronische Kopfschmerzen aufgrund eines Übergebrauchs akut wirksamer Kopfschmerzmittel sind in ihren Entstehungsmechanismen nur teilweise verstanden, stellen aber ein gewichtiges klinisches Problem dar. In der letzten Dekade hat die Rolle von Suchtaspekten zum Verständnis des Krankheitsbildes zunehmend an Gewicht gewonnen.
PETER S. SANDOR1, ANDREAS R. GANTENBEIN2 UND TILL SPRENGER3
Medikamentenübergebrauchskopfschmerzen (MÜKS; oder Medication Overuse Headache, MOH) betreffen 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung und können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. MOH wird weltweit nach Massgabe der International Headache Society klassifiziert und von allen gegen Schmerzen wirksamen Substanzen ausgelöst (1). Für den Behandler sind MOH-Patienten aus verschiedenen Gründen eine besondere Herausforderung (2, 3). Der Kern des Problems ist ein sogenannter Übergebrauch akut wirksamer Kopfschmerzmedikamente, meist im Kontext einer vorbestehenden primären Kopfschmerzerkran-
Merksätze
O Medikamentenübergebrauchskopfschmerz ist mit 1 bis 2 Prozent in der Bevölkerung relativ häufig und bei einem Teil der Patienten anspruchsvoll zu behandeln.
O Patienten «übergebrauchen» Schmerzmittel nicht, um Rauschzustände zu erzeugen, sondern um weiter am Alltag teilnehmen zu können.
O Ein relativer Befindlichkeitsgewinn im Sinne der Verhinderung eines unangenehmen Zustands scheint zu einer Abhängigkeitssituation zu führen.
O Abnormitäten in neuronalen Belohnungsstrukturen sind bei MOHPatienten auf Gruppenebene nachweisbar.
O Klinische Implikationen für Diagnostik und stratifizierter Therapie sind anzunehmen; Interventionsstudien stehen aus.
kung wie Migräne. Nach aktuellen Vorstellungen soll der Übergebrauch dafür verantwortlich sein, dass vormals episodische Kopfschmerzen allmählich chronifizieren. Das Ergebnis sind dann häufige Kopfschmerzen, die, wenn sie durchschnittlich an 15 oder mehr Tagen pro Monat vorhanden sind, als chronisch bezeichnet werden. Mit Entstehung eines Übergebrauchs ändert sich häufig nicht nur die Kopfwehfrequenz (d.h. die Zunahme), sondern auch der Phänotyp. Aus einer relativ typischen Migräne kann so ein täglicher Kopfschmerz mit weniger im Vordergrund stehenden migräniformen Begleitsymptomen entstehen.
Warum «übergebrauchen» Kopfschmerzpatienten Schmerzmittel? Die Bezeichnung Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (und nicht Medikamentensucht) könnte die Motivation der Betroffenen widerspiegeln, trotz Kopfschmerzen in ihrem Alltag zu funktionieren – das in Abgrenzung zu Süchten und Abhängigkeiten, die im Sprachgebrauch negativ konnotiert sind. Das erscheint vernünftig, da Schmerzmittel, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nicht das Erleben des Patienten beeinflussen, also keine psychotrope Wirkung haben. Das Ziel der Medikamenteneinnahme bei MOH ist somit auch kein Rausch, sondern der Versuch, beeinträchtigende Kopfschmerzen zu verhindern.
