Transkript
STUDIE REFERIERT
Viele vermeintliche Statinnebenwirkungen sind gar keine
Ergebnisse einer systematischen Übersichtsarbeit
Patienten, die Statine einnehmen, berichten nicht selten über unerwünschte Ereignisse wie beispielsweise Muskelschmerzen oder Müdigkeit. Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit kommt zu dem Schluss, dass fast alle unerwünschten Wirkungen unter Plazebo genauso häufig auftreten wie unter einer Statintherapie.
EUROPEAN JOURNAL OF PREVENTIVE CARDIOLOGY
Ärzte und Patienten benötigen klare und verlässliche Informationen über Nutzen und Risiken, um eine Therapieentscheidung zu treffen. Der Nutzen der Statintherapie auf die Zielkriterien Tod, Schlaganfall und Herzinfarkt wird im Vergleich zu Plazebo quantifiziert, nicht jedoch die Informationen
Merksätze
O Nur sehr wenige Symptome, die unter einer Statintherapie berichtet werden, sind tatsächlich durch Statine bedingt.
O Fast alle Beschwerden, die in den analysierten Studien angegeben wurden, traten genauso häufig auf, wenn die Patienten Plazebo erhielten.
O Nur die Entwicklung eines Diabetes mellitus wurde unter Statinen signifikant häufiger beobachtet als unter Plazebo.
O Dennoch waren nur 20 Prozent der neu aufgetretenen Diabetesfälle tatsächlich durch Statine bedingt.
über Nebenwirkungen. Unerwünschte Wirkungen, die für Statine aufgelistet werden, stammen aus vielen verschiedenen Quellen, von denen die meisten nicht zwischen durch das Medikament verursachten Ereignissen und spontanen Ereignissen unterscheiden können. Patienten, die unter der Statintherapie über Symptome berichten, brauchen sachliche Informationen über die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Symptom wirklich durch das Medikament verursacht ist. Beispielsweise ist die Evidenz hinsichtlich des Myopathieoder Rhabdomyolyserisikos widersprüchlich. Drei Beobachtungsstudien berichteten über eine Assoziation mit Statinen, aber eine später publizierte Studie fand kein erhöhtes Risiko für schwere muskuläre Nebenwirkungen unter Statinen. Die Mehrheit der Metaanalysen spricht jedoch für die relative Sicherheit der Statine im Hinblick auf muskuläre Nebenwirkungen. Für praktizierende Ärzte ist es wahrscheinlich schwierig, zwischen den Nebenwirkungen zu unterscheiden, die pharmakologisch durch Statine verursacht werden, und jenen, die spontan auftreten oder die auf den Nozeboeffekt zurückzuführen sind, also auf das «Gegenteil» des Plazeboeffekts, bei dem die Patienten unerfreuliche Effekte aufgrund von negativen Erwartungen erleben. Eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit fasst die plazebokontrollierte Evidenz zu unerwünschten Wirkungen zusammen, die pharmakologisch durch Statine vermittelt werden.
Methoden In einer umfangreichen Literaturrecherche identifizierten die Autoren randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) zur Statintherapie, die folgende Einschlusskriterien erfüllten:
O doppelblinde RCT, in denen Statine in der kardiovaskulären Prävention mit Plazebo verglichen wurden
O Angaben über Nebenwirkungen, die getrennt für den Statin- und den Plazeboarm ermittelt werden.
Ergebnisse Nebenwirkungen im Statinund Plazeboarm In ihrer finalen Analyse berücksichtigten die Autoren 14 RCT zur Primärprävention mit insgesamt 46 262 Teilnehmern sowie 15 RCT zur Sekundärprävention mit insgesamt 37 618 Teilnehmern. In den 14 Primärpräventionsstudien führte die Randomisierung in die Statingruppe im Vergleich zur Plazebogruppe zu einer signifikanten Erhöhung der Diabetesrate um 0,5 Prozent (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,1 bis 1%; p = 0,012) sowie zu einer signifikanten Reduktion der Mortalitätsrate um 0,5 Prozent (95%-KI: -0,9 bis -0,2%; p = 0,003). In den 15 Sekundärpräventionsstudien reduzierte die Randomisierung in die Statingruppe im Vergleich zur Plazebogruppe die Mortalität um absolut 1,4 Prozent (95%-KI: -2,1 bis -0,7%; p < 0,001). Lediglich eine dieser Studien berichtete über die Entwicklung eines Diabetes, konnte jedoch keinen signifikanten Effekt nachweisen (95%KI: -0,5 bis 1,6%; p = 0,387). Kein weiteres Symptom war signifikant betroffen. Bemerkenswerterweise wurden die vielen Nebenwirkungen, die häufig den Statinen zugeschrieben werden (z.B. Myopathie, Fatigue, Muskelschmerzen, Rhabdomyolyse oder Erhöhung der Kreatinkinase über das 10-Fache des oberen Normwertes), im Statinarm nicht häufiger beobachtet als im Plazeboarm. Sowohl in den Primär- als auch in den Sekundärpräventionsstudien kam eine asymptomatische Erhöhung der Lebertransaminasen unter der Statintherapie häufiger vor: um 0,4 Prozent (95%-KI: 0,2 bis 0,6%; p = 0,024) in den Primärpräventionsstudien und um 0,4 Prozent (95%-KI: 0,2 bis 0,7%; p = 0,006) in den Sekundärpräventionsstudien.
