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FORTBILDUNG
Update Insulintherapie
Trotz verschiedener neuer Medikamente für Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 hat die Insulintherapie nicht an Wichtigkeit eingebüsst. Im Gegenteil: Neben einer guten Schulung der Patienten, auch im Hinblick auf gesunde Ernährung, und der Blutzuckerselbstkontrolle ist die Insulintherapie ein essenzieller Baustein im sequenziellen Therapiekonzept bei Typ-2-Diabetes.
THORSTEN SIEGMUND
Die neue deutsche Nationale Versorgungsleitlinie Diabetes mellitus Typ 2 (1) zeigt hierzu aktuelle Sichtweisen zur Pharmakotherapie des Typ-2-Diabetes auf (Abbildung 1). Expertengruppen verschiedener Organisationen haben hier zusammengearbeitet, um im Rahmen der strukturierten Versorgung chronisch kranker Menschen die angemessene und evidenzbasierte ärztliche Versorgung darzustellen. Aufgrund unterschiedlicher Konzepte der Organisationen inklusive unterschiedlicher Interpretation und unterschiedlicher klinischer Gewichtung der berücksichtigten Evidenz konnte bei einzelnen Schritten der Pharmakotherapie des Typ-2-Diabetes keine Einigung erreicht werden. DDG/DGIM (Deutsche Diabetes-Gesellschaft/Deutsche Gesellschaft für
Merksätze
O Die Progression des Diabetes mellitus Typ 2 hat zur Folge, dass im Verlauf von einigen Jahren für die meisten Patienten ein Start mit Insulin nötig wird.
O Das Ziel ist auch, bei der Insulintherapie eine individuell passende Therapiestrategie zu entwickeln. Zunehmend geschieht dies mithilfe von Analoginsulinen. Neue Insuline werden die aktuellen Möglichkeiten sukzessiv sinnvoll ergänzen und erweitern.
O Je nach Strategie ist die Ergänzung mit geeigneten oralen Antidiabetika sinnvoll, auch eine Kombination mit GLP-1-RezeptorAgonisten ist möglich.
O Die Entscheidung für eine Insulintherapie sollte nicht unnötig hinausgezögert werden, um die Prognose der Patienten möglichst günstig zu gestalten.
Innere Medizin) beziehungsweise AkdÄ/DEGAM (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft/Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) empfehlen ein in einigen Punkten voneinander abweichendes therapeutisches Vorgehen. Die in der Folge aufgeführte Übersicht beleuchtet die Sichtweise der DDG/DGIM, die mit der internationalen Sichtweise (2) überwiegend im Einklang steht.
Insulin: Wann beginnen? Leider hat die Insulintherapie noch immer keine ausreichende Akzeptanz erreicht. Sie kann für manche Patienten bereits bei der Diagnosestellung unumgänglich sein. Bei den meisten anderen ist der Einstieg in die Insulintherapie aber erst nach einer Diabetesdauer von einigen Jahren nötig. Kürzlich publizierte Daten belegen, dass eine auch bereits im frühen Erkrankungsstadium begonnene Insulintherapie effektiv und sicher ist und die Krankheitsprogression günstig beeinflussen kann (3). Über die letzten Jahre lässt sich ein klarer Trend zu einer individualisierten Therapie in der Diabetologie nachweisen. Das zeigt sich vor allem in der Empfehlung, bereits vor Therapiestart ein individuelles Ziel zu formulieren (2).
Individuell vorgehen! Auch die Wahl der medikamentösen Therapeutika und ihrer Kombinationsoptionen ist zunehmend durch ein individualisiertes Vorgehen gekennzeichnet. Zur Kombination stehen eine Reihe oraler Antidiabetika (OAD) und zunehmend auch GLP-1-Rezeptor-Agonisten zur Verfügung. Relevante Faktoren bei der Festlegung des individuellen HbA1c-Ziels sind unter anderen Alter, Diabetesdauer, Hypoglykämiegefahr, makrovaskuläre Vorerkrankungen, Fähigkeiten und Therapieadhärenz des Patienten. Gerade Hypoglykämien sollten möglichst bei allen Patienten vermieden werden. Daher ist gerade bei Notwendigkeit einer Insulintherapie eine Strategie sinnvoll, die das Therapieziel mit möglichst geringem Risiko für Hypoglykämien erreichbar macht.