Abhängigkeit und MOH – absolute und relative Befindlichkeit Nach der Definition der Amerikanischen Gesellschaft für Suchtmedizin ist Abhängigkeit definiert als eine Dysfunktion von Belohnungs-, Motivations- und Gedächtnisstrukturen im Gehirn (http://www.asam.org/for-the-public/definitionof-addiction). Sie geht einher mit einer Modifikation des Verhaltens, die eine verminderte Kontrolle beispielsweise über einen Substanzgebrauch beinhaltet. Hierbei scheinen zentralnervöse Anpassungsvorgänge eine Rolle zu spielen. Bei psychotrop wirksamen Substanzen wie zum Beispiel Alkohol und Drogen kann das Erreichen eines Rauschzustandes, also eines subjektiv angenehmen Zustandes, als Motivator zum Substanzkonsum betrachtet werden. Auf den ersten Blick erscheint die Einnahme akut wirksamer Schmerzmittel nicht in einem solchen motivatorischen Zusammenhang interpretierbar zu sein. Nimmt man jedoch eine relative Verbesserung der Befindlichkeit als Massstab statt ein absolutes Niveau, können gewisse Parallelen vermutet werden. Der MOH-Patient hat meist keinen direkten Befindlichkeitsvorteil durch eine Schmerzmitteleinnahme. In der Situation eines
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mutmasslich bevorstehenden oder bereits begonnenen Kopfschmerzes wird jedoch – unter Einbezug des zu erwartenden unangenehmen Zustandes – ein relativer Befindlichkeitsvorteil angestrebt. Das erinnert an substanzabhängige Patienten, die, in einer späteren Phase der Sucht, wenn bereits eine Gewöhnung mit Dosissteigerung eingetreten ist, durch frühzeitigen Konsum Entzugssymptomen vorzubeugen versuchen. Zusammengefasst können also, wenn ein relativer Befindlichkeitsvorteil als zentrales Element der Betrachtung akzeptiert wird, zumindest in Subgruppen von MOH-Patienten neurophysiologische und psychologische Überlappungen mit Suchterkrankungen angenommen werden (8). Tatsächlich erfüllten zirka zwei Drittel der MOH-Patienten (66,8%) die Abhängigkeitskriterien nach DSM-IV (7).
Korrelate im Gehirn Passend zu den oben besprochenen Verhaltens- und Persönlichkeitsbetrachtungen bei MOH zeigten sich in modernen bildgebenden Verfahren Abnormitäten in neuronalen Belohnungsstrukturen dieser Patientengruppe. Diese wurden in metabolischen (4) und strukturellen (5, 6) Untersuchungen auf Gruppenebene gezeigt. Sie betrafen den orbitofrontalen Kortex und striatäre Strukturen und zeigten ein Muster ähnlich wie bei Patienten mit Substanzmissbrauch. Neuropsychologische Untersuchungen von Funktionen, welche dem orbitofrontalen Kortex zugeordnet werden, waren mit den metabolischen und strukturellen Befunden kompatibel (9). Möglicherweise erklären solche Befunde, mindestens teilweise, die mit bis zu 30 Prozent doch recht hohen Rückfallquoten (11) nach ursprünglich erfolgreicher Therapie eines Übergebrauchs.
Klinische Konsequenzen? Das prinzipielle Konzept der Behandlung von MOH-Patienten fokussiert auf eine Reduktion beziehungsweise einen Entzug der übergebrauchten Medikamente. Das führt bei einem grossen Teil der Patienten zu einer dramatischen Reduktion der Kopfschmerzfrequenz und häufig auch zu einer Reduktion der Kopfwehintensität. Damit verbessert sich zudem häufig auch das Ansprechen auf die zuvor übergebrauchten Akutmedikamente (sofern nun in Massen gebraucht) und auch auf Kopfwehprophylaktika. Ferner remittiert der oft während des Übergebrauchs veränderte Kopfwehphänotyp häufig in den ursprünglich zugrunde liegenden, das heisst meist eine Migräne. Um das Therapieziel einer Reduktion des Medikamentenübergebrauchs zu erreichen, ist oftmals ein multimodaler Ansatz vorteilhaft. Verschiedene klinische Aspekte, wie die Art der übergebrauchten Schmerzmittel, aber auch Kontextfaktoren bei der Behandlungsstratifizierung sind hierbei zu berücksichtigen (3). In einer jüngeren Studie (12) wurde bei MOH-Patienten das Ausmass der Abhängigkeit auf der Addiction Admission Scale erhoben und mit dem Ergebnis nach Behandlung in Beziehung gesetzt. Es zeigte sich, dass MOH-Patienten mit einem höheren Score ein schlechteres Behandlungsergebnis hatten (12). Auch neuropsychologische Untersuchungen orbitofrontaler Funktionen waren in ähnlicher Weise mit dem Resultat ein Jahr nach spezifischer Behandlung korrelierbar (9). Zu wenig ist bekannt über die Bedeutung des Aspekts der Abhängigkeit für die Entstehung und die Behandlung von
