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BERICHT
«Inaktivität ist ein Risikofaktor für Demenz»
9. Symposium
Demenz und Neurodegeneration, Zürich, 20. März 2014
In der Schweiz leben schätzungsweise 110 000 demenzkranke Menschen. Jährlich kommen rund 25 000 Neuerkrankungen hinzu. Am 9. Symposium für Demenz und Neurodegeneration wurden Grundlagen und praktische Aspekte der Demenzen erörtert.
ANNEGRET CZERNOTTA
Demenz und visuelles System Mit dem Fortschreiten einer Demenz kommt es häufig zu visuellen Wahrnehmungsstörungen. Die Kontrastsensitivität nimmt ab, Bewegungen werden schlechter wahrgenommen, Gesichtsfelddefekte treten auf, und der Farbsinn ist gestört. «Diese Veränderungen treten unabhängig vom Alter auf», betonte Prof. Dr. René Müri, Abteilung für Kognitive und Restorative Neurologie am Inselspital Bern. Bei der Lewy-Body-Demenz haben die Betroffenen beispielsweise Mühe, verschiedene Objektgrössen zu unterscheiden; bei der Demenz vom AlzheimerTyp reduzierten sich die Dicke der Makula und die retinale Nervenfaserschicht. Untersuchungen zeigen, dass durchschnittlich 25 bis 30 Prozent der von der Parkinson-Krankheit betroffenen Patienten im Verlauf der Erkrankung eine Demenz entwickeln. Auch bei diesen Betroffenen sind visuelle Änderungen häufig. So führt beispielsweise die Veränderung der retinalen Nervenfaserschicht und des N. opticus zu makulären und fovealen Verände-
rungen und damit zu Visusveränderungen. Die Entwicklung der optischen Kohärenztomografie (OCT) habe zu interessanten neuen Aspekten in der Diagnostik geführt, sagte Müri. Beispielsweise zeigen neuere Studien zu AlzheimerDemenz und Glaukom, dass ein Normaldruckglaukom das Risiko für Demenz um das Vierfache erhöht. «Das wirft die Frage auf», so Prof. Müri, «ob sich Augenveränderungen als Biomarker für die Entwicklung einer Demenz empfehlen?» Die Datenlage sei allerdings nicht eindeutig. Visuelle Halluzinationen sind ebenfalls ein Hinweis für die Ausbildung von Demenzen. Betroffene mit Parkinson weisen zu 10 bis 70 Prozent visuelle Störungen auf und zu 6 bis 87 Prozent visuelle Halluzinationen. Auch in der Differenzialdiagnose einer Lewy-Körper-Demenz zum Morbus Alzheimer haben visuelle Halluzinationen eine hohe Spezifität.
Demenzdiagnose in der Praxis Für die Diagnose einer Demenz brauchte es die umfassende Abklärung der kognitiven Störungen, sagte einleitend Prof. Dr. Andreas Monsch, Abteilungsleiter der Memory Clinic des Universitären Zentrums für Altersmedizin Basel am Felix-Platter-Spital in Basel. Allerdings sei die verbesserte Frühdiagnostik dahingehend eine Herausforderung, weil auf Ebene der Hausärzte häufig geeignete Screening-Tools fehlten. Die Memory Clinic Basel hat zusammen mit fünf anderen Schweizer Memory Clinics mit BrainCheck ein neues Screening-Tool entwickelt, welches helfen soll, im Rahmen der hausärztlichen Routineuntersuchung zu entscheiden, ob in Bezug auf kognitive Störungen weitere diagnostische Schritte notwendig sind. Der BrainCheck besteht aus
Fragen an den Patienten, dem Uhrentest und einer Befragung der Angehörigen. Die Validierungsstudie – mit einer Trennschärfe von fast 90 Prozent – zeigte, dass BrainCheck ein hocheffizientes Screening-Tool ist.* Gerade die Angehörigen machen oft die Erfahrung, dass sich der Betroffene verändert und etwas untersucht werden muss. Häufig ist die Wahrnehmung von Angehörigen sogar sensitiver, weil sie diese Verhaltensänderungen eher feststellen können. Die Messgenauigkeit der zurzeit diskutierten Biomarker ist bislang noch wenig befriedigend. Aufgrund der Häufigkeit von Demenzen, so Monsch, braucht es in Zukunft allerdings die nationale Demenzstrategie. Der «Dialog Nationale Gesundheitspolitik» hat deshalb im vergangenen Jahr die «Nationale Demenzstrategie 2014–2017» verabschiedet. Der an Demenz erkrankte Mensch und seine Bezugspersonen stehen im Zentrum dieser Strategie. Die mit der Erkrankung einhergehenden Belastungen sollen verringert und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden.