Welches Insulin wählen? In den meisten Untersuchungen, bei denen Insulintherapiestrategien verglichen wurden, erwies sich eine Strategie mit analogem Basalinsulin als sicherer (geringere Hypoglykämierate) im Vergleich zu prandialen Strategien oder auch zur Mischinsulintherapie (3, 4). Auch bei der Gewichtsentwicklung zeigt sich eine Basalinsulinstrategie bei Einleitung einer Insulintherapie am günstigsten. Dagegen sind die prandialen
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Zweite Stufe: Basistherapie plus Pharmakamonotherapie
Monotherapie nach DEGAM/AkdÄ bei Metforminunverträglichkeit:
Mit Nutzennachweis in klinischen Endpunktstudien: O Humaninsulin: konventionelle Insulintherapie (CT)
oder präprandial kurz wirksames Insulin (SIT) O Glibenclamid (Sulfonylharnstoff) Ohne Nutzennachweis in klinischen Endpunktstudien (in alphabetischer Reihenfolge): O DPP-4-Inhibitor O Glukosidasehemmer O weitere Sulfonylharnstoffe/Glinid
DEGAM/AkdÄ DDG/DGIM
1. Wahl Metformin
Monotherapie nach DDG/DGIM bei Metforminunverträglichkeit/-kontraindikationen:
O DPP-4-Inhibitor O Insulin (häufig Verzögerungsinsulin) O SGLT-2-Inhibitor O Sulfonylharnstoff/Glinid O Glukosidasehemmer O Pioglitazon
Individuelles HbA1c-Ziel nach 3 bis 6 Monaten nicht erreicht Dritte Stufe: Insulin allein oder Pharamkazweifachkombination
Insulin allein oder Zweifachkombination nach DEGAM/AkdÄ:
Auf dieser Stufe der Therapie wird keine Empfehlung ausgesprochen, sondern 3 Optionen werden mit ihren Vor- und Nachteilen nebeneinandergestellt
O Metformin plus Insulin Vorteil: methodisch zuverlässige Endpunktstudien, Nachteile: Hypoglykämie, Gewichtszunahme
O Metformin plus Glibenclamid Vorteil: orale Gabe, Nachteile: höhere CVD-Mortalität in methodisch nicht sehr guten Studien, Hypoglykämie, Gewichtszunahme
O Metformin plus DPP-4-Inhibitor Vorteile: orale Gabe, kaum Hypoglykämien, gewichtsneutral, Nachteile: keine Daten zu klinischen Endpunkten, Studien mit Hinweis auf Zunahme von Pankreatitis/Pankreastumoren
Wegen unterschiedlicher Vor- und Nachteile muss für jeden Patienten entschieden werden, welches der 3 Schemata individuell angemessen ist.
Zweifachkombination nach DDG/DGIM (Substanzen in alphabetischer Reihenfolge):
O DPP-4-Inhibitor O GLP-1-Rezeptor-Antagonist O Glukosidasehemmer O Insulin (häufig Verzögerungsinsulin) O SGLT-2-Inhibitor O Sulfonylharnstoff/Glinid O Pioglitazon
Individuelles HbA1c-Ziel nach 3 bis 6 Monaten nicht erreicht Vierte Stufe: Intensivierte(re) Insulin- und Kombinationstherapieformen
Intensivierte Insulin- und Kombinationstherapie nach DEGAM/AkdÄ:
O Insulin – präprandial kurz wirkend (SIT) oder – konventionell (CT) oder – intensiviert (IVT)
O bei Adipösen plus Metformin
Intensivierte Insulin- und Kombinationstherapie nach DDG/DGIM: zusätzlich zu oralen Antibiotika
O Verzögerungsinsulin oder O Verzögerungsinsulin und GLP-1-Rezeptor-Antagonist (Zulassung beachten) oder O präprandial kurz wirkendes Insulin (SIT) oder O konventionelle Insulintherapie (CT) oder O intensivierte Insulintherapie (ICT, CSII)
Abbildung 1: Flussdiagramm zur medikamentösen Therapie des Typ-2-Diabetes ab der Stufe 2, das heisst nach den üblichen Massnahmen zur Basistherapie (rot: nach Empfehlungen der DEGAM/AkdÄ, beziehungsweise blau: nach DDG/DGIM [1], CVD: cardiovascular disease).
