Transkript
BERICHT
Flugreisen und Thromboserisiko
Wie hoch ist das Risiko wirklich?
Dass Langstreckenflüge ein gewisses Thromboserisiko mit sich bringen, gilt seit Jahren als erwiesen. Viele Reiseveranstalter und Fluggesellschaften weisen ihre Kunden darauf hin und empfehlen präventiv «Venengymnastik», ausreichendes Trinken und lockere Kleidung. Abgesehen davon, dass ein erhöhtes Thromboserisiko durch stundenlanges Stillsitzen wahrscheinlich auch bei Auto-, Bus- und Bahnreisen besteht, stellt sich die Frage, wie hoch das absolute Risiko ist und für wen spezielle Präventionsmassnahmen nötig sind.
RENATE BONIFER
Mit dem Begriff «Touristenklassesyndrom» prägten der Arbeitsmediziner Ian S. Symington und sein Koautor, der Pneumologe B. H. R. Stack, 1977 eine schlagzeilentaugliche Bezeichnung für das Phänomen, dass langes, regungsloses Sitzen das Thromboserisiko erhöhen kann (1). Sie hatten bei 8 Personen, die eine längere Reise bei augenscheinlich guter Gesundheit angetreten hatten, nach der Reise Lungenembolien diagnostiziert. Auch wenn nur 3 von ihnen geflogen waren – die anderen waren per Auto, Zug und/oder Schiff unterwegs –, blieb das «Touristenklassesyndrom» als gesundheitliches Risiko vornehmlich bei Flugreisen im kollektiven Gedächtnis. Aufsehen erregte eine Studie, die Mitte der 80er-Jahre von R. Sarvesvaran, Forsensiker an der Universität London, publiziert wurde (2). Er hatte von 1979 bis 1982 am Flughafen London Heath-
row, einem bereits damals zu den grössten der Welt zählenden Flughäfen mit Millionen von Passagieren, in der Ankunftshalle innert 3 Jahren 61 plötzliche Todesfälle gezählt, 11 davon aufgrund einer Lungenembolie (18%). In der Abflughalle zählte er im gleichen Zeitraum 28 plötzliche Todesfälle, davon 1 wegen Lungenembolie (3,5%). Den vorläufigen Gipfel öffentlicher Aufmerksamkeit erreichte das Thema im Herbst 2000, als eine junge Frau nach einem 20-Stunden-Flug von Sydney nach Heathrow noch am Flughafen an einer Lungenembolie starb. In den folgenden Monaten verunsicherten Horrorschlagzeilen Reisende wie Ärzte (3). Im Kleingedruckten war bereits damals zu lesen, dass das absolute Risiko tödlicher Komplikationen angesichts Millionen von Flugpassagieren eher gering sei, und die bis heute gängigen Präventionstipps wurden einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Seitdem versuchte man in einer ganzen Reihe von Studien das mit Flugreisen assoziierte relative und absolute Risiko für Lungenembolien (LE), tiefe Venen-
thrombosen (TVT) beziehungsweise venöse Thromboembolie (VTE) insgesamt zu beziffern. Daten zu anderen Reisemitteln gibt es kaum, sodass im Folgenden nur von Flugreisen die Rede ist. Eine VTE gilt jeweils bis 8 Wochen nach einem Flug als «Flugthrombose».
Die meisten Flugthrombosen bleiben asymptomatisch In insgesamt 5 prospektiven Studien wurden Reisende mit einem niedrigen oder mittleren Thromboserisiko vor und nach einem mindestens 8-stündigen Flug auf TVT untersucht (zitiert in [4]). Die TVT-Inzidenz betrug je nach Studie 0 bis 12 Prozent. Im Durchschnitt müssten demnach 1,7 Prozent der Langstreckenpassagiere mit einer venösen Thromboembolie rechnen. Lässt man die Studie mit dem 12-Prozent-Anteil als statistischen Ausreisser unberücksichtigt, wären es 1,4 Prozent. Meist handelte es sich um isolierte venöse Thromboembolien in der Wade. Insgesamt waren nur 0,3 Prozent der venösen Thromboembolien symptomatisch (4).
