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FORTBILDUNG
Schilddrüsenfunktionsstörungen beim Kind
Abklärung und Einschätzen der Behandlungsbedürftigkeit
Dieser Beitrag fasst die pädiatrischen Besonderheiten bei Schilddrüsenfunktionsstörungen kurz zusammen und ermöglicht auch für den Hausarzt einen ersten Einstieg in die Diagnostik von vermuteten oder bestehenden Schilddrüsenerkrankungen im Kindesalter.
MICHEL MORLOT
Die Schilddrüsenfunktionsstörung ist eine häufige Verdachtsdiagnose aufgrund von vielfältigen, nicht immer spezifischen Symptomen. Ganz besonders bei Kindern und Jugendlichen sollten die Interpretation der Befunde – Labor und Sonografie – und die daraus resultierenden Entscheidungen über weitere Diagnostik und Therapie stets in Zusammenhang mit dem klinischen Verlauf und unter Berücksichtigung der altersspezifischen Entwicklungsnormen erfolgen.
Tabelle 1:
Klinische Symptome bei Schilddrüsenfunktionsstörungen im Kindesalter
Hypothyreose O Wachstumsverlangsamung O unklare Gewichtszunahme O chronische Obstipation O Leistungsabfall (Schule, Sport) O Pubertätsstörungen (verfrüht oder verspätet)
Hyperthyreose O Schlafstörungen, Unruhe O Leistungsabfall O ungewollte Gewichtsabnahme O überschiessende Reflexe, Tremor O arterielle Hypertonie, Tachykardie O Struma
Hashimoto-Thyreoiditis Auch im Kindesalter stellt die Autoimmunthyreoiditis die häufigste Ursache der erworbenen Hypothyreose dar. Die Prävalenz ist nach dem 10. Lebensjahr beziehungsweise bei Mädchen im Pubertätsalter besonders erhöht. Es überwiegt die hypertrophe Form (Struma). Eine entsprechende Diagnostik ist indiziert bei klinischen Symptomen (Tabelle 1) und immer bei Auftreten einer Struma. Die Diagnose wird aufgrund typischer sonografischer Veränderungen und erhöhter Antikörperspiegel (TPO, TG oder TSHR) gestellt. Initial kann eine passagere hyperthyreote Phase vorliegen. Die Indikation zur Behandlung bei Hashimoto-Thyreoiditis mit L-Thyroxin (Eltroxin®-LF, Euthyrox®, Tirosint®) ergibt sich – wie bei Erwachsenen – bei einem TSH-Anstieg. In
Merksätze
O Die Interpretation der Befunde und der daraus resultierende Therapieentscheid müssen stets in Zusammenhang mit dem klinischen Verlauf und unter Berücksichtigung der altersspezifischen Entwicklungsnormen erfolgen.
O Auch im Kindesalter ist die Autoimmunthyreoiditis die häufigste Ursache der erworbenen Hypothyreose.
30 Prozent der Fälle tritt eine Remission nach der Pubertät auf, sodass ein Auslassversuch in Abhängigkeit des Antikörperstatus dann auch gegebenenfalls gerechtfertigt ist. Bei der Beurteilung der Laborparameter und der Sonografie müssen die altersspezifischen Normbereiche unbedingt berücksichtigt werden (Tabellen 2 und 3).
Morbus Basedow Mit 15 Prozent der Schilddrüsenerkrankungen im Kindesalter ist Morbus Basedow kein seltenes Krankheitsbild in der Pädiatrie. Neben der typischen Symptomatik einer Hyperthyreose (Tabelle 1) findet sich in der Regel eine voluminöse Struma und in 40 Prozent der Fälle eine endokrine Orbitopathie. Die Initialbehandlung ist immer medikamentös (Carbimazol [Néo-Mercazole®]; Propylthiouracil [Propycil® 50] ist in der Schweiz ab 6 Jahre zugelassen, aber wegen Lebertoxizität nicht mehr im Kindesalter in Deutschland). Die Remissionsrate bei Kindern und Jugendlichen beträgt nach zwei Jahren lediglich 30 Prozent. Sie ist somit im Vergleich zu Erwachsenen deutlich vermindert, wobei die Rezidivrate von mehreren Faktoren abhängig ist (Tabelle 4). Aufgrund des besonderen Krankheitsverlaufs im Kindesalter sollte die Behandlung bei Morbus Basedow grundsätzlich in der kinderendokrinologischen Sprechstunde erfolgen. Die angestrebte Dauer der thyreostatischen Therapie sollte nicht unter zwei bis drei Jahren liegen (1).
