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FORTBILDUNG
Pathophysiologie und Therapie des Diabetes Typ 2
Die weltweite explosionsartige Zunahme der Adipositas führt auch zu einer höheren Prävalenz an Diabetes Typ 2. In einem Review haben amerikanische Forscher nun den aktuellen Wissensstand zur Pathophysiologie und zur Behandlung des Diabetes Typ 2 zusammengefasst. Ergänzend diskutieren sie den weiteren Forschungsbedarf.
THE LANCET
Der Glukosestoffwechsel wird über einen Regelkreis gesteuert, an dem die Betazellen der Langerhans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse und das insulinsensitive Gewebe beteiligt sind. Die Insulinsensitivität der Gewebe beeinflusst das Ausmass des Betazellansprechens. Mithilfe des Regelkreises wird sichergestellt, dass die Glukosekonzentrationen nur geringfügig schwanken. Das von den Betazellen ausgeschüttete Insulin bewirkt eine Reduzierung der Glukoseproduktion in der Leber und vermittelt die Aufnahme von Glukose, Aminosäuren und Fettsäuren in Muskeln und Fettgewebe. Ist in diesen Geweben eine Insulinresistenz vorhanden, was häufig bei übergewichtigen Personen der Fall ist, erhalten die Betazellen zunächst die normale Glukosetoleranz über eine vermehrte Insulinausschüttung aufrecht. Erst wenn nicht mehr ausreichend Insulin zur Kompensierung produziert werden kann, steigen die Glukosekonzentrationen. Wird eine Glukoseintoleranz diagnostiziert, hat sich demzufolge auch bereits eine Insulinresistenz manifestiert. Für die Entwicklung von einer beein-
Merksätze
O An der Pathogenese des Diabetes Typ 2 sind Gene und Umwelteinflüsse beteiligt.
O Der Verlust der Betazellfunktion kann bei Diabetes Typ 2 derzeit nicht verhindert werden.
O Mit derzeitigen Behandlungsstrategien kann eine Verbesserung mikrovaskulärer Ergebnisse und der Lebensqualität erzielt werden.
O Eine Reduzierung kardiovaskulärer Ereignisse wird dadurch jedoch nicht erreicht.
trächtigten Glukosetoleranz – der Phase des Prädiabetes – zu Diabetes Typ 2 ist eine progrediente Zerstörung der Betazellfunktion verantwortlich.
Gene und Umwelt Das Ausmass von Insulinresistenz und Betazellfehlfunktion wird zwar durch genetische Faktoren beeinflusst, Umwelteinflüsse haben jedoch eine grössere Bedeutung (Abbildung). Neben einer vermehrten Kalorienaufnahme und einem verringerten Energieverbrauch scheint die Zusammensetzung der Nahrung eine Rolle zu spielen. Für die Entwicklung von Übergewicht, Insulinresistenz, Betazelldysfunktion und Glukoseintoleranz ist hauptsächlich der Verzehr grosser Fettmengen (vor allem an gesättigten Fetten) von Bedeutung. Zudem werden ein altersbedingter Rückgang des Ansprechens der Betazellen und eine Verminderung der Glukosetoleranz beobachtet. Aber auch bereits im Uterus können in Abhängigkeit vom (Über-)Gewicht der Mutter epigenetische und genetische Veränderungen eintreten, die das Risiko des Kindes für die Entwicklung von Diabetes Typ 2 beeinflussen. Des Weiteren wird die Rolle von Umweltchemikalien bei der Entwicklung von Übergewicht und Diabetes diskutiert.
Intestinaltrakt Bei Diabetes Typ 2 kommt es zu einem multifaktoriell bedingten Verlust an Betazellen. Zu den Auslösern der Apoptose gehören Glukolipotoxizität und Amyloidablagerungen. Der zahlenmässige Verlust kann nicht durch einen Ersatz mit neuen Betazellen ausgeglichen werden, da diese ab einem Alter von etwa 30 Jahren nicht mehr erneuert werden. Das Ausmass der Beeinträchtigung der Insulinfreisetzung kann jedoch nicht ausschliesslich durch den Verlust der Betazellen erklärt werden, sondern resultiert auch aus einem Verlust der Funktionsfähigkeit. Das intestinale Mikrobiom scheint ebenfalls an der Entwicklung von Diabetes Typ 2 beteiligt zu sein. Das Mikrobiom weist etwa 100-mal mehr genetische Informationen auf als das menschliche Genom. Man nimmt an, dass die Lebensgemeinschaften im Darm eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Übergewicht und Diabetes spielen. Welche Organismen eine Veränderung des menschlichen Stoffwechsels bewirken, ist allerdings nicht bekannt. In einer «Proof of concept»-Studie verbesserte sich die Insulinsensitivität von Patienten mit metabolischem Syndrom, nachdem sie intestinale Mikroben von schlanken Personen erhalten hatten. Unterschiedliche Spezies in der Darmflora beeinflussen möglicherweise auch die Absorption der Nahrung.