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ARS MEDICI 14/15 I 2014
Symptomatische VTE nach Langstreckenflügen dreimal häufiger In einer Studie befragte man 8755 Angestellte international tätiger Firmen und Organisationen in einem Zeitraum von 5 Jahren, ob symptomatische VTE aufgetreten waren, und korrelierte das mit dem Flugreiseverhalten (5). Insgesamt wurden 53 VTE gezählt, 22 davon im Zusammenhang mit einem Langstreckenflug (> 4 Stunden). Man errechnete eine Inzidenz von 3,2/1000 Personenjahre für die Flugreisenden im Vergleich zu 1/1000 Personenjahre für die Nichtflugreisenden oder anders ausgedrückt 1 VTE pro 4656 Langstreckenflüge. Das Risiko stieg mit der Flugdauer und wenn viele Flüge innert kurzer Zeit erfolgten. Das Risiko blieb in den ersten beiden Wochen nach dem Flug erhöht und kehrte nach 8 Wochen auf das Ausgangsrisiko zurück. Das VTE-Risiko war in dieser Studie höher bei jüngeren Personen (< 30 Jahre), bei Frauen, die orale Kontrazeptiva einnahmen, bei besonders kleinen (< 165 cm) oder grossen (> 180 cm) Personen sowie bei Übergewichtigen. Das unterstreicht einmal mehr die Bedeutung individueller Risikofaktoren (s. unten). Ein günstiges Risikoprofil könnte möglicherweise (mit-)erklären, warum eine kürzlich publizierte Studie mit 2630 Flugzeugpiloten für diese kein erhöhtes VTE-Risiko ergab (6), obgleich man das intuitiv annehmen würde.
Lungenembolien sind extrem selten Die Auswertung von mehr als 300 Millionen Flügen ergab, dass symptomatische frühe Lungenembolien nach Langstreckenflügen sehr selten sind. Die Inzidenz beträgt demnach 1/115 Millionen für Flüge unter 6 Stunden, 0,5/1 Million für alle Flugreisenden und 5/1 Million bei Flügen über 12 Stunden (zitiert in [4]). Auch zeigte sich, dass die Lungenembolien bei Flugreisenden meist bei Personen mit zuvor bestehenden VTE-Risikofaktoren auftreten.
Risikofaktoren Je länger der Flug dauert, umso stärker steigt das Thromboserisiko. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass ab einer Flugzeit von 3 Stunden das Risiko messbar ansteigt (4). In einer Studie errechnete man einen Risikoanstieg um 18 Prozent für VTE pro 2 Stunden längerer Flugdauer, wobei das eher als Schätzung zu verstehen ist: Das statistische Intervall lag zwischen einem 4 bis 33 Prozent höheren Risiko (7). Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht gar bedeutender, sind jedoch die inviduellen Risikofaktoren für Thrombosen. Aus Studien zu Flugthrombosen weiss man, dass ein kürzlich erfolgter chirurgischer Eingriff oder eine Verletzung, frühere VTE, Varikosen, Krebs, Hormontherapien und Adipositas dazu gehören. Wie hoch die Relevanz der einzelnen Faktoren für das Entstehen einer Flugthrombose genau ist, weiss man nicht. Es gibt jedoch Daten zur Relevanz von VTE-Risikofaktoren im Allgemeinen; diese sind in Tabelle 1 aufgeführt.
Allgemeine Präventionstipps «Venengymnastik» (Fusswippen) ist sicher sinnvoll. Das Gleiche gilt für das Ab-und-zu-Aufstehen, bequeme Kleidung, eine gute Hydratation und einen allenfalls nur massvollen Konsum von Alkohol bei Flugreisen – all das kann sicher nicht schaden, aber durchaus nützen, auch wenn es dafür keine gute Evidenz aus Studien gibt (4). Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das «Touristenklassesyndrom» auch Business- und Erste-Klasse-Passagiere treffen kann. Möglicherweise spielen neben dem Eingepferchtsein in engen Sitzreihen auch weitere flugbedingte Faktoren eine Rolle.
BERICHT
Tabelle 1:
Risikofaktoren für venöse
Was bedeutet das in absoluten Zahlen?
Thromboembolien (VTE)
Hohe Relevanz: O frühere TVT/LE O bestimmte Gerinnungsstörungen O Krebs
Mittlere Relevanz: O Alter > 60 Jahre O VTE bei Verwandten 1. Grades O Herzerkrankungen (chronische Herz-
insuffizienz, Status nach Herzinfarkt) O Übergewicht (BMI > 30) O akute Infektionen/entzündliche
25 000 000 Passagiere zählte man am Zürcher Flughafen 2013, schätzungsweise 3 250 000 von ihnen flogen 2013 von Zürich mit einem Langstreckenflug ab.
45 500 10 400
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Gemäss den vorliegenden Studien hätten von diesen Langstreckenpassagieren eine asymptomatische TVT entwickelt (14 von 1000), eine symptomatische TVT (3,2 von 1000 bzw. 3× mehr als normal) und eine Lungenembolie (1 von 200 000).
In der Allgemeinbevölkerung liegt die jährliche Inzidenz symptomatischer TVT im Durchschnitt bei zirka 0,1 Prozent (0,9 bis 1,3 auf 1000 Einwohner). Sie variiert je nach Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und verschiedenen Risikofaktoren; bei Spitalpatienten ist die TVT-Rate höher, wobei die Häufigkeit bei verschiedenen Erkrankungen sehr unterschiedlich ist (9).
