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FORTBILDUNG
Nichtinvasive Diagnostik der stabilen koronaren Herzkrankheit
Beim Verdacht auf eine koronare Herzkrankheit (KHK) reichen die diagnostischen Optionen von keiner apparativen Untersuchung über nichtinvasive Verfahren bis zur invasiven Koronarangiografie. In den aktuellen Richtlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zum Management der stabilen KHK wird für Patienten mit mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit eine Evaluierung mit nichtinvasiven Verfahren empfohlen.
E-JOURNAL OF THE ESC COUNCIL FOR CARDIOLOGY PRACTICE
Beim Verdacht auf eine stabile KHK ist nicht immer eine invasive Koronarangiografie (ICA) erforderlich. Häufig kann die KHK auch mit nichtinvasiven Verfahren ausreichend evaluiert werden. Mit Funktionstests wie dem Elektrokardiogramm (EKG) und bildgebenden Stresstests können Myokardischämien nachgewiesen werden, und die computertomografische Angiografie (CTA) ermöglicht eine Visualisierung der Koronaranatomie. Konstantinos Koskinas von der Aristotle University Medical School in Thessaloniki (Griechenland) diskutiert die Vorund Nachteile nichtinvasiver Verfahren zur Diagnose der stabilen KHK entsprechend den Richtlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) von 2013. Ergänzend gibt er Hinweise zur Auswahl individuell geeigneter Methoden. Welche diagnostischen Verfahren zum Einsatz kommen sollten, hängt vor allem von der KHK-Wahrscheinlichkeit
Merksätze
O Nichtinvasive Diagnoseverfahren sind nur für Patienten mit einer Vortestwahrscheinlichkeit von 15 bis 85 Prozent geeignet.
O Die Auswahl eines geeigneten Verfahrens richtet sich nach den Patientencharakteristika sowie nach der lokalen Verfügbarkeit und der Expertise.
O Bei bildgebenden Stresstests sollte die körperliche einer medikamentösen Belastung vorgezogen werden.
vor der Diagnostik (Vortestwahrscheinlichkeit) ab, die anhand einfacher klinischer Charakteristika wie der Art des Brustschmerzes (typische Angina, atypische Angina, nichtanginöser Brustschmerz), dem Alter und dem Geschlecht des Patienten abgeschätzt werden kann (Tabelle). Die Sensitivität (richtigpositive Rate) nichtinvasiver Untersuchungen beträgt etwa 85 Prozent, und die Spezifität (richtignegative Rate) liegt bei 85 Prozent oder darunter. Nichtinvasive Tests werden deshalb nur für Patienten mit einer mittleren klinischen Vortestwahrscheinlichkeit von 15 bis 85 Prozent empfohlen. Bei einer Vortestwahrscheinlichkeit unter 15 Prozent (Tabelle, gelbe Felder) kann ohne weitere Diagnostik davon ausgegangen werden, dass keine KHK vorliegt. Bei Patienten mit einer Vortestwahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent (Tabelle, rote Felder) kann wiederum ohne weitere Untersuchungen eine KHK diagnostiziert werden.
Elektrokardiogramm (EKG) Beim Ruhe-/Belastungs-EKG handelt es sich um ein einfaches, sicheres und kostengünstiges Verfahren ohne Bildgebung. Allerdings liegt die Sensitivität nur bei etwa 45 bis 50 Prozent und die Spezifität bei 85 bis 90 Prozent, sodass sich das EKG eher für den Ausschluss als zur Bestätigung einer KHK eignet. Bei Patienten mit unauffälligem interpretierbarem Ruhe-EKG ohne ST-T-Abweichungen und einer Vortestwahrscheinlichkeit zwischen 15 und 65 Prozent leistet das Verfahren jedoch gute Dienste. Kann ein Patient für ein Belastungs-EKG keine ausreichende körperliche Anstrengung aufbringen, sollte ein bildgebendes Belastungsverfahren angewandt werden. Auch bei Auffälligkeiten im Ruhe-EKG wie einem Linksschenkelblock oder bei Einnahme von Digoxin (Digoxin Sandoz®) ist ein bildgebender Stresstest besser zur Evaluierung geeignet. Das EKG ist kontraindiziert bei Verdacht auf eine KHK mit schwerer symptomatischer Aortenstenose, unkontrollierten symptomatischen Arrhythmien oder bei hämodynamischen Instabilitäten und dekompensierter Herzinsuffizienz. Bei akuten nichtkardialen Erkrankungen, welche die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen oder die durch Anstrengung verschlimmert werden können (z.B. Infektionen, Thyreotoxikose), darf ebenfalls kein Belastungs-EKG durchgeführt werden. Antiischämische Medikamente vermindern die Herzfrequenz und die kardiale Arbeitslast und können daher mit falschnegativen Ergebnissen verbunden sein.