Praktische Aspekte Die Neuropsychologin Dr. Evelyn Unterburger, Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich, sprach über nicht medikamentöse Therapien und im Speziellen über kognitives Training bei Demenz: «Primär geht es darum, durch kognitives Training, Fähigkeiten zu erhalten oder zu kompensieren. Denn der Betroffene soll so lange wie möglich den Alltag selbstständig gestalten können.» Demenzen beeinträchtigen das Gedächtnissystem auf vielfältige Weise: Bei den frühen Beeinträchtigungen des
*BrainCheck ist gegen eine kleine einmalige Gebühr auch als App auf iTunes unter: https://itunes.apple.com/ ch/app/braincheck/id597399351?mt=8 erhältlich.
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explizit-episodischen Gedächtnisses würde sich der Betroffene beispielsweise fragen, wo er seinen Schlüssel hingelegt hat. Bei Beteiligung des autobiografisch-episodischen Altgedächtnisses würde sich der Betroffene fragen, wo er seine Schlüssel normalerweise aufbewahrt. Später nimmt auch das semantische Altgedächtnis ab, und der Betroffene weiss nicht mehr, was überhaupt ein Schlüssel ist. Schliesslich ist das nicht deklarative, implizite, prozedurale Gedächtnis involviert, und der Betroffene kann sich nicht mehr an die Handlung erinnern, wie er den Schlüssel zu benutzen hat. Therapeutisch sei es anhand von Reminiszenzverfahren oder Erinnerungsarbeit möglich, das Altwissen zu aktivieren. Sehr gute Erfolge zeigt beispielsweise die Musiktherapie. «Sie verbessert das Verhalten und die psychologischen Symptome signifikant», so Unterburger. Ferner kommen tiergestützte Therapien zur Demenzbehandlung zum Einsatz. Die Verwendung eines Therapieroboters namens PARO erleichtert beispielsweise den Zugang zu schwer betroffenen Patienten und wirkt beruhigend. PARO ist eine 60 cm lange Roboterpuppe, die aussieht wie eine Robbe und die unter dem flauschigen hellen Fell über eine taktile Sensorik verfügt. So kann PARO wahrnehmen, wenn ein Mensch ihn streichelt, und mit der Bewegung des Schwanzes sowie des Kopfes und der Augen reagieren. Er macht zudem Geräusche, die denen von echten Sattelrobbenjungen ähneln. Im Unterschied zu den genannten, eher unspezifischen Aktivierungsverfahren, gibt es noch kompensatorisch-restaurative Ansätze mit dem Ziel, kognitive Teilfunktionen durch wiederholtes Üben gezielter Aufgabengruppen zu trainieren. Sie eignen sich für Patienten mit leichter und mittelgradiger Demenz. Evelyn Unterburger stellte ferner externe Hilfsmittel, Computertrainings und Lernstrategien vor und betonte, dass es gerade bei Alzheimer-Demenz wichtig sei, das prozedurale Gedächtnis anzusprechen und Fehler beim Lernen zu vermeiden. Besonders empfehlenswert sind kombinierte Programme mit verhaltenstherapeutischen, neuropsychologischen und humanistischen Elementen. Die besten Wirksamkeitsnachweise gibt es für
Therapien, die allgemein aktivierende und kompensatorisch-restaurative Ansätze mit medikamentöser Behandlung kombinieren. Die Therapieprogramme sind allerdings gut zu evaluieren, weil sie nur dann effektiv sind, wenn sie individuell abgestimmt eingesetzt werden und nicht als Standardprogramm vorliegen. Das beste kognitive Training für die heutige Generation AlzheimerKranker ist nach Angaben von Unterburger aber sicher ein erfülltes Sozialleben: «Es ist wirksamer, mit dem Enkel zu spielen, als Gedächtnisprogramme am Computer auszuführen.» Bei den noninvasiven Massnahmen sind speziell die transkranielle Gleichstromstimulation und die transkranielle Magnetstimulation zu erwähnen. Die Idee dieser Verfahren ist es, mittels an der Schädeloberfläche applizierter Gleichstrom- oder Magnetstimulation auf die kortikale Erregbarkeit einzuwirken und den Prozess der Langzeitpotenzierung beziehungsweise des Lernens zu fördern. Wie wirksam diese Methoden bei Demenzkranken sind, überprüfen Forscher derzeit in klinischen Studien. Abschliessend hielt Unterburger fest, dass im therapeutischen Umgang mit demenziell Erkrankten nicht auf Defiziten beharrt werden solle, sondern Ressourcen entdeckt und genutzt werden müssten. Die Angehörigen sollten einbezogen werden, und der Umgang sollte einfühlsam, aber gleichzeitig aktivierend und richtungsweisend erfolgen.
