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BERICHT
Management funktioneller gastrointestinaler Störungen
Bessere Diagnostik, neue Therapieoptionen
Bei funktionellen gastrointestinalen Störungen handelt es sich um unspezifische Symptome, die wahrscheinlich grossteils psychologisch bedingt sind und gegen die keine wirksame Medikation vorhanden ist: Das sind nur einige der Vorstellungen, die laut Ansicht eines belgischen Experten schnellstmöglich auf den neuesten Stand zu bringen sind. Denn die bessere Diagnostik erlaubt mittlerweile den eindeutigen Nachweis der dahinterstehenden Pathophysiologie, und neue Therapieoptionen führen zu besseren Ergebnissen als je zuvor.
LYDIA UNGER-HUNT
Bei etwa 50 Prozent der Patienten mit gastrointestinalen Störungen ergäben die üblichen Routineuntersuchungen keine wirkliche Erklärung der Symptome, man gehe bei diesen Patienten daher von einer «Störung der Funktion, also von Motilität und Sensibilität aus», leitete Prof. Dr. Jan Tack von der Universität Löwen, Belgien, seinen Vortrag ein.
Reizdarm und Dyspepsie Der klinische Algorithmus für das Management dieser Patienten sei dabei unkompliziert: Bei Auftreten von Symptomen wie Bauchschmerzen, Unwohlsein oder Blähung sind zunächst eine Anamnese und klinische Untersuchung durchzuführen; «fehlen weitere Alarmsymptome, ist hier relativ rasch die Diagnose des Reizdarms zu stellen». Bei Dyspepsie ist das Vorgehen ähnlich: Bei Symptomen, die wahrscheinlich vom Gastroduodenum herrühren –
postprandiales Völlegefühl, frühe Sättigung, epigastrischer Schmerz oder Brennen –, ist der nächste Schritt die Endoskopie. Bei organischer Dyspepsie zeigen sich hier Ulzera, Ösophagitis oder Tumore. «Bei 70 Prozent dieser Patienten aber ist der Befund negativ, die Diagnose lautet daher: funktionelle Dyspepsie», erklärt Tack.
Symptome: heterogen, aber patientenspezifisch Die in der Einleitung genannten Glaubenssätze in Bezug auf funktionelle gastrointestinale Störungen – unspezifisch, psychologisch bedingt, keine effektiven Medikamente – hielten sich in der Praxis hartnäckig, berichtet der Experte. Die wissenschaftliche Datenlage könne sie allerdings widerlegen. «Die meisten Patienten mit funktioneller Dyspepsie (FD) können sehr spezifische Hauptsymptome angeben», wie etwa Völlegefühl, frühe Sättigung, Blähung oder Schmerzen. Bei 25 Prozent ist der Beginn akut, 17 Prozent geben einen zusätzlichen Infekt an. Das scheint sich auf die nachfolgende Symptomatik auszuwirken: Postinfektiöse FD-Patienten leiden eher an Übelkeit, Gewichtsverlust und Erbrechen, zitiert der Experte aus einer Studie (1). «Die Symptome nach einer Mahlzeit können daher sehr heterogen, aber für den einzelnen Patienten spezifisch sein», betont Tack.
Bessere Diagnostik weist Pathophysiologie nach Der Grund für den mangelnden Nachweis pathophysiologischer Anomalien liege hingegen eher bei den «falschen Werkzeugen». «Bei einer postprandialen Szintigrafie von gesunden Kontrollen und FD-Patienten zeigte sich die Nahrung Letzterer nicht im proximalen Magen wie bei den Kontrollen, son-
dern distal davon. 56 Prozent der FDPatienten haben diese gestörte Akkomodation der Nahrung – wir messen sie zwar nicht routinemässig, trotzdem ist diese Störung vorhanden.» (2) Mithilfe besserer diagnostischer Methoden lässt sich auch die Mär der «eingebildeten Symptome» widerlegen. Tack: «In einer Studie wurde gesunden Freiwilligen ein Ballon im Magen aufgeblasen und die Reaktion kortikaler Schmerzbereiche untersucht. FD-Patienten benötigen zum Erreichen derselben Schmerzen geringere Ballonvolumina, die Aktivierung der kortikalen Schmerzbereiche zeigt jedoch bei beiden ein ähnliches Bild. Mein Fazit: Diese Patienten haben einfach eine erhöhte Sensibilität, ihre Symptome sind echt und keinesfalls eingebildet.» (3) Biopsien von FD-Patienten zeigten, dass deren duodenale Schleimhaut einen gesenkten elektrischen Widerstand sowie einen erhöhten Ausfluss fluoreszenter Moleküle aufweist, was mit einer veränderten Expression junktionaler Proteine assoziiert war (4). «Pathophysiologische Anomalien sind also eindeutig bei diesen Patienten vorhanden», fasst der Gastroenterologe zusammen.
Zerebraler Einfluss Das Gehirn spielt jedenfalls eine wichtige Rolle. «Die abnormale Motilität und Sensitivität werden über afferente Nerven an das ZNS gemeldet und dort verarbeitet, wobei vor allem die Somatisierung einen Einfluss auf das Melden von Symptomen und das Krankheitsverhalten hat; Depression oder Angst beeinflussen das Krankheitsverhalten ebenfalls.» (5) Kann also eine Psychotherapie helfen? Tack ist skeptisch. «Eine Studie verglich zwar die Psychotherapie versus die übliche Therapie bei FD-Patienten, aber der Effekt
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Take Home Messages
O Funktionelle gastrointestinale Störungen sind sehr häufig.
