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BERICHT
Die Prostata ist nicht an allem schuld
Neue Therapiestrategien bei LUTS und BPH orientieren sich an den Symptomen
1. Symposium Männermedizin
Universitätsspital Zürich, 6. März 2014
Blasenprobleme bei älteren Männern wurden früher fast automatisch mit benigner Prostatahyperplasie (BPH) gleichgesetzt. Doch viele Symptome haben mit der Prostata nur wenig oder gar nichts zu tun.
RENATE BONIFER
Blasenprobleme älterer Männer, die man früher hauptsächlich auf eine vergrösserte Prostasta schob, haben vielfältige Ursachen: «Die Prostata ist nicht an allem schuld», sagte PD Dr. med. Matthias Oelke am Männersymposium in Zürich. Mittlerweile schlägt sich diese Erkenntnis auch in dem Akronym LUTS (lower urinary tract symptoms) nieder, das eine breite Palette unterschiedlicher Symptome umfasst. Diese lassen sich in drei Gruppen einteilen: 1. Blasenspeichersymptome wie im-
perativer Harndrang, Pollakisurie, Nykturie und Dranginkontinenz 2. Blasenentleerungssymptome wie die Startverzögerung beim Harnlassen, die unterbrochene Miktion und ein abgeschwächter Harnstrahl 3. Symptome nach der Miktion wie das Gefühl einer unvollständigen Blasenentleerung und Nachträufeln.
LUTS ist übrigens keine reine «Altmännerkrankheit». Die genannten Symptome seien alters-, geschlechts- und krankheitsunspezifisch, betonte Oelke. Am meisten leiden Männer wie Frauen unter den Speichersymptomen, insbesondere der Nykturie.
Bei Männern mit Blasensymptomen vermutet man als Ursache häufig die BPH, obwohl längst nicht in allen Fällen tatsächlich eine Obstruktion hinter den Beschwerden steckt. Matthias Oelke hatte das in einer Studie mit 1418 Männern im Alter von 40 bis 89 Jahren zeigen können: 42 Prozent der Patienten, die mit einer BPH überwiesen worden waren, hatten gar keine Obstruktion und von diesen wiederum gut die Hälfte eine Detrusorüberaktivität: «Bei einigen ist also die Obstruktion schuld, bei einigen nicht.» Die individuell optimale Therapie für einen Mann mit LUTS muss sich darum an den individuellen Symptomen orientieren.
Blasenprotokoll und IPSS Am Anfang steht immer ein Blasenprotokoll, um die Probleme so genau wie möglich einzugrenzen, sowie der IPSSFragebogen*, um den individuellen Leidensdruck abzuschätzen. Der IPSS (International Prostate Symptom Score) wurde ursprünglich zum Erfassen von Prostataproblemen entwickelt. Es hat sich mittlerweile gezeigt, dass die dort erfragten Symptome nicht prostataspezifisch sind, sondern beispielsweise auch bei Frauen zutreffen. Insofern ist dieser Fragebogen zwar nicht zur Diagnose geeignet, wohl aber zur Quantifizierung der LUTS und des Leidensdrucks sowie zum Überprüfen des Therapieerfolgs. Bei einen IPSS ≤ 7 handelt es sich um eine leichte Symptomatik, bei der Lebenstiländerungen (Trinkgewohnheiten) sowie Abwarten und Kontrollen als Therapie oft ausreichen.
Welches Medikament für wen? Die medikamentösen Optionen richten sich nur nach den Symptomen. «Oft
*Der IPSS-Fragebogen steht z.B. hier zum Download bereit:www.klinikum.uni-muenchen.de/Urologische-Klinikund-Poliklinik/download/de/IPSS-Fragebogen.pdf
werden Sie gar nicht herausfinden, welche Ursache genau dahintersteckt, aber das spielt keine Rolle», sagte Oelke. Die Strategie «Wir behandeln Symptome, egal wo sie herkommen» entspricht den aktuellen Richtlinien der European Association of Urology (EAU). Jede der nachfolgend genannten Therapien sollte immer mit einer Verhaltenstherapie kombiniert werden: O ausschliesslich Speichersymptome
(überaktive Blase [OAB]): Anticholinergika-Monotherapie O Nykturie bei nächtlicher Polyurie: Desmopressin O Speicher- und Entleerungssymptome: Alphablocker O residuelle Speichersymptome trotz Alphablockertherapie: zusätzlich ein Anticholinergikum O Speicher- und Entleerungssymptome bei gutartiger Prostatavergrösserung (Prostatavolumen > 40 ml): 5␣-Reduktase-Inhibitor, eventuell in Kombination mit einem Alphablocker O Speicher- und Entleerungssymptome mit erektiler Dysfunktion: Tadalafil.