Schwere Nebenwirkungen und Studienabbrüche In keiner Studie war die Rate an gravierenden Nebenwirkungen unter der Sta-
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STUDIE REFERIERT
tintherapie signifikant höher als unter Plazebo. Schwere unerwünschte Wirkungen traten in 9 von 14 Primärpräventionsstudien auf: bei 14,6 Prozent der Patienten, die Statine erhielten (Bereich 0,9–55,6%), sowie bei 14,9 Prozent der Patienten unter Plazebo (Bereich 0–55,1%; p = 0,83). Schwere Nebenwirkungen traten in 5 von 15 Sekundärpräventionsstudien auf: bei 9,9 Prozent der Patienten, die mit Statinen behandelt wurden (Bereich 0,5–65,1%), sowie bei 11,2 Prozent der Patienten unter Plazebo (Bereich 0,6–66,5%; p = 0,09). Angaben zu Studienabbrüchen finden sich in 10 von 14 Primärpräventionsstudien: bei 12,1 Prozent der Patienten unter Statinen und bei 13,4 Prozent der Patienten unter Plazebo (p = 0,03). In den Sekundärpräventionsstudien finden sich Angaben zu Studienabbrüchen in 9 von 15 Studien: 12,9 Prozent der Patienten unter Statinen und 15,2 Prozent der Patienten unter Plazebo brachen die Studie ab (p = 0,05).
Diskussion Bei den in dieser Übersichtsarbeit analysierten Daten von 83 880 Patienten, die in verblindete und plazebokontrollierte Studien eingeschlossen wurden und eine Statintherapie erhielten, gibt es wenig Evidenz für symptomatische Nebenwirkungen, die über diejenigen unter Plazebo hinausgehen.
Nebenwirkungen, die tatsächlich der Statintherapie zuzuschreiben sind Das Diabetesrisiko war unter Statintherapie erhöht. Sowohl in den Primärals auch in den Sekundärpräventionsstudien entwickelten 3 Prozent der Patienten im Statinarm einen Diabetes mellitus gegenüber 2,4 Prozent der Pa-
tienten im Plazeboarm. Das bedeutet, dass 20 Prozent der unter Statinen neu aufgetretenen Diabetesfälle direkt der pharmakologischen Wirkung der Statine zuzuschreiben waren (0,6/3,0). Trotz dieser Zunahme der Diabeteshäufigkeit wurde in keiner Statinstudie – unabhängig von der Studiendauer – jemals eine Zunahme kardiovaskulärer Ereignisse nachgewiesen. Die einzige signifikante unerwünschte Wirkung, die sowohl in den Primär- als auch in den Sekundärpräventionsstudien registriert wurde, war eine asymptomatische Erhöhung der Leberenzyme. Ob diese asymptomatische Erhöhung der Leberenzyme unter Statinen schädlich ist, ist unklar.
Vergleich mit «Real world»Bedingungen Im klinischen Alltag berichten viele mit Statinen behandelte Patienten über muskuläre Symptome. Das steht im Gegensatz zu den Ergebnissen der Studien, die in der vorliegenden Übersichtsarbeit berücksichtigt wurden: Hier gab es bezüglich muskelassoziierter Beschwerden keinen erkennbaren Unterschied zwischen dem Statin- und dem Plazeboarm. Hierfür sind nach Ansicht der Autoren verschiedene Erklärungen denkbar. Beispielsweise könnte es sein, dass Industriesponsoren nicht sehr motiviert sind, gründlich nach potenziellen Nebenwirkungen zu suchen. Hinzu kommt, dass in vielen Studien nicht klar angegeben wird, wie und wie häufig unerwünschte Wirkungen bewertet wurden. Auch wurden in einigen Studien Patienten mit Grunderkrankungen wie schwerem Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz oder Hypertonie ausgeschlossen, was eine Selektion der Teilnehmer be-
deutete. Darüber hinaus wurden in vielen Studien Patienten ausgeschlossen, die Medikamente einnahmen, welche über denselben hepatischen Stoffwechselweg metabolisiert werden wie Statine (z.B. Fibrate oder Makrolidantibiotika). Bei Patienten unter einer solchen Medikation treten wahrscheinlich häufiger pharmakologisch vermittelte Effekte auf.
Statindosis und Nebenwirkungen Die Autoren analysierten auch 5 aktuelle RCT, in denen Statinschemata unterschiedlicher Intensität miteinander verglichen wurden. Dabei stellte sich heraus, dass Behandlungsregime mit höheren Statindosen im Vergleich zu Schemata mit niedrigeren Statindosen zu einem statistisch signifikanten Anstieg von Lebertransaminasen, Myopathiesymptomen mit Kreatinkinaseerhöhungen von mehr als dem 10-Fachen des oberen Normwerts sowie von Muskelschmerzen führten. Obwohl höhere Statindosen zu einem nachweisbaren Effekt führten, variiert der Anteil, der auf die Statine zurückgeführt werden kann: Bei den asymptomatischen Leberenzymerhöhungen ist die Mehrzahl der höheren Dosierung zuzuschreiben, bei den Muskelschmerzen trifft das allerdings nicht zu. O
Andrea Wülker
Quelle: Finegold JA et al.: What proportion of symptomatic side effects in patients taking statins are genuinely caused by the drug? Systematic review of randomized placebo-controlled trials to aid individual patient choice. European Journal of Preventive Cardiology 2014; 21(4): 464–474.
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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