Körperliches Training bei neurodegenerativen Erkrankungen Über die Bedeutung von körperlichem Training als Protektivfaktor für die Entwicklung einer Demenz sprach Dr. Jens Petersen von der Klinik für Neurologie am USZ. Laut einer WHO-Studie zeigt sich, dass körperliche Inaktivität ausgeprägter ist bei Frauen, älteren Menschen und Stadtbewohnern. Die Hälfte der weltweiten Alzheimer-Fälle könne laut Barnes et al. (Lancet Neurol 2011) modifizierbaren Risikofaktoren wie der Inaktivität zugeschrieben werden. Durch eine 10-prozentige Reduktion der Prävalenz von «Inaktivität» könnten laut Barnes et al. jährlich 380 000 Alzheimer-Fälle weltweit verhindert werden. «Ein sehr provokatives Fazit», sagte Dr. Petersen.
Der Grund für diese Reduktion: Physi-
sche Aktivität ist assoziiert mit weniger
Fällen von Diabetes, Adipositas und
Bluthochdruck sowie mit einer Reduk-
tion inflammatorischer Marker. Zu-
dem hat Bewegung einen direkten
Einfluss auf die Gehirnstruktur und
regt die zerebrale Angio-, Neuro- und
Synaptogenese an. Körperliches Trai-
ning stimuliert im Rahmen von Tier-
versuchen den Hippocampus; es wird
weniger Beta-Amyloid im Gehirn ab-
gelagert.
Ein Cochrane-Review aus dem Jahr
2013 unterstreicht ebenfalls die posi-
tive Wirkung von Bewegung. Körperli-
ches Training hatte im Rahmen dieses
Reviews einen signifikanten Effekt auf
die Kognition und die Aktivitäten des
täglichen Lebens – allerdings nicht auf
das Verhalten und depressive Sym-
ptome.
Zusammenfassend hielt Petersen fest,
dass Inaktivität ein Risikofaktor für
Demenz ist und Aktivität zur Präven-
tion und allenfalls auch zur Therapie
bei demenziellen Syndromen genutzt
werden könnte. Ungeklärt ist bislang,
wie das Training zu dosieren ist, in wel-
chem Alter man damit beginnen sollte
und welche Trainingsform zu wählen
ist, so Petersen. Auch könnte eine
Kombination von Training mit der
Reduktion anderer modifizierbarer
Risikofaktoren (Diät, optimale Blut-
druckeinstellung etc.) relevant sein.
Petersen merkte kritisch an, dass die
Daten epidemiologischen Studien ent-
stammen. Denn es gebe auch andere
Ursachen, die zum Teil nicht beeinfluss-
bar seien, für die künftig wachsende
Zahl der Demenzfälle, beispielsweise
genetische Faktoren.
O
Annegret Czernotta
Quelle: 9. Symposium Demenz und Neurodegeneration, 20. März 2014, Universitätsspital Zürich
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