Therapiestrategien häufig effektiver im Hinblick auf die HbA1c-Senkung, auch im Vergleich zu Mischinsulin, bei vergleichbarem Hypoglykämierisiko (3). Eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse erbrachte ähnliche Resultate (5). Die Arbeit zeigt aber auch, wie schwierig direkte Vergleiche verschiedener Insulintherapiestrategien sind. Für valide direkte Vergleiche benötigt man ähnliche Studienkollektive, Studiendauern, Therapieziele, Endpunkte
und die Beigabe bestimmter oraler Antidiabetika. Die in die Metaanalyse aufgenommenen Studien sind jedoch hinsichtlich dieser Kriterien sehr unterschiedlich. In der Metaanalyse ergibt sich vor allem für basale Analoginsuline gegenüber humanen Insulinen beim Aspekt «Hypoglykämievermeidung» einen Vorteil. Ein weiteres Ergebnis ist, dass aufgrund der Progression der Erkrankung sukzessive höhere Insulindosen notwendig werden, was
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Komplexität des Regimes
niedrig
Anzahl der Injek-
tionen
1
Therapie ohne Insulin Basalinsulin ± OAD
mittel
2
BOT plus
Basalinsulin + 1–2 × kw-Insulin
Mischinsulin 2 × täglich
hoch 3
ICT
Basalinsulin + 3 × kw-Insulin
Flexibilität höhere Flexibilität
geringere Flexibilitäti
Abbildung 2: Sequenzielles Vorgehen mit verschiedenen Insulinstrategien nach dem Konsensus-Statement der ADA/EASD (2) (OAD: orale Antidiabetika, BOT: basal-unterstützte orale Therapie, ICT: intensivierte konventionelle Insulintherapie, kw: kurz wirksam)
Abbildung 3: Schematische Darstellung aktuell verfügbarer Insulintherapiestrategien mit zu erwartenden Insulinspiegeln nach Injektion der für die Strategie üblichen Insuline. Diese können zum Teil mit Humaninsulinen oder mit Analoginsulinen erfolgen. Die Punktlinien zeigen physiologische Insulinspiegel bei gesunden Kontrollen (9).
der gemessene HbA1c-Wert, das definierte individuelle HbA1c-Ziel und vor allem die Motivation und die Fähigkeiten eines Patienten. Der klassische Weg bei der Initiierung einer Insulintherapie führt bei einem Grossteil der Patienten beginnend mit einem (analogen) Basalinsulin hin zur intensiviert konventionellen Insulintherapie (ICT = intensivierte konventionelle Insulintherapie/Basis-Bolus-Therapie) (vgl. auch Abbildung 3). Hierbei wird die Intensivierung von einer BOT (basal-unterstützte orale Therapie) zur ICT zunehmend häufiger nicht in einem Schritt bewerkstelligt. Für ein mehrstufiges Vorgehen beim prandialen Insulin liegen mittlerweile zunehmend Daten vor (6), sodass diese Strategie häufiger Anwendung findet und auch ein Bestandteil des ADA/EASD-Algorithmus ist. Das ist gerade dann sinnvoll, wenn der Patient noch nicht völlig entgleist ist, wenn also dem Prinzip einer rechtzeitigen Intensivierung der Therapie Rechnung getragen wird.