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Tabelle:
Vortestwahrscheinlichkeit einer KHK bei stabilem Brustschmerz (nach Koskinas)
Alter (Jahre) 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79 > 80
Typische Angina Männer (%) 59 69 77 84 89 93
Frauen (%) 28 37 47 58 68 76
Atypische Angina Männer (%) 29 38 49 59 69 78
Frauen (%) 10 14 20 28 37 47
Nichtanginöser Schmerz
Männer (%)
Frauen (%)
18 5
25 8
34 12
44 17
54 24
65 32
gelb: bei Werten < 15% auch ohne weitere Diagnostik sicher keine KHK; rot: bei Werten > 85% auch ohne weitere Diagnostik sicher KHK
Bildgebende Stresstests Bildgebende Stresstests weisen gegenüber dem EKG einige Vorteile auf. Zum einen ermöglichen sie eine Lokalisierung und Quantifizierung ischämischer Areale. Zum anderen kann eine obstruktive KHK auch bei Anomalitäten im RuheEKG evaluiert werden. Des Weiteren können bildgebende Belastungsverfahren unter körperlicher Anstrengung oder mithilfe einer medikamentösen Induzierung der Belastung durchgeführt werden. Diese Option ist bei Patienten mit geringer körperlicher Leistungsfähigkeit von Nutzen. Diagnostische Endpunkte zum Nachweis einer induzierbaren Ischämie sind die linksventrikuläre Wandbewegung (Stressechokardiografie, kardiale Magnetresonanztomografie [MRT]) und die myokardiale Perfusion (Myokardperfusionsszintigrafie, Perfusions-MRT).
Stressechokardiografie Die Sensitivität des Belastungsultraschalls beträgt 80 bis 85 Prozent, und die Spezifität liegt bei 80 bis 88 Prozent. Mit diesem Verfahren können Wandverdickungen und Wandbewegungsstörungen sowie eine Dilatation und die Abnahme der linksventrikulären systolischen Funktion unter Belastung evaluiert werden. Intravenöse Kontrastmittel verdeutlichen die endokardiale Grenze und verbessern so die diagnostische Genauigkeit. Für Patienten mit geringer körperlicher Leistungsfähigkeit ist Dobutamin (Dobutrex®) das Mittel der Wahl. Bei schwerem Bluthochdruck, bei hämodynamisch signifikanter linksventrikulärer Ausflussobstruktion oder anhaltenden ventrikulären Arrhythmien ist Dobutamin jedoch kontraindiziert. Als Second-Line-Optionen werden Vasodilatatoren wie Dipyramidol (als Einzelsubstanz nicht im AK der Schweiz) empfohlen. Im Vergleich zur SPECT-Myokardszintigrafie bietet die Stressechokardiografie eine bessere räumliche Auflösung und ermöglicht so die Erkennung subendokardialer Ischämien. Die Bildqualität kann durch bestimmte Patientencharakteristika wie Adipositas, Lungenerkrankungen oder durch Atmungsbewegung eingeschränkt werden.
SPECT-Myokardperfusionsszintigrafie Bei körperlicher Belastung liegt die Sensitivität der SPECT(single photon emission computed tomography)-Myokard-
szintigrafie bei 73 bis 92 Prozent, und die Spezifität beträgt 63 bis 87 Prozent. Bei medikamentöser Belastung liegt die Sensitivität der SPECT bei 90 bis 91 Prozent, und die Spezifität beträgt 75 bis 84 Prozent. Zur Diagnose einer KHK weist die SPECT eine bessere Sensitivität, die Stressechokardiografie dagegen eine bessere Spezifität auf. Eine reduzierte regionale Traceraufnahme bei Belastung im Vergleich zur uneingeschränkten Perfusion in Ruhe ist das Hauptcharakteristikum einer reversiblen Myokardischämie. Eine transiente ischämische Dilatation unter Belastung und ausgeprägte belastungsinduzierte Wandbewegungsstörungen sind zusätzliche Hauptcharakteristika einer signifikanten KHK. Für die SPECT mit medikamentöser Belastung sind Vasodilatatoren wie Adenosin (Krenosin®), Dipyridamol oder Regadenoson (nicht im AK der Schweiz) die Substanzen der ersten Wahl. Bei Kontraindikationen von Vasodilatatoren wird Dobutamin empfohlen. Zu den Vorteilen der SPECT im Vergleich zur Stressechokardiografie gehören eine zufriedenstellende Bildqualität – auch bei Lungenerkrankungen – und eine verlässliche Evaluierung der Ischämie bei Wandbewegungsstörungen in Ruhe. Zu den Nachteilen gehören eine nicht unerhebliche Strahlenbelastung, hohe Kosten und eine schlechte räumliche Auflösung sowie Artefakte im Zusammenhang mit Atembewegung oder Brustgewebe.
