Transkript
FORTBILDUNG
Kompressionstherapie bei tiefer Venenthrombose: Wie weiter?
Studie mit überraschenden Ergebnissen
Die Kompressionstherapie stellt seit Jahrzehnten einen tragenden Pfeiler in der Behandlung der tiefen Venenthrombose (TVT) dar. Das Ziel der Kompression, die primär durch Anlegen von Kompressionsverbänden und nach Abklingen des Ödems mit Kompressionsstrümpfen erzielt wird, ist eine Verhinderung eines postthrombotischen Syndroms (PTS). Dieses tritt bei 25 bis 50 Prozent der Betroffenen nach TVT auf. Die kürzlich im «Lancet» erschienenen Ergebnisse des SOX-Trials stellen bisherige Vorgehensweisen infrage, denn demnach vermag das Tragen von Kompressionsstrümpfen die Inzidenz des postthrombotischen Syndroms nicht zu reduzieren (1). Was bedeutet das nun für die Praxis?
THE LANCET
In die Studie wurden insgesamt 806 Patienten eingeschlossen, die sich zwischen Juni 2004 und Februar 2010 zum ersten Mal mit den Symptomen einer proximalen TVT (mit oder ohne distale TVT oder Lungenembolie) präsentierten. Die TVT-Diagnose wurde zunächst mit Ultraschall objektiviert, anschliessend wurden die Betroffenen blockweise randomisiert. Rund die Hälfte der eingeschlossenen Patienten (n = 410) erhielten nach der Randomisierung einen Kompressionsstrumpf mit einem Druck von 30 bis 40 mmHg und wurden aufgefordert, ihn für 2 Jahre am betroffenen Bein zu tragen – und zwar vom Aufwachen am Morgen bis zum Schlafengehen. Die übrigen 396 Patienten erhielten einen Plazebokompressionsstrumpf, dessen Druck im Bereich des Knöchels zirka 5 mmHg betrug. Weder der Patient noch das Gesundheitspersonal oder die in die Studie involvierten Personen waren über die jeweilige Behandlung informiert.
Ein Grossteil der Patienten war sich nicht im Klaren über das Ausmass der Kompression Um die Verblindung aufrechtzuerhalten, wurden die Patienten angehalten, die Strümpfe im Rahmen der nach 1, 6, 12, 18 und 24 Monaten stattfindenden Follow-upVisiten nicht zu tragen. Die Termine wurden wegen der besseren Sichtbarkeit der PTS-Zeichen auf die Nachmittagsstunden gelegt.
Sowohl die Patienten als auch die betreuenden Krankenschwestern und Ärzte wurden darüber befragt, ob die jeweiligen Strümpfe zur Verum- oder zur Plazebogruppe gehörten. Alle drei Gruppen rieten überwiegend falsch oder waren sich unsicher darüber, zu welcher Gruppe die Strümpfe gehörten (in der Gruppe mit aktiver Kompression 59% der Patienten, 76% der Krankenschwestern respektive 87% der Ärzte; in der Plazebogruppe 83%, 88 % und 92%). Als primärer Outcome der Studie wurde die kumulative Inzidenz des PTS definiert, angefangen beim Follow-up nach 6 Monaten und dann alle 6 Monate später bis zum letzten Follow-up nach 24 Monaten. Die Beurteilung erfolgte anhand der Ginsberg-Kriterien (Schmerzen und Schwellung im Bein für mindestens einen Monat). Sekundärer Outcome waren die kumulative Inzidenz und die Schwere des PTS innerhalb des gleichen Zeitraums, allerdings unter Benutzung der Villalta-Skala. Weitere sekundäre Outcomes waren die Anzahl wiederholt auftretender Thromboembolien, Todesfälle, unerwünschte Wirkungen, venöse Klappeninsuffizienzen sowie die Lebensqualität der Betroffenen.
Vergleichbare Ergebnisse in beiden Gruppen Die Ermittlung des primären Outcomes zeigte, dass 14,2 Prozent der Betroffenen, die eine aktive Kompressionstherapie erhalten hatten, nach 2 Jahren ein PTS entwickelten, verglichen mit 12,7 Prozent in der Plazebogruppe. Die anhand der Villalta-Kriterien (fünf subjektive Symptome – z.B. Schmerz, Juckreiz und Krämpfe – sowie sechs objektive Krankheitszeichen wie z.B. Ödem, Hyperpigmentierung, Hautinduration) ermittelte kumulative Inzidenz unterschied sich nicht zwischen den Gruppen: Sie betrug 52,6 Prozent in der aktiven Kompressionsgruppe versus 52,3 Prozent in der Plazebogruppe. Die übrigen sekundären Outcomes traten in beiden Gruppen in vergleichbarer Häufigkeit auf. Auch die mithilfe von Scores ermittelte Lebensqualität unterschied sich nicht.