Cave! Hypoglykämierisiko Ein Therapiestart nur mit prandialem Insulin ist bei denjenigen Patienten eine Option, die mit gutem Nüchternblutzucker in den Tag starten und deren Primärproblem im Blutzuckertagesprofil die postprandialen Blutzuckeranstiege sind. Eine rein prandiale Therapie ist im Vergleich zur Therapie mit einem analogen Basalinsulin jedoch mit einer höheren Rate an Hypoglykämien verbunden, auch der zu betreibende Aufwand ist bei einer prandialen Therapie deutlich grösser (4). Auch die Mischinsulintherapie verliert als Therapiestart an Stellenwert, da hier ebenfalls im Vergleich zu analogem Basalinsulin ein erhöhtes Hypoglykämierisiko besteht. Die geringe Flexibilität spricht ebenfalls gegen eine Mischinsulintherapie (3). Bei Versagen von Basalinsulin aufgrund der Krankheitsprogression werden zunehmend weniger Umstellungen auf Mischinsulin vorgenommen. Mehr Patienten werden über eine BOT plus in Richtung einer ICT umgestellt. Zusätzlich besteht seit Kurzem eine neue Option, nämlich die Kombination von Basalinsulin mit einem GLP-1-Rezeptor-Agonisten. Diese sogenannte basal-unterstützte Inkretintherapie (BIT, gerade bei adipösen Patienten sinnvoll) kann als Zwischenschritt vor der Einführung einer ICT genutzt werden (7, 8). Vor Beginn einer Insulintherapie ist es neben der Betrachtung des Blutzuckerprofils und des HbA1c-Werts sehr wichtig, die Patienten bezüglich ihrer Fähigkeiten und ihrer Compliance einzuschätzen, um dann die individuell geeignete Therapie festlegen zu können. Je aufwendiger eine Strategie, desto mehr Compliance ist gefragt.
gerade auch bei Strategien mit Basalinsulin aufgrund des zunehmenden Betazelldefizits eine weitere Intensivierung der Therapie notwendig macht. Das zeigen auch die Ergebnisse der 4T-Studie (3), in der ein grosser Teil der Patienten im Verlauf von einem einfacheren Regime in Richtung einer intensiveren Strategie umgestellt werden musste. Hierzu passend zeigt sich das aktuelle Konsensus-Statement der amerikanischen (ADA) und europäischen (EASD) Diabetesfachgesellschaften zum Vorgehen bei der Insulintherapie (2) (Abbildung 2). Aber auch dieses Konsensus-Statement kann nur als Anhalt dienen. Letztlich entscheidend für die gewählte Strategie sind das individuelle Blutzuckertagesprofil,
BOT oder Bedtime-Insulintherapie Die BOT besteht üblicherweise aus einer Kombination von lang beziehungsweise intermediär wirksamen Insulinen und ein bis zwei OAD. Voraussetzung für die Wahl dieser Therapiestrategie ist ein erhöhter Nüchternblutzucker im Blutzuckertagesprofil. Das Ziel ist es, durch Erreichen eines optimierten Nüchtern-Blutzuckers (BZ) in Kombination mit den OAD das BZ-Profil zu optimieren. Ein idealer Nüchtern-BZ liegt bei < 100 mg/dl (< 5,6 mmol/l). Dieses Therapieziel kann gegebenenfalls beim geriatrischen Patienten mit einem häufig höheren HbA1c-Ziel, zumeist bis 8 Prozent (10), angehoben werden, zum Beispiel auf < 130 mg/dl (< 7,2 mmol/l).
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Tabelle 1:
Standardtitration bei BOT/Bedtime-Therapie
Nüchternblutzucker > 180 mg/dl (10,0 mmol/l) > 160 mg/dl (8,9 mmol/l) > 140 mg/dl (7,8 mmol/l) > 120 mg/dl (6,7 mmol/l) < 80 mg/dl (4,4 mmol/l)
Dosissteigerung (E = Einheiten) +8E +6E +4E +2E -2E
Diese Therapieform ist für die meisten Patienten die geeignete und meist ein guter Einstieg in die Insulintherapie. Wird ein NPH-Insulin gewählt, sollte es idealerweise nicht vor 22 Uhr injiziert werden, um einen ausreichenden Effekt auf den Nüchtern-BZ zu erhalten und die Hypoglykämiegefahr in der Nacht möglichst gering zu halten. Demgegenüber bringt die Verwendung von lang wirksamen Analoginsulinen die Option einer früheren, flexibleren Injektion (die Injektion von Insulin Detemir in der BOT/Einmalgabe z.B. zum Abendessen, die von Insulin Glargin ist zu jeder Tageszeit möglich) (11). Ein grosser Vorteil der lang wirksamen Insulinanaloga im Vergleich zu humanem NPHInsulin besteht vor allem in einem signifikant geringeren Risiko für (vor allem nächtliche) Hypoglykämien (12, 13). Gestartet werden kann abhängig vom Schweregrad der Entgleisung mit 0,1 bis 0,2 E/kg Körpergewicht. Als Faustregel gilt: O Nüchtern-BZ 100–150 mg/dl (5,6–8,3 mmol/l) = > 6–10 E O Nüchtern-BZ 150–200 mg/dl (8,3–11,1 mmol/l) = > 10–14 E O Nüchtern-BZ > 200 mg/dl (11,1 mmol/l) = > 14–20 E (9).
