Transkript
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
IBD-Zentren bieten bessere Versorgung durch interdisziplinäre Fachkompetenz
BERICHT
ECCO 2014 European Crohns and Colitis Organisation Kopenhagen, 19. bis 24. Februar 2014
Bei Patienten mit schweren chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (IBD: inflammatory bowel disease) sind nicht nur Gastroenterologen, sondern ohne Umwege auch Dermatologen, Gynäkologen, Fachschwestern, Ernährungsberater oder Psychologen gefragt. Patientenvertreter fordern daher mehr interdisziplinäre IBD-Zentren, wie in Vorträgen und an einem Roundtablegespräch am Jahreskongress der European Crohn’s and Colitis Organisation (ECCO) in Kopenhagen deutlich wurde.
KLAUS DUFFNER
Wie lässt sich die Versorgung von Menschen mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa weiter verbessern? Um noch mehr Information zur aktuellen Situation, zur Medikation und zum Informationsstand der Patienten zu erhalten, wurden mithilfe von sechs Patientenorganisationen in Europa und Kanada über 5000 IBD-Patienten befragt. Dabei offenbarte sich, dass in den vergangenen 12 Monaten die Hälfte der Teilnehmer ein bis drei Schübe (flares) erlebt hatte, jeder Fünfte unter einer kontinuierlich aktiven Erkrankung litt, jeder Dritte mindestens einmal in die Notaufnahme eingeliefert wurde und 35 Prozent mehr als 5 krankheitsbedingte Fehltage vorzuweisen hatten.
Morbus-Crohn-Patienten mussten in jedem dritten Fall zwischen dem ersten symptombedingten Aufsuchen eines Arztes und der gesicherten Diagnose länger als 1 Jahr warten. «Dieses Zeitintervall ist enttäuschenderweise seit 25 Jahren gleich lang geblieben», klagte Richard Driscoll, Gesundheitsexperte aus dem englischen St. Albans, an einer ECCO-Pressekonferenz in Kopenhagen.
Team aus Spezialisten Der Schlüssel für eine gute IBD-Versorgung sei ein multidisziplinäres Team mit einem Gastroenterologen, Chirurgen, einer spezialisierten Pflegekraft, einem Ernährungsberater und einem Psychologen, so Driscoll. Die Befragung ergab jedoch, dass vor allem der Zugang zu Ernährungsberatung und psychologischer Unterstützung noch sehr unbefriedigend ist. Nur rund einem Drittel der Betroffenen stand eine spezialisierte Krankenschwester zur Seite. Nur jeder Zehnte hatte das Angebot, sich im Rahmen einer Weiterbildung noch intensiver über die Erkrankung zu informieren. Patienten, die das Glück hatten, mit einem solchen multidisziplinären Team zusammenzuarbeiten, beurteilten ihre Versorgung zu 76 Prozent mit «exzellent» oder «sehr gut». Insgesamt waren rund die Hälfte der Befragten mit ihrer Betreuung sehr zufrieden, 20 Prozent fühlten sich schlecht betreut (siehe auch: www.ibd2020.org).