Alphablocker plus Anticholinergikum Alphablocker sind bei Speicher- und Entleerungssymptomen sinnvoll. Sie vermindern die Miktionsfrequenz, die Anzahl der Drangepisoden und die Harninkontinenz. Wenn gleichzeitig jedoch eine Detrusorhyperaktivität vorliegt, ist die Erfolgsrate geringer, erläuterte Matthias Oelke. So zeigte sich in einer Studie nach drei Monaten Alphablockertherapie eine Responderrate von 79 Prozent bei den Männern ohne gegenüber nur 35 Prozent bei denjenigen mit Detrusorhyperaktivität. Gab man den Nonrespondern mit Detrusorhyperaktivität zusätzlich ein Anticholinergikum, brachte das in 2 von 3 Fällen den gewünschten Erfolg: «Ein klares Plädoyer für die Kombinationstherapie
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NACHGEFRAGT
PD Dr. med. Matthias Oelke ist Facharzt für Urologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und Erstautor der aktuellen EAUGuidelines zu LUTS/BPH*.
das Auditorium frage, wer denn nun den Uroflow, die Restharnmessung und den IPSS-Fragebogen anwende, melden sich zwar alle, aber wir wissen aus Untersuchungen, dass es tatsächlich weniger als 10 Prozent der Ärzte so machen. Das Durchführen einer symptombezogenen Behandlung ist aber eigentlich gerade für den Hausarzt eine dankbare Aufgabe. Er muss eigentlich nur analysieren, welche Symptome der Patient
«Wir führen jetzt eine rein symptomatische Therapie durch»
Hat sich bei der Behandlung von Patienten mit BPH beziehungsweise LUTS etwas Grundlegendes geändert? PD Dr. med. Matthias Oelke: Geändert hat sich vor allem das Therapiekonzept bei männlichen Blasensymptomen. Bis vor ein paar Jahren schob man bei Männern jegliche Blasensymptome auf die Prostata. Darum haben wir in der Vergangenheit relativ viel operiert. Aber die Prostata ist nicht an allem schuld, denn da sind schliesslich noch die Harnblase, der Beckenboden, die Harnleiter und das Nervensystem – und all das spielt eine Rolle für die Blasenfunktion. Während wir früher eine sehr prostataspezifische Therapie durchgeführt haben, mit den typischen prostataspezifischen Medikamenten wie Alphablockern oder 5-Alpha-Reduktase-Inhibitoren, sehen wir das jetzt etwas breiter. Wir führen jetzt eine rein symptombezogene Therapie durch. Das heisst: Bei Blasenspeicher- und Blasenentleerungssymptomen geben wir Alphablocker; kommt noch eine vergrösserte Prostata dazu, geben wir einen 5-Alpha-ReduktaseInhibitor. Wenn es Blasenspeicher- und Blasenentleerungssymptome mit einer erektilen Dysfunktion sind, kann man Tadalafil geben. Sind es nur Blasenspeichersymptome, also irritative Symptome, kann man auch nur Anticholinergika geben, und gegen lästige Nykturie auf der Basis einer nächtlichen Polyurie hilft Desmopressin.
hat, und dann die Medikamente für die jeweilige Symptomgruppe einpassen – natürlich mit gewissen Einschränkungen, je nach Alter und Komorbiditäten des Patienten.
Um Männer behandeln zu können, müssen die erst einmal zum
Arzt kommen, was viele Männer bekanntermassen eher ver-
meiden. Was raten Sie den Hausärzten?
Oelke: Dass Männer nur selten von sich aus zum Arzt gehen, ist
nur ein Teil des Problems. Wenn sie dann doch einmal beim
Hausarzt sind, werden bestimmte Probleme leider häufig ba-
gatellisiert, wahrscheinlich auch, weil sich die Hausärzte damit
nicht auskennen. Die überaktive Blase ist ein klassisches Bei-
spiel. Ein Mann erkennt, dass da ein Problem ist, aber sein
Hausarzt weiss damit nur schlecht umzugehen und sagt: «Das
ist ja normal, das ist ein Teil des Alterns.» Er bietet keine Be-
handlung an und potenziert damit das Problem. Dabei wäre es
doch genau andersherum richtig: Wenn ein Mann bei mir in der
Praxis ist, muss ich ihn auch packen, sodass er mir nicht wieder
wegläuft – und ich muss natürlich auch an nicht urologische
Aspekte der Männergesundheit denken, wie zum Beispiel kar-
diovaskuläre Probleme und so weiter.
O
Die Fragen stellte Renate Bonifer.
Das hört sich nach einer schwierigen Differenzialdiagnostik an. Kann das ein Hausarzt machen? Oelke: Das ist eine gute Frage. Man müsste fast schon fragen: Bekommt es ein Urologe hin? Wenn ich bei meinen Vorträgen
*Oelke M, Bachmann A, Descazeaud A, Emberton M, Gravas S, Michel MC, N’Dow J, Nordling J, de la Rosette JJ: EAU guidelines on the treatment and follow-up of non-neurogenic male lower urinary tract symptoms including benign prostatic obstruction. Eur Urology 2013; 64: 118–140.