MOH. Vielleicht aus «political correctness» – um denjenigen
Patienten, die in einen MOH hineingeraten sind, nicht Un-
recht zu tun – wurden Abhängigkeit und Sucht in diesem
Kontext über Jahre und Jahrzehnte nicht thematisiert. Erst in
der letzten Dekade verdichteten sich Hinweise auf ihre mög-
licherweise wesentliche Bedeutung für die Entstehung und
vielleicht auch die Behandlung von MOH. Auch wenn keine
Interventionsstudien vorliegen, scheint die Berücksichtigung
von Abhängigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen, die für
Suchtverhalten prädestinieren, bei der stratifizierten Behand-
lung von MOH interessant. Die Rolle von psychologischen
Strategien und auch der Einbezug von Experten aus psychi-
atrischen und psychosomatischen Fachkreisen zur modernen
interdisziplinären Behandlung (10) dieser Patientengruppe
könnten noch weiter an Wichtigkeit gewinnen.
O
Korrespondenzadresse: 1Prof. Dr. med. Peter S. Sandor Neurologie ANNR RehaClinic Kantonsspital Baden Im Ergel 5404 Baden-Dättwil E-Mail: P.Sandor@rehaclinic.ch
2Dr. med. Andreas R. Gantenbein, Leitender Arzt Neurologie, RehaClinic Bad Zurzach, 5330 Bad Zurzach
3Prof. Dr. med. Till Sprenger, Universitätsspital Basel, Neurologische Klinik und Abteilung für Neuroradiologie, Petersgraben 4, 4031 Basel
Referenzen: 1. Medication-overuse headache (MOH) (Kap. 8.2.) In: The International Classification of
Headache Disorders (ICHD), 3rd edition (beta version). Cephalgia 2013; 33(9): 733–735. 2. Diener HC, Limmroth V: Medication-overuse headache: a worldwide problem. Lancet
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26(3): 276–281. 4. Fumal A et al.: Orbitofrontal cortex involvement in chronic analgesic-overuse head-
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correlations with disease related disability and anxiety. World J Biol Psychiatry 2012; 13(7): 517–525. 6. Riederer F et al.: Decrease of gray matter volume in the midbrain is associated with treatment response in medication-overuse headache: possible influence of orbitofrontal cortex. J Neurosc 2013; 33(39): 15343–15349. 7. Radat F et al.: Headache. Behavioral dependence in patients with medication overuse headache: a cross-sectional study in consulting patients using the DSM-IV criteria. 2008; 48(7): 1026–1036. 8. Calabresi P, Cupini LM: Medication-overuse headache: similarities with drug addiction. Trends Pharmacol Sci 2005; 26(2): 62-68. Review. 9. Gómez-Beldarrain M et al.: Orbitofrontal dysfunction predicts poor prognosis in chronic migraine with medication overuse. J Headache Pain 2011; 12(4): 459–466. 10. Bendtsen L et al., COMOESTAS Consortium: Disability, anxiety and depression associated with medication-overuse headache can be considerably reduced by detoxification and prophylactic treatment. Results from a multicentre, multinational study (COMOESTAS project). Cephalalgia 2014; 34(6): 426–433. 11. Evers S, Marziniak M.: Clinical features, pathophysiology, and treatment of medication-overuse headache. Lancet Neurol 2010; 9(4): 391–401. 12. Sances G et al.: Factors associated with a negative outcome of medication-overuse headache: A 3-year follow-up (the CARE protocol). Cephalgia 33(7): 431–443.
Erstpublikation in «Psychiatrie & Neurologie» 3/2014.
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