Erkrankungen mit Immobilisation
Geringe Relevanz: O Schwangerschaft und Postpartalperiose O nephrotisches Syndrom O stark ausgeprägte Varikosis
Je nach Substanz hohe bis geringe Relevanz: O Hormonbehandlung, hormonelle
Kontrazeptiva
nach (4) und (9)
Kompressionsstrümpfe Die Autoren einer Cochrane-Review (8) kommen zum Schluss, dass Kompressionsstrümpfe das Risiko für eine asymptomatische TVT oder für Beinödeme erheblich senken. In den relevanten Studien dauerten die Flüge mindestens 7 Stunden; es traten keine symptomatischen TVT auf. Von den 2637 Probanden mit verfügbaren Follow-upDaten hatten 50 eine asymptomatische TVT, von diesen trugen 3 Personen Kompressionsstrümpfe, 47 trugen keine solchen Strümpfe (OR: 0,1; 95%-Konfidenzintervall: 0,04–0,25; p < 0,00001).
Kompressionsstrümpfe bis zum Knie vermindern demnach das Risiko für TVT, sie werden aber nicht generell für alle Flugreisenden empfohlen, sondern nur bei Vorliegen von Risikofaktoren. In einer aktuellen S3-Leitlinie zur VTEProphylaxe heisst es, dass auch lange Flug- oder Busreisen im Allgemeinen keine speziellen Prophylaxemassnahmen erfordern. Im Fall zusätzlicher Risikofaktoren könnten wadenlange Kompressionsstrümpfe jedoch sinnvoll sein. Eine Reise per se, ohne Vorliegen weiterer Risikofaktoren, rechtfertige keine Indikation zu einer speziellen physikalischen oder gar medikamentösen Prophylaxe (9).
Medikamentöse Prophylaxe nur in Ausnahmefällen Eine medikamentöse Prophylaxe wird nur bei einem sehr hohen Risiko empfohlen, da andernfalls der mögliche Schaden den möglichen Nutzen übersteigt (Tabelle 2). Als Antikoagulanzien kommen niedermolekulare Heparine infrage.
Tabelle 2:
Kompressionsstrümpfe und Antikoagulanzien als Prophylaxe
Risiko
niedrig mittel hoch
< 3 Stunden keine keine keine
Reisedauer
3–8 Stunden keine keine/evtl. Kompressionsstrümpfe Kompressionsstrümpfe
> 8 Stunden keine Kompressionsstrümpfe Kompressionsstrümpfe ± Antikoagulanzien
In der Guideline des Schweizer Ärztenetzwerks Medix (10) wird ebenfalls betont, dass Immobilität ohne akute Erkrankung keine Indikation für eine medikamentöse Thromboseprophylaxe sei. Bei Reisenden mit einer Thrombophilie könne vor längeren Reisen (> 4 Stunden) jedoch eine Prophylaxe mit NMH erwogen werden: Fragmin® (IE s.c. 7500 bei < 80 kg KG, 10 000 bei 80–100 kg KG und 12 500 bei > 100 kg KG) oder Clexane® (IE s.c. 8000 bei < 80 kg KG, 10 000 bei 80–100 kg KG). O Renate Bonifer Referenzen: 1. Symington IS, Stack BH: Pulmonary thromboembo- lism after travel. Br J Dis Chest 1977; 71(2): 138–140. 2. Sarvesvaran R: Suden natural deaths associated with commercial air-travel. Med Sci Law 1986; 26: 35–38. 3. Blech J: Schrecken der Luftfahrt. Der Spiegel 2001; 4: 184–185. 4. Watson HG, Baglin TP: Guidelines on travel-related venous thrombosis. Brit J Hematol 2011; 152: 31–34. 5. Kuipers S et al.: The absolute risk of venous thrombosis after air travel: a cohort study of 8755 employees of international organisations. PLoS Medicine 2007; 4(9): e290. 6. Kuipers S et al.: The incidence of venous thromboembolism in commercial airline pilots: a cohort study of 2630 pilots. J Thromb Haemost 2014; Epub ahead of print Jun 9, 2014. 7. Chandra D, Parisini E, Mozaffarian D: Meta-analysis travel and risk for venous thromboembolism. Ann Intern Med 2009; 151: 180–190. 8. Clarke M et al.: Compression stockings for preventing deep vein thrombosis in airline passengers. Cochrane Database Syst Rev 2006; (2): CD004002. 9. AWMF: S3-Leitlinie Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE). AWMF Leitlinien-Register Nr. 003/ 001. Stand: 1.5.2010; www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/ 003-001.html. 10. Violi A, Rosemann A: Guideline Venenthrombose und Lungenembolie. www.medix.ch. nach (4) 732 ARS MEDICI 14/15 I 2014