Die notwendige Titration (Tabelle 1) muss konsequent erfolgen, bis das Nüchtern-BZ-Ziel erreicht ist. Bei NPH-Insulin sollte wegen der höheren nächtlichen Hypoglykämiegefahr gelegentlich gegen 2 Uhr nachts der BZ gemessen werden, eine Dosissteigerung sollte wegen der Gefahr nächtlicher Hypoglykämien nur bei Blutzuckerwerten von > 120 mg/dl (6,7 mmol/l) um 2 Uhr erfolgen.
BOT-plus-Insulintherapie Das im Rahmen der Krankheitsprogression zunehmende Betazellversagen führt im Verlauf besonders zu postprandialen BZ-Anstiegen über den Tag, die gezielt durch die zunächst einmalige Gabe eines kurz wirksamen Insulins verbessert werden können. Diese Therapieform ist ein erster Schritt hin zur ICT, kann aber auch gerade beim älteren Patienten als «Zweispritzentherapie» eine Mischinsulintherapie ersetzen. Zu einer bestehenden BOT-Insulintherapie wird ein kurz wirksames Insulin zur «Problemmahlzeit» (Mahlzeit mit der höchsten postprandialen Auslenkung) gespritzt. Die einmalige Gabe eines kurz wirksamen Insulins zur Problemmahlzeit erzeugt einen blutzuckerglättenden Effekt über das gesamte BZ-Tagesprofil (14), ohne die Hypoglykämierate signifikant zu steigern. Gestartet werden kann bei einem im Zielbereich liegenden Nüchtern-BZ mit kurz wirksamem Insulin (20% der Basalinsulinmenge [9]) zur Mahlzeit mit der höchsten postpran-
dialen Auslenkung. Bei einem Grossteil der Patienten ist das das Frühstück. Die Dosis wird so lange titriert, bis der postprandiale Wert im gewünschten Zielbereich liegt (ideal: < 140 mg/dl, < 7,8 mmol/l). Ein Vorteil dieser Therapiestrategie im Vergleich zur konventionellen Therapie ist durch die Flexibilität beim kurz wirksamen Insulin bedingt, welches spontan in der Dosis und im Spritzzeitpunkt angepasst werden kann. Ausserdem kann bei Verwendung eines kurz wirksamen Insulinanalogons auch nach der Mahlzeit gespritzt werden, wenn unklar ist, wie viel gegessen wird. Das ist besonders bei älteren Patienten von Vorteil. Je nach Essmenge kann die Dosis angepasst werden, zum Beispiel halbiert, wenn Patienten nur die Hälfte der üblichen Menge gegessen haben. Weiterhin kann die Dosis abhängig vom präprandialen Blutzucker angepasst werden, es kann also eine Korrektur erfolgen.