O
Regina Scharf
1. Kahn SR, Shapiro S, Wells PS et al. Compression stockings to prevent post-thrombotic syndrome: a randomised placebo-controlled trial. Lancet. 2014; 383(9920): 880–888.
Da diese Ergebnisse das heute übliche Prozedere infrage stellen, wollten wir von Experten wissen, was sie von dieser Studie halten beziehungsweise ob und inwieweit sich ihr Vorgehen in der Praxis dadurch ändern wird.
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FORTBILDUNG
Es bleiben ungeklärte Fragen
Individuelles Vorgehen gefragt
Die unerwarteten Resultate der SOX-Studie von Susan Kahn im
«Lancet» über die Wirksamkeit der Kompressionsstrümpfe zur
Verhinderung eines postthrombotischen Syndroms (PTS) werden
bei den Phlebologen lebhaft diskutiert.
Die aktuelle Guideline empfiehlt das Tragen von Kompressions-
strümpfen basierend auf zwei randomisierten Studien, welche
eine zirka 50-prozentige Risikoreduktion für PTS aufzeigen konn-
ten (1, 2). Die Wirkung der Kompressionstherapie ist erwiesen, sie
kann Schmerzen und Beinödeme reduzieren. Gleichzeitig verbes-
sert sie die venöse Hämodynamik und verhindert tiefe Venen-
thrombosen (TVT) bei Risikopatienten (3, 4).
Wie kann nun die fehlende Wirksamkeit der Kompressions-
therapie in dieser Studie erklärt werden?
Eine häufig angeführte Kritik für die fehlende Wirkung in dieser
Studie ist die suboptimale Compliance für das Tragen von Kom-
pressionsstrümpfen an 3 oder mehr Tagen pro Woche, welche bei
Studienende nur 55,6 Prozent betrug. In den früheren randomi-
sierten Studien betrug die Compliance um die 90 Prozent. Des Wei-
teren könnten Unterschiede bei den Patientencharakteristika beste-
hen, die zu diesem Resultat geführt haben. Auch die Wirksamkeit
der Therapie mit den neuen oralen Antikoagulanzien könnte theo-
retisch einen Einfluss auf die Inzidenz des PTS gehabt haben.
Obwohl das die grösste plazebokontrollierte Studie ist, sind doch
noch wichtige Fragen ungeklärt. Eine multizentrische, randomi-
sierte Studie, welche eine Kompressionstherapie für zwei Jahre mit
einer individuellen Kompressionstherapie anhand des Villalta-
Scores vergleicht, wird zusätzliche Informationen liefern (Clinical-
Trials.gov, NCT01429714). Die ersten Resultate werden im Juli
2015 erwartet.
Bis dahin ist in jedem Fall die beste Strategie zur PTS-Prävention die
Vermeidung einer akuten TVT. Hier hat der Kompressionsstrumpf
bei Risikopatienten nach wie vor seinen Stellenwert.
O
Dr. med. et MSc. Hak Hong Keo Facharzt FMH für Angiologie und Allgemeine Innere Medizin Master of Science in Clinical Research University of Minnesota, USA KSA am Bahnhof Leitender Arzt Angiologie/Phlebologie Bahnhofplatz 3c, 5001 Aarau E-Mail: hakhong.keo@ksa.ch
Referenzen: 1. Brandjes DP et al. Randomised trial of effect of compression stockings in patients with sym-
ptomatic proximal-vein thrombosis. Lancet 1997; 349: 759–762. 2. Prandoni P et al. Below-knee elastic compression stockings to prevent the post-thrombotic
syndrome: a randomized, controlled trial. Ann Intern Med 2004; 141: 249–256. 3. Partsch H et al. International Compression Club. Indications for compression therapy in venous
and lymphatic disease consensus based on experimental data and scientific evidence. Under the auspices of the IUP. Int Angiol 2008; 27: 193–219. 4. Clarke M et al. Compression stockings for preventing deep vein thrombosis in airline passengers. Cochrane Database Syst Rev 2006; Apr 19; (2): CD004002.
