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FORTBILDUNG
Medikamentöse Behandlung der Epilepsie bei Erwachsenen
Bei der Epilepsie handelt es sich um eine Gehirnerkrankung mit vielfältigen Ursachen und Erscheinungsformen. Für die Behandlung stehen zahlreiche Antiepileptika zur Verfügung. In einer Übersichtsarbeit wurde der aktuelle Wissensstand zur Therapie erwachsener Epilepsiepatienten zusammengefasst.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
ersten Anfall das Risiko für einen zweiten Anfall im Vergleich zu keiner oder zu einem verzögerten Behandlungsbeginn senkt. Durch eine sofortige Therapie konnte hier zudem eine Verlängerung der Zeitspanne bis zum zweiten Anfall erzielt werden. Die Zeit bis zum Erreichen einer zwei Jahre andauernden Remission wurde in dieser Studie durch den frühzeitigen Behandlungsbeginn verkürzt. Bei nicht gesicherter Diagnose der Epilepsie sollten vor einem Beginn mit Antiepileptika weitere abklärende Untersuchungen wie ein Elektroenzephalografie-Monitoring durchgeführt werden.
Die Epilepsie ist die häufigste neurologische Erkrankung nach dem Schlaganfall. In entwickelten Ländern liegt die Prävalenz bei 700 Epilepsiepatienten pro 100 000 Personen. Bei etwa 70 bis 80 Prozent der Erwachsenen mit neu aufgetretener Epilepsie kann mit Antiepileptika eine vollständige Anfallsfreiheit erzielt werden. Etwa die Hälfte der Patienten berichtet jedoch über mindestens eine unerwünschte Wirkung unter dem First-Line-Medikament, und etwa 20 bis 30 Prozent der neu diagnostizierten Epilepsien sind medikamentenrefraktär. Mit den derzeit verfügbaren Antiepileptika wird zwar eine Verbesserung der Symptomatik erreicht, der pathologische Prozess der Epilepsie oder ihrer Begleiterkrankungen kann damit jedoch nicht verhindert oder rückgängig gemacht werden.
Wann sollte mit der Behandlung begonnen werden? Aus der Multicentre Study of Early Epilepsy and Single Seizure geht hervor, dass ein Behandlungsbeginn nach dem
Merksätze
O Bei 70 bis 80 Prozent der Epilepsiepatienten kann mit Antiepileptika eine Anfallsfreiheit erzielt werden.
O Etwa 20 bis 30 Prozent aller Epilepsien sind medikamentenrefraktär.
O Viele First-Line-Antiepileptika weisen eine vergleichbare Wirksamkeit auf.
O Die Auswahl eines Präparates sollte sich daher eher an der Verträglichkeit und der Sicherheit orientieren.
Auswahl des ersten Antiepileptikums Bei den meisten Patienten nimmt die Epilepsie einen konstanten Verlauf, der frühzeitig prognostiziert werden kann. Etwa 50 Prozent der Patienten mit neu einsetzenden fokalen oder generalisierten Anfällen erreichen bereits mit dem ersten Antiepileptikum eine Anfallsfreiheit. Die Evidenz zur relativen Wirksamkeit von Antiepileptika beschränkt sich auf einige Studien der Klasse 1. Auf der Basis dieser Untersuchungen haben die Autoren des Reviews eine Reihe bevorzugter First-Line-Optionen für verschiedene Erscheinungsformen der Epilepsie zusammengestellt (Kasten). In der Studie Standard and New Antiepileptic Drugs (SANAD), einer grossen randomisierten, nicht verblindeten pragmatischen Studie zur Monotherapie bei neu aufgetretener Epilepsie, zeigte sich bei fokalen Anfällen eine ähnliche Wirksamkeit von Carbamazepin, Lamotrigin und Oxcarbazepin, jedoch eine vergleichsweise geringere Effektivität von Gabapentin und Topiramat. In einer anderen randomisierten, offenen Studie erwies sich eine Levetiracetam-Monotherapie bei neu aufgetretener Epilepsie mit fokalen Anfällen als ebenso wirksam wie kontrolliert freisetzendes Carbamazepin und bei generalisierten Anfällen als ebenso wirksam wie verzögert freisetzende(s) Valproinsäure/Valproat. In einer Metaanalyse zur refraktären partiellen Epilepsie ergab sich aus indirekten Vergleichen der Ansprechraten eine Überlegenheit von Topiramat im Vergleich zu allen anderen Antiepileptika, während Gabapentin und Lacosamid weniger wirksam waren. Im Hinblick auf die NNT (Number Needed to Treat) erwiesen sich Topiramat und Levetiracetam als wirksamer, Gabapentin und Tiagabin (nicht im AK der Schweiz) dagegen als weniger wirksam. Insgesamt waren die Wirksamkeitsunterschiede jedoch zu gering, um Schlüsse im Hinblick auf eine Überlegenheit einzelner Substenzen ziehen zu können.
