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Titel
Hygienewahn
Untertitel
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Lead
Als wir zum ersten Mal in Amerika im Restaurant assen und dann vom Tisch aufstanden, hatten wir ein Schockerlebnis. Denn die Serviertochter kam mit einer grossen Sprayflasche herbei, nebelte unseren Tisch und unsere Plastikstühle ausgiebig mit Desinfektionsmittel ein und wischte alles energisch mit einem Wegwerfpapierhandtuch ab.
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Rubriken — ARSENICUM
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5973
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Hygienewahn

A ls wir zum ersten Mal in Amerika im Restaurant assen und dann vom Tisch aufstanden, hatten wir ein Schockerlebnis. Denn die Serviertochter kam mit einer grossen Sprayflasche herbei, nebelte unseren Tisch und unsere Plastikstühle ausgiebig mit Desinfektionsmittel ein und wischte alles energisch mit einem Wegwerfpapierhandtuch ab. Wir fühlten uns wie hoch septische Dreckspatzen. Quasi aussätzig. Unsere Spuren mussten getilgt werden, damit die Gäste nach uns nicht erkrankten. Kaum in der Lobby in unserem Hotel angelangt, stand uns dort unübersehbar ein Desinfektionsmittelspender im Weg. Die Holzwand, an der er montiert war, gab genaue Anweisungen, wie man sich die Hände zu desinfizieren habe, und listete auf, wie diese simple Massnahme dabei helfe, tödliche Infektionen zu vermeiden. Tatsächlich fiel niemand tot um, als wir zum Lift schritten, in dem wir vergeblich nach Knöpfen suchten. Es gab keine – aus Sicherheitsgründen. Nicht nur wegen des Infektionsrisikos mussten wir keine verseuchten Schaltknöpfe drücken, wie das in herkömmlichen Aufzügen unabdingbar ist, sondern auch vor Gaunern und Terroristen schützte diese Hightech-Edelstahlzelle, die nur reagierte, wenn man seine Hotelchipkarte durch einen Schlitz zog. Was ich mit spitzen Fingern tat. Auch die Türklinke unseres Hotelzimmers musste ich nicht berühren – das wäre ja auch wirklich gruuusig gewesen –, sondern öffnete diese ebenfalls per Chipkarte. Im Entree dann die Chipkarte in einen Schlitz stecken – und schon gehen alle Lampen im Zimmer automatisch an. Denn wer will einen bakterienverseuchten Lichtschalter drücken? Beeindruckt ob so viel Hygiene ging ich aufs WC, aber vor der Verrichtung eines echt widerlichen Geschäfts (Essensreste, abgestossene Darmepithelien und tote Bakterien in stinkender Wurstform), welches aber leider absolut zwingend erledigt werden musste, entfernte ich noch die Papierbanderole mit dem Aufdruck «Für Sie desinfiziert!» von der WC-Brille. Ich warf sie in den mit Fusstaste zu öffnenden Abfalleimer. Dieser – obwohl aussen aus Metall und innen mit einem herausnehmbaren Plastikeimerchen versehen – war zusätzlich mit einem Plastiksäckchen ausgekleidet. Ich wusch mir die Hände, duschte, putzte die Zähne und gurgelte mit Mundwasser, jedoch mit dem deprimierenden Gedanken, dass meine Mundflora davon maximal eine halbe Stunde lang in Schach gehalten

wird. Danach habe ich wieder hoch virulente Erreger im Mund. Wenn ich jemanden beissen würde, müsste der andere Antibiotika nehmen. Um mich innerlich zu reinigen – obwohl ich keineswegs jemanden beissen wollte – griff ich zu einem altbewährten Desinfektionsmittel: Alkohol. In der Minibar waren Fläschchen mit verschiedenen Geschmacksrichtungen gelagert. Ich trank alle. Meine Frau war entsetzt. Nicht wegen meiner Leber, sondern wegen des Preises. Mein Hygieneargument des sauberen Mundes zog nicht. Sie küsste mich heimtückisch und kicherte, dass jetzt ihre Mundflora auf dem Vormarsch zu meinen Schleimhäuten sei. Ungeachtet des Risikos küsste ich zurück. Erinnerte mich an Weisheiten meines Grosis wie «Dreck reinigt den Magen!». Dachte an Studien, die behaupten, dass Kinder in schmuddeliger Umgebung weniger erkranken, weil so ihr Immunsystem trainiert wird. Doch in unserer heutigen immer steriler werdenden Welt ist alles von einer erschreckenden Sauberkeit. In der Beiz sind die Zahnstocher und die Trinkröhrli einzeln verpackt. Der Wirt klagt, dass er eine Busse von der kantonalen Inspektion gefasst hat, weil sein greiser Vater, der gelegentlich aushilft, ihm immer wieder ein frisch gewaschenes Handtuch neben das Lavabo hängt, weil er nicht begreift, dass Papierhandtücher Pflicht sind. Und dass er Speiseschüsseln mit Folie überdecken muss, wenn er sie nur fünf Meter weit trägt. Bald, so jammert der Wirt, wird er nur noch Convenience Food einkaufen. Von der Gefriertruhe direkt in die Friteuse oder auf den Teller. Schnell und sauber. Keine Kunden, die über Schneckenbisse im Salat maulen, sich vor Listerien im Käse fürchten oder reklamieren, dass die frisch vom Bauer geernteten reifen Himbeeren allzu stark nach Himbeeren schmecken. Das Diktat der Verpackungs- und der Hygieneindustrie sei allmächtig, meinte er seufztend. Am nächsten Morgen in meiner Praxis freue ich mich, dass hier noch gegen dieses Dikat rebelliert wird. Nach dem Händedruck des Patienten trage ich kein Sterilium auf. Und die Spritze, mit dem ich ihm Blut nehme, werfe ich nicht in eine teure Spezialdose, sondern in einen Plastikkübel, in dem früher mal Motoröl war, und versorge das Ding, wenn es voll ist, im Hausmüll für die Kehrichtverbrennung.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 13 I 2014