Mehr Kinder betroffen? Chronisch entzündliche Darmerkrankungen scheinen vor allem bei Kindern und Jugendlichen in den industrialisierten Ländern gegenwärtig deutlich zuzunehmen. Über die Gründe, so Prof. Dr. Michael Kamm von der Universität Melbourne, wird gerätselt. Möglicher-
weise fördern Umwelteinflüsse oder Ernährungsgewohnheiten diese Tendenz, letztlich ist das jedoch Spekulation. Ist eine solche Zunahme auch in der Schweiz erkennbar? «Wir als Patientenvereinigung merken schon, dass immer mehr jüngere Mitglieder kommen, unser jüngstes ist gerade vier Jahre alt», erklärte Bruno Raffa, Präsident der Schweizerischen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung (www.smccv.ch) an einem Roundtablegespräch mit Schweizer Ärzten, Patienten und Journalisten. Allerdings sei es nicht ganz einfach, eine solche Beobachtung zu verifizieren, da bis anhin keine soliden Daten vorlägen, meinte PD Dr. med. Stephan Vavricka vom Stadtspital Triemli in Zürich. Denn ob tatsächlich mehr Kinder betroffen sind oder dieser Eindruck nur zustande kommt, weil mehr danach gesucht wird oder die Eltern aufmerksamer geworden sind, kann nur durch prospektiv erhobene Daten ermittelt werden. Gegenwärtig werden solche Daten in der Schweizer IBDKohorte gesammelt. Um eine wissenschaftliche Antwort zu bekommen, müsse man deshalb noch ein paar Jahre warten, sagte Vavricka. Trotzdem: «Wir
Prof. Dr. Michael Kamm, Melbourne
ARS MEDICI 7 I 2014
367
BERICHT
Schweizer Gastroenterologen am Roundtablegespräch in Kopenhagen (v.l.): PD Dr. med. Stephan Vavricka, Zürich, Dr. med. Pascal Juillerat, Bern, Prof. Dr. med. Pierre Michetti, Lausanne.
als Gastroenterologen haben auch das Gefühl, dass die Häufigkeit von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen bei Kindern derzeit zunimmt.»
Früh diagnostizieren und behandeln Ob nun Kinder oder Erwachsene, wichtig sind eine möglichst frühe Diagnose und Behandlung der Erkrankung. In einer aktuellen Untersuchung wurde gezeigt, dass das Risiko für Komplikationen bei spät diagnostizierten Patienten deutlich höher ist als bei rechtzeitig erkannten. Jedoch dauert es nach wie vor viel zu lange, bis IBD-Patienten sicher wissen, woran sie leiden. In der Schweiz wird die Hälfte der Patienten mit Morbus Crohn nach 9 Monaten und mit Colitis ulcerosa
TNF-alpha-Hemmer zur Behandlung von IBD
Derzeit sind in der Schweiz zur Behandlung von mässigem bis schwerem Morbus Crohn TNFalpha-Hemmer zugelassen, nämlich Infliximab (Remicade®, intravenös), Adalimumab (Humira®, subkutan) und Certolizumab Pegol (Cimzia®). Zur Behandlung einer mittelschweren bis schweren Colitis ulcerosa stehen neuerdings drei TNFalpha-Hemmer zur Verfügung: Infliximab (Remicade®) für Patienten, bei denen eine konventionelle Therapie, einschliesslich 5-ASA, Kortikosteroiden und 6-Mercaptopurin (6-MP) oder Azathioprin (AZA), gescheitert ist, Golimumab (Simponi®) für Patienten, bei denen eine konventionelle Therapie, einschliesslich Kortikosteroiden und 6-MP oder Azathioprin (AZA), gescheitert ist, und Adalimumab (Humira®) für Patienten unmittelbar nach Versagen der Kortikosteroide oder unmittelbar nach Versagen der Immunsuppressiva.
nach 4 Monaten diagnostiziert. Bei einem beträchtlichen Teil der Patienten ist dieser Zeitraum noch deutlich länger. So erfährt jeder vierte Betroffene mit Morbus Crohn erst 2 Jahre und mit Colitis ulcerosa 1 Jahr nach Beginn der Symptome, welche Krankheit dahintersteckt. «Wenn man die Qualität verbessern möchte, muss man das Bewusstsein für diese Krankheit schärfen», so Stephan Vavricka. «Das gilt für niedergelassene Ärzte ebenso wie für die Allgemeinbevölkerung.»