Myokardszintigrafie mit PET Die Positronenemissionstomografie (PET) ist weniger gut untersucht als die SPECT, weist jedoch eine höhere Genauigkeit für die Diagnose der KHK auf. Die Vorteile gegenüber der SPECT liegen in einer geringeren Strahlenexposition, einer höheren Auflösung und weniger Attenuationsartefakten. Zudem kann mit der PET der Blutfluss quantifiziert werden, sodass mit diesem Verfahren auch die Feststellung einer mikrovaskulären Angina möglich ist.
Magnetresonanztomografie (MRT) Mit der kardialen Magnetresonanztomografie (MRT) können ischämieinduzierte Wandbewegungsstörungen (Dobutamin) oder die Myokardperfusion (Vasodilatatoren) evaluiert werden.
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Patienten mit stabilen Brustschmerzen
Typische Angina LVEF < 50% Überweisung zur ICA bei Eignung zur Revaskularisierung Bestimmung der Vortestwahrscheinlichkeit (Art des Brustschmerzes, Alter, Geschlecht) Evaluierung von Komorbiditäten/ Lebensqualität, Revaskularisierung unwahrscheinlich Medikamentöse Behandlung Vortestwahrscheinlichkeit < 15% Vortestwahrscheinlichkeit 15–85% Vortestwahrscheinlichkeit > 85%
Ausschluss der Diagnose KHK
Vortestwahrscheinlichkeit 15–65% und LVEF > 50%
Nichtinvasive diagnostische Tests (Berücksichtigung der Eignung des Patienten,
Verfügbarkeit und Expertise)
Vortestwahrscheinlichkeit 65–85% oder LVEF < 50% mit atypischer Angina
Diagnose KHK
Vortestwahrscheinlichkeit 15–50%, Patient geeignet für CTA
• Belastungs-EKG, wenn möglich • vorzugsweise bildgebender Stresstest
• bildgebender Stresstest • Belastungs-EKG, wenn bildgebender
Stresstest nicht möglich
• Koronar-CTA
Ausschluss oder Bestätigung der Diagnose KHK
Unsichere Diagnose der stabilen KHK (Berücksichtigung Patientencharakteristika)
Ausschluss oder Bestätigung der Diagnose KHK
• 2. bildgebender Stresstest • Koronar-CTA • ICA
• bildgebender Stresstest (wenn noch nicht erfolgt)
Abbildung: Diagnostische Evaluierung bei Verdacht auf stabile KHK (nach Koskinass; LVEF: linksventrikuläre Ejektionsfraktion, ICA: invasive Koronarangiografie, KHK: koronare Herzkrankheit, EKG: Elektrokardiogramm, CTA: computertomografische Angiografie)
Die Dobutamin-Stress-MRT weist zur Feststellung einer obstruktiven KHK eine Sensitivität von 79 bis 88 Prozent und eine Spezifität von 81 bis 91 Prozent auf. Dieses Verfahren kann bei suboptimaler Bildqualität einer Stressechokardiografie (schmales akustisches Fenster bei Übergewicht oder Lungenerkrankung) von Nutzen sein. Bei der PerfusionsStress-MRT beträgt die Sensitivität 67 bis 94 Prozent, und die Spezifität liegt bei 61 bis 85 Prozent. Die Genauigkeit dieses Verfahrens ist mit der einer nuklearmedizinischen Bildgebung vergleichbar. Zu den Vorteilen der Perfusions-MRT gehören die Vermeidung von Strahlungsbelastung, eine hohe räumliche Auflösung und die Möglichkeit der absoluten Quantifizierung der Perfusion. Zudem sind die Signalcharakteristika weitgehend unabhängig vom körperlichen Habitus des Patienten. Nachteile des Verfahrens sind hohe Kosten und eine begrenzte Verfügbarkeit.