Supplementäre (prandiale) Insulintherapie (SIT) Zum Einstieg in die Insulintherapie erfolgt hier die Gabe eines kurz wirksamen Insulins (Normalinsulin oder kurz wirksames Analoginsulin) zu den Hauptmahlzeiten. Die SIT ist eine aufgrund des hohen Aufwandes eher selten angewandte Therapieoption, ist aber zielführend bei Patienten, die nur einen mässig erhöhten Nüchtern-BZ haben, jedoch über den Tag, besonders postprandial, steigende Werte dokumentieren. Beim Start orientiert sich die Dosisfindung am Nüchternwert beziehungsweise am HbA1c: O Nüchtern-BZ 110–130 mg/dl (6,1–7,2 mmol/l)
(HbA1c > 7%) = > 0,2 E/kg KG O Nüchtern-BZ 130–160 mg/dl (7,2–8,9 mmol/l),
(HbA1c > 7,5%) = > 0,25 E/kg KG O Nüchtern-BZ > 160 mg/dl (> 8,9 mmol/l),
(HbA1c > 8%) = > 0,3 E/kg KG (ist nur selten erfolgreich, da hier ein zu grosses basales Defizit vorliegt).
Die initiale Insulinverteilung bei ähnlich grossen Mahlzeiten kann zum Beispiel durch eine Aufteilung der Insulinmenge im Verhältnis 2:1:1 erfolgen (9). Eine BE-Berechnung ist bei den meisten Patienten mit Typ 2 nicht notwendig, jedoch sollte vorab geklärt werden, wie das Essverhalten des individuellen Patienten aussieht und es dementsprechend in der Berechnung berücksichtigt werden kann. Kurz wirksame Analoginsuline haben auch hier im Vergleich zum Normalinsulin den Vorteil, dass die Dosis auch nach dem Essen gespritzt werden kann, ohne eine überproportionale Blutzuckerentgleisung erwarten zu müssen.
Konventionelle Insulintherapie (CT) Meistens erfolgt die zweimalige Gabe eines Mischinsulins (Normalinsulin + NPH-Insulin oder kurz wirksames Analoginsulin + NPH-Insulin) zum Frühstück und zum Abendessen. Die kurz wirksamen Anteile sollen Frühstück und Abendessen abdecken, die lang wirksamen Anteile den Tag (inklusive Mittagessen) beziehungsweise die Nacht. Ziel ist die Erreichung des individuellen HbA1c-Ziels mit zwei Injektionen. Gut geeignet ist diese Therapie für Patienten mit geregeltem Tagesablauf und gleichbleibender Mahlzeitengrösse oder auch für Patienten, für die eine ICT nicht geeignet beziehungsweise nicht umsetzbar ist.
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Tabelle 2:
Aktuell verfügbare orale Antidiabetika (OAD) in Kombination mit Insulin
OAD Metformin
Sulfonylharnstoffe
Zulassung mit Insulin
DPP-4-Hemmer (Saxagliptin, Sitagliptin, Vildagliptin) SGLT-2-Hemmer (Dapagliflozin)
Glinide (Repaglinid)
α-Glukosidase-Hemmer
Bemerkungen
Erster Kombinationspartner mit Insulin; nur bis zu einer GFR > 60 ml/min zugelassen; reduziert die notwendige Insulindosis, günstig für die Gewichtsentwicklung
In Kombination mit Insulin besteht erhöhte Hypoglykämiegefahr, insbesondere bei reduzierter GFR; einsetzbar bis zu einer GFR von 30 ml/min, ggf. Insulindosis reduzieren; vermehrte Gewichtszunahme
In der Monotherapie keine Hypogkykämiegefahr; in Kombination mit Insulin können Hypoglykämien auftreten; DPP-4-Hemmer reduzieren die notwendige Insulindosis; eine Dosisreduktion ist ab einer GFR von < 50 ml/min nicht notwendig
In der Monotherapie keine Hypogkykämiegefahr; in Kombination mit Insulin können Hypoglykämien auftreten; SGLT-2-Hemmer reduzieren die notwendige Insulindosis; sind ab einer GFR von ≤ 60 ml/min nicht empfohlen
In Kombination mit Insulin erhöhte Hypoglykämiegefahr, ab einer GFR von ≤ 25 ml/min kontraindiziert; reduzieren die notwendige Insulindosis, empfohlene Startdosis 3 x 0,5 mg/Tag