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Energieverbrauch
Kalorienzufuhr Nahrungszusammensetzung Umweltchemikalien
Mikrobiom
Übergewicht
Umwelt
Adipositas Gene
Betazelldysfunktion
Gene
Abbildung: Genetische Faktoren und Umwelteinflüsse bei der Entwicklung von Übergewicht und Diabetes Typ 2
Diabetes Typ 2
Tabelle 1:
Orale Antidiabetika
Sulfonylharnstoffe der 2. Generation O Glibenclamid (Daonil® und Generika) O Gliclazid (Diamicron® und Generika) O Glipizid (Glibenese®, nicht mehr im Handel)
Biguanide O Metformin (Glucophage® und Generika)
Thiazoledindione O Pioglitazon (Actos®) O Rosiglitazon (Avandia®, nicht mehr im Handel)
Alphaglukosidaseinhibitoren O Acarbose (Glucobay®) O Miglitol (Diastabol®, ausser Handel) O Voglibose (nicht im AK der Schweiz)
DPP-4-Inhibitoren O Alogliptin O Linagliptin (Trajenta®) O Saxagliptin (Onglyza®) O Sitagliptin (Januvia®) O Vildagliptin (Galvus®)
SGLT-2-Inhibitoren O Canagliflozin (Invokana®) O Dapagliflozin (Forxiga®)
Glinide O Nateglinid (Starlix®) O Repaglinid (NovoNorm®)
Gallensäurebinder O Colesevelam (nicht im AK der Schweiz)
Dopaminrezeptoragonisten O Bromocriptin (Parlodel®)
funktion. In Studien wurde beobachtet, dass Veränderungen des Lebensstils und Medikamente bei Typ-2-Diabetikern die Werte der Entzündungsmarker und die Betazellfunktion verbesserten. Das systemische Entzündungsgeschehen wirkt sich auch unmittelbar auf die Betazellen aus, denn dabei kommt es auch zu einer Entzündung der Inselzellen und einer intrazellulären Immunreaktion.
Behandlung Mittlerweile stehen zahlreiche Wirkstoffe zur Blutzuckersenkung zur Verfügung. Die Behandlung zielt darauf ab, die Glukosekonzentrationen möglichst lange nah am Normbereich zu stabilisieren und so die Entwicklung von Komplikationen zu verhindern. Das individuelle Ansprechen auf einzelne Substanzen kann sehr unterschiedlich ausfallen, was vermutlich auf die heterogene Pathophysiologie des Diabetes Typ 2 zurückzuführen ist.
Antidiabetika mit Wirkmechanismen im Verdauungstrakt Alphaglukosidasehemmer (Tabelle 1) verlangsamen die Glukoseabsorption, indem sie den Abbau komplexer Kohlenhydrate im Verdauungstrakt verzögern. Das Amylinanalogon Pramlintid verzögert die Magenentleerung und verlangsamt so die Glukoseabsorption. Der Gallensäurebinder Colesevelam senkt die Cholesterinkonzentration und modifiziert die Freisetzung gastrointestinaler Peptide, welche die Plasmakonzentrationen der Glukose reduzieren. Inkretinbasierte Substanzen imitieren die Wirkmechanismen des GLP-1 (glukagon like peptide) und des glukoseabhängigen insulinotropen Peptids (GIP) oder verstärken deren Aktivität. Bei GLP-1-Rezeptor-Agonisten handelt es sich um Peptide mit längeren Halbwertszeiten als GLP-1, während Dipeptidylpeptidase-(DPP-)4-Inhibitoren den Abbau von GLP-1 und GIP durch DPP-4 verhindern. Derzeit wird an der Verbesserung der pharmakokinetischen Eigenschaften dieser Substanzen geforscht, um die Dosis reduzieren und die Blutglukose besser kontrollieren zu können.
Systemische Entzündung und Inselzellentzündung Übergewicht geht mit einer systemischen Entzündung einher. Aus der präklinischen Evidenz ergibt sich eine Verbindung zwischen dem Entzündungsgeschehen und der Betazelldys-
SGLT-2-Inhibitoren und Dopaminrezeptoragonisten Die Nieren scheiden Glukose aus und reabsorbieren Glukose aus dem Urin mithilfe des Natrium-Glukose-Kotransporters-(SGLT-)2. Mit SGLT-2-Hemmern wie Dapagliflozin und Canaglifozin kann somit die ausgeschiedene Glukosemenge
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Tabelle 2:
Injizierbare Antidiabetika
könnten, sowie an oral applizierbaren Insulinen und an Smart-Insulinen, die nur bei erhöhten Glukosekonzentrationen wirksam sind.