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Kasten:
Bevorzugte First-Line-Antiepileptika bei neu aufgetretener oder refraktärer Epilepsie bei Erwachsenen
Neu aufgetretene partielle Epilepsie O Carbamazepin (Tegretol® und Generika) O Gabapentin (Neurontin® und Generika) O Lamotrigin (Lamictal® und Generika) O Levetiracetam (Keppra® und Generika) O Oxcarbazepin (Trileptal, Apydan® extent) O Topiramat (Topamax®) O Valproat (Depakine® und Generika)
Neu aufgetretene idiopathische generalisierte Epilepsie O Lamotrigin O Topiramat O Valproat
Refraktäre partielle Epilepsie O Lacosamid (Vimpat®) O Pregabalin (Lyrica®) O Zonisamid (Zonegran®) O Perampanel (Fycompa®) O Clobazam (Urbanyl®)
Refraktäre idiopathische generalisierte Epilepsie O Clobazam O Levetiracetam
Verträglichkeit und Sicherheit Angesichts der vergleichbaren Wirksamkeit vieler First-LineAntiepileptika spielen die Verträglichkeit und die Sicherheit bei der Auswahl eines Präparats eine grosse Rolle. In der SANAD-Studie berichteten etwa 50 Prozent der Teilnehmer sowohl bei Einnahme älterer Substanzen wie Carbamazepin oder Valproinsäure als auch bei Anwendung neuerer Medikamente wie Lamotrigin, Gabapentin, Oxcarbazepin und Topiramat über mindestens eine Nebenwirkung. Somit ergaben sich keine Hinweise, dass neu zugelassene Medikamente besser verträglich sind als ältere. Die Inzidenz vieler unerwünschter Wirkungen kann durch langsames Titrieren und Vermeidung hoher Dosierungen gesenkt werden. Bei älteren Antiepileptika wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Phenobarbital (nicht im AK der Schweiz), Phenytoin (Phenhydan®, Phenytoin-Gerot®), Primidon (Mysoline®) oder Valproat kann es aufgrund einer Induktion oder Inhibierung von Leberenzymen zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten – auch mit anderen Antiepileptika – kommen. Dadurch kann die Wirksamkeit einzelner Substanzen beträchtlich vermindert oder verstärkt werden. Mit neueren, nicht enzyminduzierenden Substanzen wie Gabapentin, Lamotrigin oder Levetiracetam wird dieses Problem vermieden. Eine Umstellung auf nicht induzierende Substanzen sollte vorsichtig vorgenommen werden. Dies gilt vor allem, wenn die Anfälle noch nicht vollständig unter Kontrolle sind.
Was tun bei Versagen des ersten Regimes? Prinzipiell kann bei fortgesetzten Anfällen trotz Behandlung auf eine andere Substanz umgestellt (Substitution) oder eine Kombinationstherapie (Add-on) versucht werden. Keine der beiden Vorgehensweisen wird durch randomisierte Studien favorisiert. Viele Ärzte bevorzugen ein Add-on in kleinen Dosierungsschritten, weil so Durchbruchanfälle nach Absetzen eines Medikaments vermieden werden können. Aus randomisierten Studien geht allerdings hervor, dass die Chancen für eine Anfallsfreiheit mit jedem Folgeregime abnehmen.
Frauen Bei allen Epilepsiepatienten – und vor allem bei Frauen – besteht ein erhöhtes Frakturrisiko im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Das höhere Risiko ergibt sich zum einen als Folge der Epilepsie (Fraktur während eines Anfalls) und wird zusätzlich durch die Einnahme von Antiepileptika verursacht. Antiepileptika vermindern die mineralische Knochendichte und verändern den Knochenstoffwechsel. Dies trifft vor allem auf enzyminduzierende Substanzen zu, da die Induzierung des Zytochroms P die Metabolisierung des Vitamins D3 zu polaren inaktiven Metaboliten beschleunigen kann. Bei Männern mit hohem Frakturrisiko konnte mit Risedronat plus Kalzium und Vitamin D das Auftreten neuer Knochenbrüche verhindert werden.