aus Alphablocker plus Anticholinergikum», so Oelke. Diese sei jedoch wirklich nur dann sinnvoll, wenn Blasenspeichersymptome vorliegen, fügte er hinzu. Bei Patienten mit vorwiegend oder ausschliesslich Entleerungssymptomen bringe die Kombination mit dem Anticholinergikum nichts. Sowohl bei der Gabe von Alphablockern als auch von Anticholinergika sind nicht urologische Aspekte zu beachten. So gaben einige Teilnehmer am Symposium zu bedenken, dass Alphablocker bei älteren Männern wegen der Sturzgefahr durch die potenzielle Nebenwirkung Blutdrucksenkung pro-
blematisch seien. Matthias Oelke wies darauf hin, dass die verschiedenen Alphablocker in dieser Hinsicht keineswegs gleich seien. Während die Alphablocker Doxazosin und Terazosin auch an Alpha-1b-Rezeptoren binden und somit den Blutdruck senken können, sei das bei anderen Alphablockern wie Silodosin oder Tamsulosin seltener oder gar nicht der Fall. Diese binden fast ausschliesslich an Alpha-1a-Rezeptoren: «Wenn Sie wissen, dass Ihr Patient anfällig ist für orthostatische Hypotonie, geben Sie ihm einen reinen Alpha-1a-Blocker», riet Oelke.
Auch vor den Nebenwirkungen Harnretention oder Harnverhalt brauche man keine Angst zu haben, sagte der Referent. In den Studien habe man keine signifikanten Risiken gesehen, sodass diese Angst «eher theoretischer Natur» sei. Allerdings, und das betonte Oelke ausdrücklich, gelte das nur für Patienten mit einer Restharnmenge unter 200 ml: «Bei über 200 ml Restharn müssen Sie in der Tat aufpassen, weil es dazu keine Untersuchungen gibt.»
LUTS und Sexualität Männer mit LUTS leiden oft auch unter erektiler Dysfunktion, was man spätes-
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LUTS/BPH: Medikamente
Alpha-1-Blocker Alfuzosin (Xatral® und Generika) Doxazosin (Cardura® und Generika) Silodosin (in der Schweiz nicht auf dem Markt) Tamsulosin (Omix®, Pradif® und Generika) Terazosin (Hytrin®)
Anticholinergika Darifenacin (Emselex®) Fesoterodin (Toviaz®) Oxybutynin (Ditropan®, Kentera®, Lyrinel®) Solifenacin (Vesicare®) Tolterodin (Detrusitol®, Tolterodin Pfizer) Trospium (Spasmo-Urgenin® Neo, Spasmex®)
5α-Reduktase-Hemmer Dutasterid (Avodart®) Finasterid (Proscar® und Generika)
PDE-5-Inhibitoren Tadalafil (Cialis®)
Kombinationsprodukte Duodart®: Dutasterid + Tamsulosin Vesomni®: Tamsulosin + Solifenacin (in der Schweiz nicht auf dem Markt)
gemäss www.swissmedic.ch, Stand: 31.3.2014
tens seit der vor mehr als 10 Jahren publizierten Kölner Männerstudie weiss: Damals gaben 72 Prozent der Männer mit LUTS an, auch unter erektiler Dysfunktion (ED) zu leiden. Die ED-Prävalenz steigt mit dem Schweregrad der LUTS, und die ED geht zurück, wenn man die LUTS in den Griff bekommt. Zur Erstlinientherapie bei ED sind in der Schweiz die Phosphodiesterasehemmer (PDE-5-Inhibitoren) Sildenafil (Viagra® und Generika), Vardenafil (Levitra®, Vivanza®) und Tadalafil (Cialis®) zugelassen. PDE-5-Inhibitoren wirken im gesamten Harntrakt, sowohl auf die glatte (Gefässe, Harnblase, Urethra, Prostata, Corpus cavernosum) als auch auf die quergestreifte Muskulatur (externer urethraler Sphinkter). Die PDE-5-Inhibition kann LUTS positiv beieinflussen. Mit einer langen Halbwertszeit von gut 17 Stunden ist Tadalafil als einziger PDE-5Hemmer auch für die symptomatische Behandlung von LUTS zugelassen. Seine Wirkungsamkeit ist vergleichbar mit derjenigen von Alphablockern. In Studien verbesserte Tadalafil (5 mg/Tag) den IPSS-Wert in ähnlichem Ausmass wie Tamsulosin (0,4 mg/Tag), auch die
Verträglichkeit von Tadalafil sei gut, berichtete Matthias Oelke.
Und die Phytotherapeutika?
Phytotherapeutika bei LUTS/BPH wa-
ren am Männersymposium in Zürich
kein Thema. Der Referent beschränkte
sich ausdrücklich auf evidenzbasierte
Therapien, deren Wirksamkeit repro-
duzierbar in Studien belegt wurde. In
den aktuellen Guidelines der EAU legt
man sich zum Stellenwert der Phyto-
therapeutika bei LUTS/BPH nicht fest.
Dort heisst es: «Die Guidelinekommis-
sion gibt keine spezifischen Empfehlun-
gen zur Phytotherapie bei männlichen
LUTS, weil die Heterogenität der Pro-
dukte, fehlende Zulassungsverfahren
und die beträchtlichen methodologi-
schen Probleme im Zusammenhang mit
den publizierten Studien und Metaana-
lysen das nicht erlauben.»
O
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