Bessere Patientenversorgung in IBD-Zentren Und wie sieht heute die Versorgung von IBD-Patienten in der Schweiz aus? Adéla Fanta von der SMCCV gab zu bedenken, dass viele Betroffene sich ohnmächtig und nicht optimal behandelt fühlen. «Ich musste häufig dafür kämpfen, bis mich der Hausarzt beispielsweise zum Dermatologen oder Gynäkologen überwiesen hat», sei häufig zu hören. Zudem gerate die Kommunikation zwischen den einzelnen Fachdisziplinen immer wieder ins Stocken. Obwohl beispielsweise in Zürich, Bern oder Lausanne heute spezialisierte IBD-Zentren existieren, sei die Versorgung von IBD-Patienten in der Schweiz immer noch stark dezentralisiert, sagte Prof. Dr. med. Pierre Michetti, Gastroentérologie La SourceBeaulieu Lausanne. Andere europäische Länder seien in der Bündelung der Fachkompetenz deutlich weiter. «Möglicherweise ist das ein wenig der Schweizer Mentalität geschuldet, nur ungern das heimische Dorf zu verlassen», so Bruno Raffa: «Deshalb gehen viele Betroffene lieber zum dortigen Arzt.» Das sei auch in Ordnung so,
ergänzte Michael Harnisch von der SMCCV, denn bei einfachen Problemen ist man beim niedergelassenen Arzt sehr gut aufgehoben. Wenn jedoch akute Schübe und Nebenwirkungen stärker werden, steigt auch das Bedürfnis nach einer spezialisierten Behandlung. «Für uns Betroffene sind solche Zentren mit ihrem interdisziplinären Ansatz sicherlich die beste Option», sagte Raffa. Neben der interdisziplinären Versorgung haben IBD-Zentren einen weiteren Vorteil. Es sei dort wesentlich leichter, Patienten für wissenschaftliche Studien zu rekrutieren, erklärte Vavricka, der in Zürich selbst solche Studien betreut. Letztlich kommen die in den Untersuchungen gewonnenen Erfahrungen, zum Beispiel zu neuen Therapieformen, den Betroffenen zugute. Möglicherweise könnten durch eine Zertifizierung der Zentren beziehungsweise der IBD-Behandlung die Qualitätsstandards vereinheitlicht werden – allerdings, so die einhellige Meinung der Teilnehmer des Roundtablegesprächs, würde man sich mit einem solchen Ansinnen unter den Schweizer Gastroenterologen nicht gerade beliebt machen. Beliebt oder unbeliebt, sinnvoll wäre es auf jeden Fall, baldmöglichst eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Wo gibt es bereits IBD-Zentren in der Schweiz? Was bieten diese Institutionen an? Wie können Informationen noch besser an Patienten und Ärzte gelangen? Bei aller Kritik, so Dr. med. Pascal Juillerat vom Inselspital Bern, sei das Schweizer Gesundheitssystem im internationalen Vergleich immer noch extrem gut. So gebe es viele Möglichkeiten, sich den Rat von Experten einzuholen. Zwar bestünde sicher Verbesserungsbedarf, aber die Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Gastroenterologen und Dermatologen sei heute in Netzwerken selbstverständlich.
Wieso immer so viel Kortison? Ein gutes Beispiel für ein Verbesserungspotenzial bei der Therapie von Patienten mit einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung ist der Umgang mit Kortison. Bekanntermassen lassen sich mit Kortikosteroiden akute Entzündungsschübe schnell und effektiv zurückdrängen. Langfristig ist jedoch mit erheblichen Nebenwirkungen zu rechnen. Umso erstaunlicher, aber beileibe kein
368
ARS MEDICI 7 I 2014
BERICHT
Bruno Raffa, Präsident der Schweizerischen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung (SMCCV), im Gespräch mit PD Dr. med. Stephan Vavricka und Dr. med. Pascal Juillerat.