Amylinanaloga O Pramlintid (nicht im AK der Schweiz)
GLP-1-Rezeptor-Agonisten O Exenatid (Byetta®, Bydureon®) O Liraglutid (Victoza®) O Lixisenatid (nicht im AK der Schweiz)
Schnell wirksame und kurz wirksame Insuline O Normalinsulin (Huminsulin®, Insuman®) O Insulin Aspart (NovoRapid®, NovoMix®) O Insulin Glulisin (Apidra®) O Insulin Lispro (Humalog®) O amorphe Insulin-Zink-Suspension (Insulin Semilente)
Intermediärinsuline O Isophan-Insulin O Insulin Lente
Lang wirksame Insuline O Insulin Ultralente, Insulin-Zink-Kristallsuspension O Insulin Detemir (Levemir®) O Insulin Glargin (Lantus®) O Insulin Degludec (Tresiba®)
erhöht werden. Beide Substanzen senken zudem das Körpergewicht und den Blutdruck. Allerdings ist der Anstieg der Glukosekonzentration im Harn mit einem fünfmal höheren Risiko für genitale Pilzinfektionen und einer Zunahme von Infektionen des unteren Harntrakts um 40 Prozent verbunden. Ausserdem führen diese Substanzen zu einem geringfügigen Anstieg des LDL- und HDL-Cholesterins. Der Dopaminrezeptoragonist Bromocriptin ist derzeit als einziges über das ZNS wirkendes Antidiabetikum zur Regulierung des Glukosestoffwechsels zugelassen. Die antidiabetische Wirkung der Substanz basiert auf einer Zurücksetzung des zirkadianen Rhythmus, die unter anderem eine Senkung der Blutglukose zur Folge hat.
Modifizierte Insuline Die Insulintherapie des Diabetes Typ 2 hat sich in den letzten Jahren aufgrund der Entwicklung modifizierter Insuline bedeutend verbessert (Tabelle 2). Dabei wurde vor allem die Pharmakokinetik verändert, sodass mittlerweile je nach Bedarf Präparate mit schneller, kurzer oder lang anhaltender Wirksamkeit zur Verfügung stehen. Das kürzlich in Europa zugelassene Insulin Degludec weist eine längere Wirkdauer als Insulin Glargin auf und gewährleistet eine ähnliche Glukosekontrolle bei weniger nächtlichen Hypoglykämien. Inhalative Insuline erschienen zunächst vielversprechend; die Forschung wurde jedoch aufgrund der Schwierigkeiten bei der Entwicklung entsprechender Applikationsgeräte und des Verdachts auf ein erhöhtes Lungenkrebsrisiko wieder eingestellt. Derzeit wird geforscht an der Entwicklung konzentrierter Insuline (500 Units/ml), die bei Patienten mit hoher Insulinresistenz wirksam sein
Behandlungserfolge und Forschungsbedarf Aus fünf Studien und zwei Metaanalysen geht hervor, dass die derzeitige Vorgehensweise einer möglichst intensiven Glukosekontrolle zwar mikrovaskuläre Komplikationen reduziert, die Anzahl kardiovaskulärer Ereignisse jedoch nicht senkt und Patienten mit fortgeschrittenem Diabetes diesbezüglich sogar schaden kann. Diese individuellen Unterschiede im Hinblick auf kardiovaskuläre Ergebnisse verdeutlichen nach Ansicht der Autoren die Notwendigkeit individueller Ziele zur Glukosekontrolle, was auch von der American Diabetes Association und der European Association for the Study of Diabetes empfohlen wird. Zur Senkung des kardiovaskulären Risikos könnte bei einigen Diabetikern die gesonderte Behandlung entsprechender Risikofaktoren, wie zu hoher LDL-Cholesterin-Werte und Bluthochdruck, effektiver sein. In der STENO-2-Studie reduzierte eine multifaktorielle Herangehensweise die Raten kardiovaskulärer und mikrovaskulärer Ereignisse. Lebensstilmassnahmen gehören zu den Eckpfeilern jeder Diabetesbehandlung. In der Look-AHEAD-Studie wurde deshalb die Wirksamkeit einer Gewichtsreduzierung mit Lebensstilmassnahmen im Hinblick auf kardiovaskuläre Ereignisse im Vergleich zu Patienten untersucht, die lediglich Informationsmaterialien erhalten hatten. Trotz einer ausgeprägteren Gewichtsabnahme im Verlauf von 10 Jahren und einer Verbesserung kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Blutdruck- und Lipidwerten reduzierten Lebensstilmassnahmen die Anzahl kardiovaskulärer Ereignisse im Vergleich zur Kontrollgruppe nicht. In anderen Studien konnte allerdings bei beeinträchtigter Glukosetoleranz durch Lebensstilmassnahmen die Anzahl der Patienten reduziert werden, bei denen sich ein Diabetes Typ 2 entwickelte. Mit derzeit verfügbaren Behandlungsoptionen kann der Verlust der Betazellfunktion nicht verhindert werden. Deshalb wird untersucht, ob neuere Medikamente den Verlust der Betazellfunktion aufhalten können und so eine dauerhafte Glukosekontrolle gewährleisten. Vorläufige spärliche Patientendaten weisen darauf hin, dass inkretinbasierte Therapien diesen Nutzen aufweisen könnten. Zu den Zielen aktueller Medikamentenstudien gehören eine Verbesserung der sekretorischen Betazellfunktion, eine Vermehrung der Betazellmasse, die Reduzierung der Glukoseproduktion in der Leber und eine Verminderung des zellulären Entzündungsgeschehens. O
Petra Stölting
Kahn SE, Cooper ME et al.: Pathophysiology and treatment of type 2 diabetes: perspectives on the past, present and future. Lancet 2014; 383: 1068–1083.
Interessenkonflikte: Die Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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