Das Dogma, ein postthrombotisches Syndrom (PTS) könne nur
durch eine adäquate Kompressionstherapie nach tiefer Venen-
thrombose (TVT) verhindert werden, resultierte aus kleineren Stu-
dien, ohne Doppelverblindung, die zumeist ohne Plazebokontrolle
durchgeführt wurden. Zum ersten Mal in Zweifel gezogen wurde
die Aussage 2001 in einer Studie von Ginsberg et al., Mc Master
University, Ontario, Kanada. Deren Ergebnisse zeigten, dass der
Effekt der Kompressionsstrümpfe in den bis dahin durchgeführten
Studien vermutlich überschätzt wurde.
Die erste randomisierte, plazebokontrollierte Studie von Prandoni
et al. untersuchte die Fragestellung, ob elastische, nicht individuell
angepasste Kompressionsstrümpfe bei Patienten mit TVT ein PTS
verhindern können. Sie kam zu dem Ergebnis, dass nicht indi-
viduell angepasste Kompressionsstrümpfe bei Patienten mit TVT
als Sekundärprophylaxe wirksam sind (1). Statistisch gesehen müs-
sen nur fünf Patienten einen Kompressionsstrumpf tragen, um bei
einem ein PTS zu verhindern. Basierend auf diesen Ergebnissen
werden medizinische Kompressionsstrümpfe bei Patienten mit
einer TVT früh empfohlen, da das Risiko für die Entstehung eines
PTS im ersten Jahr sehr hoch ist.
Auch wenn die jetzt vorgelegte, sauber ausgearbeitete, doppelt ver-
blindete Studie mit ausreichender Teilnehmerzahl zu dem Ergebnis
kommt, dass die Anwendung von Kompressionsstrümpfen keine
Vorteile zur Verhinderung des PTS nach TVT zeigt, gibt es für mich
nach mehr als 20 Jahren Erfahrung mit Thrombosen und Patienten
mit PTS kein Ja oder Nein, sondern einen individuellen Therapie-
plan mit Follow-up für den einzelnen Patienten. So wie sich die
Frage der Therapie «der Varikose» (ein Universum von Entitäten)
nicht dogmatisch mit Krossektomie und stadiengerechtem Strip-
ping versus endovenöse Therapie beantworten lässt, wird die Ent-
scheidung für oder wider eine Kompressionstherapie mit medizini-
schen Kompressionsstrümpfen, und wenn ja, mit oberschenkel-
oder unterschenkellangem Strumpf, von vielen Details abhängen.
Dazu gehören: Alter, berufliche Situation, Freizeit – und Sport-
aktivität, Erst- oder Rezidivthrombose, Ausdehnung über mehrere
Etagen, Einbeziehung von Muskelvenen, Hormonstatus, zusätz-
liche Varikose, Lipödem, Lymphödem und nicht zuletzt das
häusliche, soziale Umfeld oder die Einbeziehung der Spitex mit
Möglichkeit der Betreuung bei als notwendig erachteter Kompres-
sionstherapie.
O
Dr. med. Klaus Theodor Wolf Facharzt FMH für Chirurgie - Schwerpunktbezeichnung Gefässchirurgie (Landesärztekammer Hessen) Fähigkeitsausweis Phlebologie FMH/USGG Leitender Arzt Gefässchirurgie Artemedic Louis-Giroudstrasse 26, 4600 Olten E-Mail: klaus.wolf@artemedic.ch
Referenz: 1. Prandoni P et al. Below-knee elastic compression stockings to prevent the post-thrombotic
syndrome: a randomized, controlled trial. Ann Intern Med 2004; 141: 249–256.