O Die Symptome sind echt und basieren auf nachweisbarer Pathophysiologie.
O Die detaillierte Anamnese zielt auf die Identifizierung individueller Schlüsselsymptome und deren Beziehung zu physiologischen Ereignissen wie der Nahrungsaufnahme ab.
O Geben Sie dem Patienten eine «positive» Diagnose (im Gegensatz zu «Sie haben nichts»).
war höflich gesagt nur wenig beeindruckend.» (6) Psychotropika wurden in einer japanischen Studie untersucht: «Das Anxiolytikum Tandospiron bei FD-Patienten zeigte zu Woche 3 und 4 eine überlegene Symptomlinderung versus Plazebo. Eigenartigerweise liess sich aber keine Verbesserung der Angstscores beobachten, hier scheinen zusätzlich andere Effekte vorzuliegen.» (7) Prucaloprid wiederum untersuchte Tack selbst in einer Studie an Patienten mit chronischer Obstipation und konnte hinsichtlich Schmerzen, Unwohlseins und Blähungen einen «grossen Effekt» nachweisen (8). Weitere Ergebnisse: O Linaclotid führt über eine Beeinflus-
sung von Chloridsekretion und afferenten Nerven zu einer 50-prozentigen Verbesserung der Schmerzintensität (9).
O Der NK2-Antagonist Ibodutant zeigte bei IBS-Diarrhö ein um 23 Prozent besseres Ansprechen als Plazebo bei Frauen, aber nicht bei Männern – «der Grund für diese Geschlechterdifferenz ist noch unbekannt». (10)
O Acotiamid, ein muskariner Autorezeptor-Inhibitor und Cholinesterasehemmer, erhöhte bei gesunden Kontrollen und FD-Patienten das nach einer Mahlzeit gemessene proximale Magenvolumen und linderte postprandiale Symptome wie Völlegefühl und Blähung (aber nicht Schmerzen und Brennen) (11).
Ein weiterer Ansatz ist die Änderung
des Ernährungsverhaltens, aber auf
«wissenschaftlicher Basis», wie Tack
betonte. Halmos et al. zeigten bei ihren
Patienten einen signifikanten Nutzen
der «Fodmap»-Ernährung hinsichtlich
Blähung und Stuhlkonsistenz, wobei
Fodmap für «fermentable oligo-, di- and
monosaccharide and polyols» steht (12).
«Hier würde ich sagen: Die Evidenz ist
noch nicht ausgereift genug, um wirk-
lich Empfehlungen geben zu können,
aber die Basis für weitere Forschung ist
jedenfalls gegeben, meinte Tack und
resümierte: «Insgesamt scheinen sich
spannende neue Therapieoptionen zu
entwickeln, mit bisher nicht gesehenen
Behandlungserfolgen.»
O
Lydia Unger-Hunt
Literatur: 1. Karamanolis G et al.: Association of the predominant
symptom with clinical characteristics and pathophysiological mechanisms in functional dyspepsia. Gastroenterology 2006; 130: 296–303. 2. Boeckxstaens GE et al.: The proximal stomach and postprandial symptoms in functional dyspeptics. Am J Gastroenterol 2002; 97: 40–48. 3. Vandenberghe J et al.: Regional cerebral blood flow during gastric balloon distention in functional dyspepsia. Gastroenterology 2007; 132: 1684–1693. 4. Vanheel H et al.: Impaired duodenal mucosal integrity and low-grade inflammation in functional dyspepsia. Gut 2013, epub ahead of print. 5. Labus J et al.: Randomised clinical trial: symptoms of the irritable bowel syndrome are improved by a psycho-education group intervention. Aliment Pharmacol Ther 2013; 37: 304–315. 6. Hamilton J et al.: A randomized controlled trial of psychotherapy in patients with chronic functional dyspepsia. Gastroenterology 2000; 119: 661–669. 7. Miwa H et al.: Efficacy of the 5-HT1A agonist tandospirone citrate in improving symptoms of patients with functional dyspepsia: a randomized controlled trial. Am J Gastroenterol 2009; 104: 2779–2787. 8. Tack J et al.: Effect of prucalopride on symptoms of chronic constipation. Neurogastroenterol Motil 2013; doi: 10.1111/nmo.12217. 9. Corsetti M, Tack J. FDA and EMA end points: which outcome end points should we use in clinical trials in patients with irritable bowel syndrome? Neurogastroenterol Motil 2013; 25: 453–457. 10. Tack JF et al.: Efficacy of ibodutant, a selective antagonist of neurokinin 2 receptors, in irritable bowel syndrome with diarrhoea (IBS-D): the results of a double-blind, randomised, placebo-controlled, parallel-group phase II study (the IRIS-2). Abstract 520, präsentiert im Rahmen der Digestive Disease Week 2013, 18. bis 21. Mai in Orlando. 11. Altan E et al.: Acotiamide, a novel gastroprokinetic for the treatment of patients with functional dyspepsia: postprandial distress syndrome. Expert Rev Gastroenterol Hepatol 2012; 6: 533–544. 12. Halmos EP et al.: A diet low in FODMAPs reduces symptoms of irritable bowel syndrome. Gastroenterology 2013; doi: 10.1053/j.gastro.2013.09.046.
Quelle: «Bringing science into the management of functional GI disorders», 21. United European Gastroenterology Week, 14. Oktober 2013, Berlin.
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