Einzelfall, ist das an dem Roundtablegespräch geschilderte Beispiel eines Betroffenen, der erst nach über zweieinhalb Jahren Kortisonbehandlung auf das Medikament verzichten durfte. Möglich machte dies die Genehmigung einer Anti-TNF-alpha-Therapie; heute gehe es ihm endlich wieder gut. Eine solche Monate oder sogar Jahre andauernde Behandlung mit Kortikosteroiden sei der «Supergau», so die
Immunsuppressiva wie Azathioprin/ 6-Mercaptopurin (Imurek® oder PuriNethol®) oder TNF-alpha-Antikörper (Humira®, Remicade®, Golimumab®) an. Welches Medikament nun in welcher Situation für welchen Patienten sinnvoll ist, hat auch viel mit der Erfahrung des Gastroenterologen zu tun. «Gerade Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen müssen sehr individuell eingestellt werden,
«sondern es wird zielgerichtet das Entzündungsgeschehen nur an den entscheidenden Stellen im Darm gehemmt.» Durch diesen neuen Wirkmechanismus hätte man – beispielsweise beim Versagen der bisherigen Anti-TNF-Medikamente – ein komplett neues Werkzeug zur Hand, so die Hoffnung von Juillerat. Auch in puncto Diagnose könnte es in Zukunft Neues geben. Schon seit Längerem ist man in der Lage, das Protein Calprotectin als Marker für die Entzündungsaktivität im Darm zu nutzen. Im Gespräch sind neuerdings Selbsttests für die Patienten. Allerdings seien diese Tests noch nicht sehr gut validiert, gab Vavricka zu bedenken. Bemerkenswerterweise habe man festgestellt, dass die Patienten ihren Calprotectinwert auch ohne Messung recht gut einschätzen können. In der nächsten Zeit soll dies im Rahmen einer eigenen Studie überprüft werden. Würde man bei operierten Morbus-Crohn-Patienten, auch mithilfe eines zukünftigen Calprotec-
«Kortison ist ein hervorragendes Medikament, um akute Schübe zu behandeln, aber extrem schlecht, um eine lange schubfreie Phase zu erhalten.»
Reaktion der drei Gastroenterologen am Roundtable. «Patienten unter Langzeitsteroiden sind eigentlich am schlechtesten von allen behandelt. Das ist ein hervorragendes Medikament, um akute Schübe zu behandeln, aber extrem schlecht, um eine lange schubfreie Phase zu erhalten», so die Einschätzung von Vavricka. Wenn schon in jungen Jahren eine längerfristige Kortisonbehandlung begonnen werde, steige im Alter die Gefahr von Osteoporose und Knochenfrakturen. Das oberste Ziel müsse es daher sein, möglichst schnell vom Kortison wegzukommen, eine Therapie solle nicht länger als 3 bis maximal 6 Monate dauern. Als Alternativen bieten sich
und jeder Arzt sollte bei einem Misserfolg einen Plan B in der Tasche haben», ergänzte Juillerat.
Neue Behandlungsstrategien Als weitere hoffnungsvolle Therapiestrategie könnte sich in Zukunft die sich noch in der Studienphase (Phase III) befindliche Blockade der Integrine erweisen. Integrine sind Eiweissmoleküle, die in fast allen tierischen Zellmembranen vorkommen. Sie verbinden Zellen mit anderen Zellen und sind für die Signalübermittlung zwischen Zellen und der Umgebung bedeutsam. «Mit der Integrinhemmung wäre zum ersten Mal nicht der ganze Köper immunsupprimiert», erklärte Michetti,
tin-Selbsttests, konsequent Rückfälle
frühzeitig erkennen und adäquat be-
handeln, so Michael Kamm, könnten
neuerliche Koloskopien um 40 Prozent
reduziert werden.
O
Klaus Duffner
Quelle: «Perspectives on IBD quality of care» und Roundtablegespräch mit Schweizer Patientenvertretern und Ärzten am Jahreskongress der European Crohn’s and Colitis Organisation (ECCO), 19. bis 24. Februar 2014 in Kopenhagen; Fotos: Klaus Duffner.
Die Realisierung der Pressekonferenz und des Roundtables vom 19. Februar 2014 wurde von mehreren Sponsoren, unter anderem AbbVie, unterstützt. Auf den Inhalt des Textes wurde kein Einfluss genommen.
ARS MEDICI 7 I 2014
369