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FORTBILDUNG
Kompressionstherapie behält Stellenwert zur Prophylaxe eines postthrombotischen Syndroms
Die Ergebnisse dieser Studie wurden inzwischen in verschiedenen Stellungnahmen in Zweifel gezogen (1–3). O Ein Hauptproblem der Studie ist die schlechte Compliance be-
züglich des Tragens der Kompressionsstrümpfe. Nach 2 Jahren gaben nur 56 Prozent der Patienten an, ihre Strümpfe öfter als dreimal pro Woche getragen zu haben. Diese Gruppe wurde von den Autoren als «frequent users» bezeichnet. Wie wir wissen, wirkt Kompression nur so lange, wie sie am Bein getragen wird. Das heisst, dass diese Patienten mehr als die Hälfte der Zeit ohne Therapie waren. Es ist zu diskutieren, ob man unter diesen Umständen noch von einer «kontrollierten Studie» sprechen kann. O Es fällt auf, dass kein Unterschied bezüglich der Compliance bei jenen Patienten bestand, die Plazebostümpfe erhielten, sowie jenen, die 30 bis 40 mm Hg- Strümpfe tragen sollten. Üblicherweise ist die Compliance für einen 30- bis 40-mmHg-Strumpf wesentlich schlechter als jene für einen leichten Strumpf. Zusammen mit dem Umstand, dass mehr als die Hälfte der Patienten nicht imstande waren, selbst zu beurteilen, ob sie der Plazebostrumpfgruppe oder der Gruppe mit 30- bis 40-mmHgStümpfen zugeteilt waren, besteht der Verdacht, dass viele Patienten ihre Strümpfe überhaupt nicht getragen haben. Wer einen 30- bis 40-mmHg-Stumpf zum ersten Mal ohne Anleitung selbst anziehen soll, würde mit Sicherheit angeben, dass es sich hier um eine sehr starke Kompression handelt. O Die gewählten Beurteilungsparameter (nach Ginsberg- und Villalta-Kriterien) sind subjektiv und unspezifisch, eine klinische Charakterisierung fehlt. O 7 Patienten, davon 5 in der Plazebogruppe, entwickelten bereits einen Monat nach der Erstthrombose ein Ulcus cruris, was ohne vorherige Schädigung überaus unwahrscheinlich ist. Klinische Beschreibungen einer Schädigung der Haut fehlen leider nicht nur bei den Kontrollterminen, sondern auch bei Studieneintritt. O Die Behandlungsqualität in der Akutphase hat entscheidenden Einfluss auf Rezidivthrombosen und damit auch auf ein postthrombotisches Syndrom. Dies gilt nicht nur bezüglich einer optimalen Antikoagulation. Kompression und Mobilisierung
führen im akuten Stadium der Thrombose zu einer Reduktion von Schmerz und Schwellung (4). Diese adjuvante Therapie in Ergänzung zur Antikoagulation, welche nahtlos fortgeführt wird, wurde den Patienten vorenthalten. Stattdessen erhielten sie frühestens 2 Wochen nach dem akuten Stadium per Post einen Plazebostrumpf beziehungsweise einen 30- bis 40-mmHgStrumpf zugestellt, den sie ohne Anleitung anziehen und tragen sollten. Inwieweit die Strümpfe zu diesem Zeitpunkt noch passten, ist fraglich. Eine Kontrolle des Kompressionsdrucks wurde zu keinem Zeitpunkt durchgeführt.
Die Resultate der Studie stehen in völligem Widerspruch zu allen
bisher publizierten Studien und Metaanalysen und sind nicht dazu
angetan, die Wichtigkeit der bisher geforderten Kompressions-
behandlung zur Verhinderung eines postthrombotischen Syndroms
nach tiefer Beinvenenthrombose infrage zu stellen.
O
Hugo Partsch Emeritus-Professor Medizinische Universität Wien E-Mail: Hugo.Partsch@meduniwien.ac.at
Referenzen: 1. Ten Cate Hoek AJ. Elastic compression stockings- Is there any benefit? www.theLancet.com
Published online December 6, 2013. http//dx.doi.org/10.1016/S0140-6735(13)62347–8. 2. Labropulos N et al. Commentary on recent publication: Kahn SR, et al. Compression stockings
to prevent post-thrombotic syndrome: a randomised placebo-controlled trial. Lancet. 2013 Dec 5. pii: S0140-6736(13)61902-9. doi: 10.1016/S0140-6736(13)61902-9. 3. Schwahn-Schreiber C et al. Wearing compression stockings after deep venous thrombosis of the leg is still advisable. Analysis of a publication in The Lancet, December 2013 Phlebologie: im Druck. 4. Partsch H, Blättler W. Compression and walking versus bed-rest in the treatment of proximal deep venous thrombosis with low molecular weight heparin. J Vasc Surg. 2000 Nov; 32(5): 861–869.
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