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Frühwarnsysteme
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Schwester Madeleine hatte zu meinen Zeiten als Oberarzt in der Poliklinik ein ganz spezielles Diagnose- und Kommunikationssystem. Leider musste ich ihr den Gebrauch des Systems auf Anweisung des Chefarztes verbieten, nachdem es ihm ein Vollpfosten beim Weihnachtsessen gesteckt hatte. Irgendwie hatte der Chef natürlich recht.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Frühwarnsysteme

S chwester Madeleine hatte zu meinen Zeiten als Oberarzt in der Poliklinik ein ganz spezielles Diagnose- und Kommunikationssystem. Leider musste ich ihr den Gebrauch des Systems auf Anweisung des Chefarztes verbieten, nachdem es ihm ein Vollpfosten beim Weihnachtsessen gesteckt hatte. Irgendwie hatte der Chef natürlich recht. Es geht nicht an, dass eine Pflegefachfrau einen kleinen Bleistiftkreis auf die Krankenakte eines ambulanten Patienten malt, weil sie ihn als A…och einschätzt. Aber auch Schwester Madeleine hatte recht. Immer. Sie hat sich nie in der Einschätzung getäuscht. Man war vorgewarnt. Konnte locker und souverän reagieren. Im Verlauf meiner Spitaltätigkeit arbeitete ich mit vielen solcher «Frühwarnsysteme» im Pflegedienst zusammen. Rainer, mehr als 30 Jahre Erfahrung in Akutpsychiatrie, wusste stets, wann Gefahr im Verzug war. Wenige Minuten vor einem drohenden Raptus konnte er auch die psychotischsten, angespanntesten Kranken noch beruhigen. Tobte der Patient bereits und wurde Rainer zu diesem Einsatz gerufen, ging er – entgegen jeder Lehrbuchanweisung – ganz nah zu ihm heran und sagte mit freundlicher Stimme: «Das losch jetzt aber lieber …» Meistens stoppte der Patient tatsächlich. Sonst griff der Pflegefachmann gekonnt zu und hielt den Patienten sanft fest, damit er sich und andere nicht verletzten konnte, bis er sich beruhigt hatte. Jahrelang habe ich versucht, hinter das Geheimnis des siebten Sinnes der Pflegenden zu kommen. Ohne Erfolg. Sie selbst konnten es auch nicht erklären. «Irgendöppis isch mit ere lätz gsi», meinte Schwester Ottilie, nachdem sie spontan einen Blutzuckertest bei einer stets stabilen, auf mich völlig unauffällig wirkenden Diabetikerin gemacht hatte, kurz bevor diese eine schwerste Hypoglykämie erlitt, die aber dank Ottilies Gespür sofort behandelt werden konnte. «Do duets karzinömele», meinte Pflegefachfrau Georgette, als ich mich fragte, ob ich die leichten Schluckschwierigkeiten des jungen Mannes weiter abklären sollte. Sie hatte recht. Dank ihr

konnte zeitnah operiert werden, und der Patient ist bis heute rezidivfrei. Pfleger Miroljub sah die Zukunft voraus, als er mir dringlich riet, einen Vorfall bei einem vermeintlich zufriedenen Patienten viel genauer zu dokumentieren, als ich das um drei Uhr nachts tun wollte. So blieben dem Spital und mir viel juristischer Ärger erspart, als sich der Patient als Querulant herausstellte, der mit aggressivem Haftpflichtanwalt zu klagen versuchte. Manchmal ist das schnelle (Vor-)Urteil der Pflegenden aber eine Katastrophe für die Patienten. «Dä hett doch nüt!», schnaubten sie, als ein introvertierter Gutangezogener auf die Notfallstation kam. Nachdem er vier Stunden gewartet hatte und erst dann seine von einem Hund zerfetzte Wade zeigen durfte, fluchte der Chirurg. Selbst Ordensfrauen in konfessionellen Spitälern (beider Gebetbücher) können ungottgefällig reagieren und vermeintlich Sittenlose unbarmherzig behandeln, wenn sie nicht realisieren, dass nicht jede Kürettage bedeutet, dass abgetrieben wird, sondern dass der Eingriff auch unsündige Gründe haben kann. Oft ist es ein unbedachter ärztlicher Spruch, der Patienten stigmatisiert. «Ein No-Future-Kid», murmelte ich einmal in der Kaffeeküche, als mich die Wurstigkeit eines Null-Bock-Teenagers genervt hatte. In Windeseile ging daraufhin das Gerücht durchs Spital, dass der 16-Jährige moribund sei und keine Zukunft mehr vor sich habe! Heute habe ich immer noch Wachhunde in der Praxis. Genau wie Schwester Madeleine liegen sie stets richtig. Bei mir würden sie sicher oft gerne einen Bleistiftkreis machen … Denn für meine Mitarbeiterinnen sind alle Patientinnen und Patienten «armi Hutte» und «armi Sieche», die das Recht haben, ihr Herz in extenso auszuschütten. Doch mitten im Sprechstundenstress will ich nur das Cerumen entfernen und nicht noch ein entlastendes Gespräch führen müssen. Inzwischen zeigen mir meine Mitarbeiterinnen die Redseligen mit einer «Schnatterschnabel»-Geste an. Welches Zeichen sie machen, wenn ich seufzend mit diesen Patienten im Sprechzimmer verschwinde, will ich lieber nicht wissen.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 12 I 2014