Schwangere und Neugeborene 2 von 3 Epileptikerinnen bleiben während der Schwangerschaft anfallsfrei. In einigen Fällen muss jedoch die Dosierung des Antiepileptikums angepasst werden. Dies ist beispielsweise bei Lamotrigin, Levetiracetam, Topiramat und Oxcarbazepin aufgrund einer erhöhten Clearance in der Schwangerschaft erforderlich, um das Risiko für Durchbruchanfälle zu senken. Bei Einnahme von Antiepileptika während der Schwangerschaft wurde in Studien ein erhöhtes Risiko für ein entsprechend dem Gestationsalter zu kleines Kind und einen Apgar-Score des Säuglings von unter sieben Punkten beobachtet. Viele Antiepileptika sind mit massiven Missbildungen verbunden und sollten daher während der Schwangerschaft vermieden werden. Valproat-/Valproinsäurepräparate sind derzeit die teratogensten Antiepileptika. Um das Risiko der kognitiven Teratogenität beim Säugling zu senken, wird für Epilepsiepatientinnen während der Schwangerschaft eine Folatsubstitution (≥ 4 mg Folsäure/ Tag) empfohlen. Nach der Geburt ist zu beachten, dass Primidon und Levetiracetam in klinisch bedeutsamen Mengen in die Muttermilch übergehen, Valproat, Phenytoin, Phenobarbital und Carbamazepin dagegen nicht.
Ältere Menschen Aufgrund der altersbedingten körperlichen Veränderungen wird für ältere Menschen eine Monotherapie mit gut verträglichen Antiepileptika empfohlen, die nicht mit Wechselwirkungen verbunden sind. Dazu gehören Gabapentin und Lamotrigin, niedrig dosiertes Topiramat und Levetiracetam. Bei älteren Patienten mit kognitiven Einschränkungen kann die Compliance Probleme bereiten.
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Komorbiditäten Bei Epilepsiepatienten kommen einige Komorbiditäten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger vor. Dazu gehören kardiale, gastrointestinale und respiratorische Erkrankungen sowie Schlaganfälle, Demenz und Migräne. Die Lebenszeitprävalenz von Depressionen, Suizidgedanken und generalisierten Angststörungen ist bei Epilepsiepatienten doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Vor Beginn mit einem Antidepressivum sollten iatrogene Ursachen der niedergeschlagenen Stimmung abgeklärt werden. Antiepileptika wie Phenobarbital, Vigabatrin (Sabril®), Topiramat, Tiagabin, Levetiracetam und Clobazam können bei Epilepsiepatienten depressive Symptome induzieren. Einige Substanzen der zweiten Generation wie Carbamazepin und Valproat und manche Antiepileptika der dritten Generation wie Lamotrigin und Pregabalin sind wiederum mit stimmungsstabilisierenden Eigenschaften verbunden, sodass es hier beim Absetzen zu depressiven Verstimmungen kommen kann.
Status epilepticus Beim Status epilepticus im ersten Stadium hat sich bukkales Midazolam (Buccolam®) als wichtiges Medikament in der ambulanten Behandlung erwiesen. Im zweiten Stadium gehören intravenöses Valproat, Levetiracetam und Lacosamid unter den neuen Antiepileptika sowie die älteren Substanzen
Fosphenytoin (nicht im AK der Schweiz), Phenytoin und Phenobarbital zu den bevorzugten Antiepileptika. Bei refraktärem Status epilepticus (drittes Stadium) sind Midazolam, Thiopental (Pentothal®) und Propofol (Disoprivan® und Generika) die Medikamente der Wahl. Bei der Behandlungsplanung sollten auch die Ursachen des Status epilepticus berücksichtigt werden.
Absetzen von Antiepileptika
Nach längerfristiger Anfallsfreiheit äussern Patienten häufig
den Wunsch, die Behandlung zu beenden. Die Entscheidung
darüber sollte sich am individuellen Risiko eines Anfallrezi-
divs nach Absetzen des Antiepileptikums orientieren. Dieses
Risiko ist in den beiden Jahren nach Beendigung der Be-
handlung etwa doppelt so hoch wie bei weiterer Medi-
kamenteneinnahme. Zudem ist zu bedenken, dass mit dem
erneuten Beginn mit Antiepileptika nach einem Anfall keine
sofortige und andauernde Wiederherstellung der Anfallskon-
trolle garantiert werden kann. Indes können Nebenwirkun-
gen und Medikamentenwechselwirkungen im Einzelfall auch
für eine Beendigung der Behandlung sprechen.
O
Petra Stölting
Schmidt D, Schachter SC: Drug treatment of epilepsy in adults, BMJ 2014; 348: g2546.
Interessenkonflikte: D. Schmidt hat Gelder von Eisai, Sun, UCB und Viropharma erhalten.
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