CTA eine Sensitivität von 95 bis 99 Prozent und eine Spezifität von 64 bis 83 Prozent auf. Die diagnostische Performance ist bei Patienten mit niedriger bis mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit (15–50%) am besten. Bei diesen Patienten dient die CTA daher eher dem Ausschluss als der Bestätigung der KHK. Für eine zufriedenstellende Bildqualität ist eine strikte Patientenselektion entscheidend. Die Koronar-CTA sollte deshalb nur für Patienten ohne erhebliches Übergewicht, bei einem Agatston-Kalzium-Score unter 400, einem normalen Sinusrhythmus und einer Herzfrequenz von weniger als 65 Schlägen/min in Betracht gezogen werden. Ein wichtiger Vorteil der Koronar-CTA ist der sehr hohe negativ-prädiktive Wert, sodass eine ICA bei entsprechendem Befund sicher unterbleiben kann. Zu den Nachteilen gehören die begrenzte Verfügbarkeit, die hohe Strahlenbelastung und eine verminderte Bildqualität bei Arrhythmien oder erhöhter Herzfrequenz.
Evaluierung der Koronaranatomie - CTA Die computertomografische Angiografie (CTA) ermöglicht eine Evaluierung der Koronararterien in hoher Bildqualität. Zum Nachweis einer obstruktiven KHK weist die Koronar-
Auswahl geeigneter Verfahren Für Patienten, bei denen eine invasive Koronarangiografie erforderlich ist, werden keine nichtinvasiven Verfahren empfohlen (Abbildung).
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Für Patienten mit einer Prätestwahrscheinlichkeit von 15 bis 65 Prozent und ausreichender körperlicher Leistungsfähigkeit wird als erster diagnostischer Schritt ein Belastungs-EKG empfohlen. Bei lokaler Verfügbarkeit und Expertise wird dem Belastungs-EKG ein bildgebendes Belastungsverfahren vorgezogen. Bei speziellen Patientengruppen sollten immer bildgebende Stresstests statt eines Belastungs-EKG durchgeführt werden. Dazu gehören Patienten mit einer höheren Vortestwahrscheinlichkeit von 66 bis 85 Prozent oder einer linksventrikulären Ejektionsfraktion unter 50 Prozent und atypischer Angina. Die Auswahl eines individuell geeigneten bildgebenden Belastungsverfahrens richtet sich nach Patientencharakteristika, welche die Performance oder die Interpretierbarkeit der Untersuchungsmethode beeinträchtigen können. Bei ausreichender Leistungsfähigkeit ist ein bildgebendes Verfahren unter körperlicher Belastung vorzuziehen. Bei Patienten mit Linksschenkelblock, ventrikulärer Stimulation oder signifikanten Wandanomalitäten sollte auch bei ausreichender körperlicher Belastbarkeit eine vasodilatorische SPECT durchgeführt werden. Für Patienten ohne signifikante Wandbewegungsstörungen wird eine Stressechokardiografie oder eine Stress-SPECT als erste Option empfohlen. Dabei ist zu beachten, dass bei Patienten mit höherer Vortestwahrscheinlichkeit eine höhere Sensitivität von grösserer Bedeutung sein kann als eine hohe
Spezifität. Bei diesen Personen sollte daher eher eine Stress-
SPECT vorgenommen werden. Bei Patienten mit geringer
KHK-Vortestwahrscheinlichkeit kann dagegen eine höhere
Spezifität wichtiger sein. Hier empfiehlt sich demnach vor-
zugsweise die Stressechokardiografie. Die Stress-PET weist
sowohl eine hohe Sensitivität als auch eine hohe Spezifität
auf, die Anwendbarkeit ist jedoch durch die geringe Verfüg-
barkeit und hohe Kosten begrenzt.
Um bei Patienten mit geringer Vortestwahrscheinlichkeit
(15–50%) eine KHK auszuschliessen, kann eine anatomische
Evaluierung mit Koronar-CTA als Alternative zu bildgeben-
den Belastungsverfahren in Betracht gezogen werden.
Die CTA sollte bei geringer oder mittlerer Vortestwahr-
scheinlichkeit auch bei nicht eindeutigem Ergebnis eines
Belastungs-EKG oder eines bildgebenden Stresstests in
Betracht gezogen werden. Ausserdem wird die CTA bei
Kontraindikationen gegenüber Belastungstests empfohlen
oder wenn sonst eine ICA zum Ausschluss einer KHK
erforderlich wäre.
O
Petra Stölting
Koskinas KC: Appropriate use of non-invasive testing for diagnosis of stable artery disease. E-Journal of the ESC Council for Cardiology Practice 2014; Vol. 12, N 19.
Interessenkonflikte: keine deklariert
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