In der Monotherapie keine Hypogkykämiegefahr; in Kombination mit Insulin können Hypoglykämien auftreten; bei Hypoglykämien sollte nur Traubenzucker eingenommen werden; ab einer GFR von ≤ 25 ml/min kontraindiziert; langsame Dosistitration notwendig wegen zum Teil ausgeprägter gastrointestinaler Nebenwirkungen
Zu bedenken ist, dass die CT eine eher «starre» Insulintherapie ist, die nur bedingt Flexibilität ermöglicht. So besteht besonders bei unregelmässiger Nahrungsaufnahme eine erhöhte Hypoglykämiegefahr. Bei Verwendung von Mischinsulin, bestehend aus Normalinsulin und NPH-Insulin, werden aufgrund der Pharmakokinetik des Normalinsulins zur Vermeidung von Hypoglykämien gelegentlich Zwischenmahlzeiten notwendig. Da bei den meisten Patienten auf die Kalorien einer Zwischenmahlzeit verzichtet werden sollte, bietet sich die Wahl eines sogenannten Analog-Mischinsulins an. Hier sind keine Zwischenmahlzeiten notwendig. Der postprandiale Blutzuckeranstieg nach dem Frühstück beziehungsweise Abendessen ist zudem häufig geringer ausgeprägt. Ausserdem kann bei den meisten Patienten der «Spritz-Ess-Abstand» entfallen. Praktisch wird das Insulin, das heisst das Mischungsverhältnis, abhängig vom Blutzuckerprofil gewählt. Bei Patienten, die die höchsten Werte im BZ-Tagesprofil hauptsächlich nach dem Frühstück bis zum Mittagessen haben (Hauptmahlzeit Frühstück), wird ein 50/50-Mischinsulin gewählt. Bei Patienten, die die höchsten Werte zum oder nach dem Mittagessen/am Nachmittag haben (Hauptmahlzeit Mittagessen), wird meist ein 25/75- beziehungsweise 30/70-Mischinsulin gewählt. Die Insulinmengenverteilung erfolgt bei normalem Essverhalten zu zwei Drittel morgens und einem Drittel abends. Die Startdosis kann zum Beispiel anhand des HbA1c-Wertes erfolgen. Ein vorsichtiges Vorgehen zur Vermeidung von Hypoglykämien ist zu empfehlen. HbA1c-Werte < 7,5 Prozent bedingen eine Startdosis von 0,2 E/kg KG/Tag, ein HbA1c-Wert > 7,5 Prozent rechtfertigt eine Startdosis von 0,3 E/kg KG/Tag (9).
Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT), Basis-Bolus-Therapie Die ICT erlaubt eine Art physiologische Insulinsubstitution. Ersetzt wird neben basalem auch prandiales Insulin. Die ICT ist sehr flexibel, allerdings ist sie auch die aufwendigste Therapieform (4–5 Injektionen/Tag). Meist wird sie bei Typ-2Diabetes in einem fortgeschrittenen Diabetesstadium oder bei erheblichen Entgleisungen nötig. Die ICT bietet Flexibilität bezüglich des Spritzzeitpunkts und der Dosis. Meistens können fixe Dosen zu den Mahlzeiten gegeben werden, eine kohlenhydratadaptierte Insulindosierung ist bei Patienten mit Typ2-Diabetes nur selten notwendig. Von Vorteil ist bei vielen Patienten eine sogenannte Insulintabelle (Spritzplan), bei der zusätzlich zur fixen Mahlzeiteninsulindosis «Korrekturinsulin» je nach präprandialem Blutzuckerausgangswert addiert beziehungsweise subtrahiert wird. Das steigert bei vielen Patienten Effektivität und Sicherheit der prandialen Insulingaben. Beim praktischen Umsetzen kann man sich zum Start auch am HbA1c-Wert orientieren. Bei > 7,5 Prozent wäre eine Startdosis von 0,3 E/kg KG sinnvoll. Initial entfallen meist 40 Prozent der berechneten Insulindosis auf das Basalinsulin, die restlichen 60 Prozent werden zu den Mahlzeiten, zum Beispiel im Verhältnis von 2:1:1 (vergleichbar grosse Mahlzeiten), verteilt. In der Folge muss die Dosis weiter angepasst werden (9).