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Tabelle 2:
Referenzwerte bei Kindern und Jugendlichen
Alter TSH (mU/l)
< Tage < 3 Monate 4–12 Monate 1–6 Jahre 7–11 Jahre 12–17 Jahre 0,7–15,2 0,7–11,0 0,7–8,3 0,7–5,9 0,6–4,84 0,5–4,3 Quelle: Labore Endokrinologikum Hamburg FT4 (pg/ml) 8,6–24,9 8,9–22,0 9,2–19,9 9,6–17,7 9,7–16,7 9,8–16,3 FT3 (pg/ml) 2,15–5,8 2,4–5,5 2,5–5,2 2,5–5,0 Tabelle 3: Schilddrüsenvolumina Alter Jungen (Mittelwert) Mädchen (Mittelwert) < 6 Jahre 6–7 Jahre 7–8 Jahre 8–9 Jahre 9–10 Jahre 10–11 Jahre 11–12 Jahre 12–13 Jahre 13–14 Jahre 14–15 Jahre 15–16 Jahre 16–17 Jahre 1,2 2,1 2,3 2,4 3,0 3,8 3,9 4,1 4,4 4,4 6,2 6,8 1,5 2,5 2,5 2,5 2,7 4,2 4,4 4,9 4,6 4,9 6,5 6,9 *Mittelwerte; Quelle: Klinikum Berlin Virchow 1996–1998 (nach Liesenkötter) Tabelle 4: Risikofaktoren für ein Hyperthyreoserezidiv bei Morbus Basedow O Alter bei Manifestation < 5 Jahre O Therapiedauer < 2 Jahre O höhere Initialspiegel für FT4 und TRAK O Nichtkaukasier Isolierte TSH-Erhöhung Bei etwa 3 Prozent aller Kinder (0,5–16 Jahre) liegt ein leicht erhöhter TSH-Wert zwischen 5,5 und 10,0 mU/l vor. Bei gleichzeitig normalen Werten für FT4/FT3 liegt definitionsgemäss eine latente Hypothyreose vor, die meistens nicht therapiebedürftig ist, da sich in 75 Prozent der Fälle das TSH im Verlauf spontan normalisiert (2). Eine mässige Erhöhung des TSH bei normalen T4/T3-Werten wird oft bei Adipositas beobachtet; es handelt sich um eine nicht therapiebedürftige und oft reversible Begleiterscheinung. Eine Therapie mit Thyroxin trägt in solchen Fällen nicht zur Gewichtsabnahme bei. Vielmehr beobachtet man oft im Verlauf einer Gewichtsabnahme durch Lifestyleänderungen einen Abfall des TSHSpiegels (3). Eine isolierte TSH-Erhöhung ist nicht Ursache, sondern eher Folge einer alimentär bedingten Adipositas. Schilddrüse und assoziierte Erkrankungen Eine asymptomatische latente Hypothyreose wird bei Kindern mit Trisomie 21 überhäufig beobachtet (Prävalenz bis 30%). Die Rate der spontanen TSH-Normalisierungen ist mit 70 Prozent hoch, sie liegt sogar bei bis 95 Prozent bei Kindern ohne Struma beziehungsweise 90 Prozent bei denen ohne Antikörpernachweis. Eine Behandlung bei latenter Hypothyreose ist lediglich bei den Patienten mit Struma und/oder positivem Antikörperstatus bedingt indiziert. Nach dem 8. Lebensjahr werden bei etwa 50 Prozent der Mädchen mit Ullrich-Turner-Syndrom Schilddrüsenautoantikörper nachgewiesen. Bei 30 Prozent dieser Patientinnen ist ausserdem das TSH > 4,5 mU/l erhöht, bei 4 Prozent liegt eine manifeste Hypothyreose vor. Nach dem 12. Lebensjahr werden bei 15 Prozent der Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes Schilddrüsenautoantikörper (TG oder TPO) nachgewiesen, die Antikörper persistieren im Verlauf. Etwa 10 Prozent der Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes werden mit Thyroxin behandelt und zeigen meistens darunter eine Volumenreduktion der Struma. Bei Kindern mit Trisomie 21, Ullrich-Turner-Syndrom, Typ-1Diabetes und Zöliakie sollten die Schilddrüsenhormonparameter regelmässig kontrolliert werden (4).
Schilddrüsenhormonresistenz
Mutationen des Schilddrüsenhormonrezeptors (TR-) ver-
ursachen das in seiner Ausprägung variable Krankheitsbild
einer Schilddrüsenhormonresistenz (Refetoff-Syndrom). Das
TSH ist inadäquat hoch bei ebenfalls hochnormalen bis deut-
lich erhöhten T3- und T4-Spiegeln.
Ungefähr die Hälfte der Patienten mit Schilddrüsenhormon-
resistenz ist ausserdem an einem Aufmerksamkeitsdefizit-
und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) erkrankt. Bei solchen
Patienten kann fälschlicherweise eine Hyperthyreose vermu-
tet und eine thyreostatische Behandlung eingeleitet werden,
dies mit der unerwünschten Folge, eine klinische Hypo-
thyreose und eine Zunahme der Struma zu induzieren.
Kinder mit ADHS und unklarer Schilddrüsenhormonkon-
stellation sollten in der kinderendokrinologischen Sprech-
stunde vorgestellt werden.
O
Dr. med. Michel Morlot Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin Pädiatrische Endokrinologie, Endokrinologikum, Zentrum für Hormon- und Stoffwechselerkrankungen D-30161 Hannover
Interessenkonflikte: keine Literatur unter www.arsmedici.ch
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2014. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Angaben zur Zulassung von Medikamenten wurden von der Redaktion ARS MEDICI für die Schweiz angepasst.
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Literatur: 1. Leger J, Gelwane G; French Childhood Graves Disease Study Group: Positive impact of
long-term antithyroid drug treatment on the outcome of children with Graves’ disease. J.C.E.M 2012; 97: 110–119. 2. Refetoff S, Weiss RE, Usala SJ: The syndromes of resistance to thyroid hormone. Endocr Rev 1993; 14: 348–399. 3. Reinehr T, de Sousa G, Andler W: Hyperthyrotropinemia in obese children is reversible after weight loss and is not related to lipids. JCEM 2006; 91: 3088–3091. 4. Van Vliet G: How often should we screen children with Down’s syndrome for hypothyroidism? Arch Dis Child 2005; 90: 557–558.
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