Orale Kombinationspartner zur Insulintherapie Je nach gewählter Insulintherapiestrategie ist eine Kombination mit OAD sinnvoll. Mittlerweile können nahezu alle OAD mit Insulin kombiniert, das heisst vor allem in der BOT kombiniert werden (Tabelle 2). Folgende Kernaussagen lassen sich festhalten:
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1. Eine Kombination mit Metformin sollte grundsätzlich zu jeder Insulintherapie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes erfolgen, solange keine Kontraindikation gegenüber Metformin beziehungsweise eine Unverträglichkeit vorliegt.
2. Eine BOT wird effektiver, wenn das Basalinsulin mit mindestens einem oder besser zwei OAD kombiniert wird. Die Kontraindikationen der OAD müssen berücksichtigt werden. An erster Stelle steht Metformin, als zweites OAD wird zunehmend häufiger ein DPP-4-Hemmer eingesetzt (im Vergleich zum Sulfonylharnstoff geringeres Hypoglykämierisiko).
3. Eine BOT plus Basalinsulin plus einmal am Tag kurz wirksames Insulin profitiert ebenfalls von der Kombination mit einem, besser mit zwei OAD. Das zweite OAD nach Metformin behält die günstigen Effekte auf die nicht mit kurz wirksamem Insulin abgedeckten Mahlzeiten.
4. Bei einer BOT plus Basalinsulin plus zweimal kurz wirksames Insulin kann häufig auf das zweite OAD nach Metformin verzichtet werden.
5. Eine ICT wird üblicherweise nur mit Metformin kombiniert, solange keine Kontraindikation gegenüber Metformin beziehungsweise eine Unverträglichkeit vorliegt.
6. Seit Kurzem sind Kombinationen von Insulin mit GLP-1Rezeptor-Agonisten zugelassen. Vor einer solchen Therapie sollte der aktuelle Zulassungsstatus geprüft werden.
Neue Insuline Eine ganze Reihe neuer kurz und lang wirksamer sogenannter «Zweitgeneration-Analoginsuline» befinden sich aktuell in klinischen Prüfungen. Seit März 2013 neu zugelassen ist das ultralang wirksame Insulin Degludec (Tresiba®) mit neuer, innovativer, verzögerter Freisetzung aus Multihexameren (15). Trotz einer deutlich längeren Wirkdauer als 24 Stunden (> 42 Stunden) wird das Insulin bei den meisten Patienten einmal täglich gespritzt. Als Vorteil zeigte sich in den Zulassungsstudien gegenüber dem aktuellen Goldstandard Insulin Glargin, dass bei ähnlicher HbA1c-Effektivität die Rate an Hypoglykämien etwas geringer ausfällt (15). Interessant ist auch die Tatsache, dass Degludec, anders als die bisher verfügbaren basalen Analoginsuline, mit kurz wirksamem Insulin mischbar ist, sodass eine BOT-plus-Strategie und vor allem auch die bisherige Mischinsulintherapie mit NPH-Insulin als basalem Anteil durch diese neue Option ergänzt beziehungsweise möglicherweise ersetzt werden könnte. Diverse weitere Insuline mit neuen Mechanismen zur Veränderung der Pharmakokinetik sind in Erprobung. Das beinhaltet auch die sogenannten «Smart-Insuline» die bei hohem Blutzuckerspiegel effektiver wirken oder gezielt auf den Leberstoffwechsel, den primären Wirkort von Insulin,
Einfluss nehmen (16). Auch an Insulinen, die nicht mehr
injiziert werden müssen, vor allem an oral applizierbarem
Insulin, wird weiter intensiv geforscht.
O
Dr. med. Thorsten Siegmund
Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Angiologie
Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen
D-81925 München
Interessenkonflikte: Vorträge beziehungsweise Teilnahme an Advisory Boards: BerlinChemie, Lilly, NovoNordisk, Sanofi, MSD, Novartis, AstraZeneca/BMS.
Literatur: 1. www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-001gk_S3_Typ-2-Diabetes_Therapie_
2014-06.pdf. 2. Inzucchi SE et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes: a patient-cen-
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Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 9/2014. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Anpassungen an Schweizer Verhältnisse erfolgten durch die ARS-MEDICI-Redaktion.
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