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Sitzen geblieben
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Wie gefährlich das Sitzen ist, zeigt Prof. Dr. med. Jochen D. Schipke anhand der Literatur auf. Seine Publikation «Die Stühle werden uns töten» (Caisson 2013, Nr. 4) setzte mir echt zu. Laut Veerman et al. sei eine Stunde Sitzen vor dem TV doppelt so gefährlich wie das Rauchen einer Zigarette. Das hat gesessen! Wilmot et al. hätten metaanalysiert, dass bei Vielsitzern gegenüber Nichtsitzern das Risiko, Diabetes zu entwickeln, um 112 Prozent erhöht sei.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Sitzen geblieben
W ie gefährlich das Sitzen ist, zeigt Prof. Dr. med. Jochen D. Schipke anhand der Literatur auf. Seine Publikation «Die Stühle werden uns töten» (Caisson 2013, Nr. 4) setzte mir echt zu. Laut Veerman et al. sei eine Stunde Sitzen vor dem TV doppelt so gefährlich wie das Rauchen einer Zigarette. Das hat gesessen! Wilmot et al. hätten metaanalysiert, dass bei Vielsitzern gegenüber Nichtsitzern das Risiko, Diabetes zu entwickeln, um 112 Prozent erhöht sei. Um 147 Prozent sei es für kardiovaskuläre Ereignisse, um 90 Prozent für Herz-Kreislauf-Tod und um 49 Prozent für Exitus anderer Ursachen erhöht. Da muss man sich erst mal hinsetzen, wenn man so etwas liest. Zwecks Prävention sagt Schipke – analog zum Rauchverbot in Restaurants – stuhlfreie Zonen in Gaststätten voraus. Sitzwillige würden rausgestuhlt. Sie träfen dann in den Stuhlzonen auf dem Trottoir auf andere Sitzer sowie auf stehende und – o Graus! – sitzende Raucher. Gastronomiebetriebe wären nichtrauchenden Nichtsitzern vorbehalten, also Menschen mit Stehvermögen. Dafür sollte man einstehen, finde ich. Denn auch das Problem des Überhockens der Gäste, bis jetzt vom müden Wirt durch Aufstuhlen bekämpft, würde dadurch gelöst. Zwar könnte neu eine Unsitte des Über-Stehens einreissen, besonders wenn die Gäste einen sitzen haben. Vermutlich lägen sie dann aber wieder, was dem Angiologen-Tipp «Lieber liegen und laufen – sitzen und stehen schlecht» entspräche. Vor dem Sitzenbleiben hatte ich schon in der Schulzeit Angst. Doch die Frage «Loosch mi hocke?» gewann mit zunehmendem Alter eine andere Bedeutung. War es in Teen- und Twenzeiten noch schlimm, sitzen gelassen zu werden, freue ich mich jetzt, wenn das jemand tut. Speziell in Bus und Tram. Das Sitzanbieten ist ein Aufsteller und gut für die Gesundheit. Noch besser wäre es zu liegen oder zu laufen. In öffentlichen Verkehrsmitteln aber ein NoGo, es würde in Stosszeiten als stossend empfunden. Zu Recht kritisiert Schipke, dass bisher in keiner prospektiven, randomisierten und doppelblinden Studie untersucht wurde, ob Passivsitzen auf Stehende einen Einfluss hat. Dass dies schon bei kurzer Exposition der Fall ist, vermute ich aufgrund der gequälten Mimik meiner Patienten, die in der Anmeldung vor dem Tresen stehen, hinter dem meine MPA sitzen. Möglicherweise steckt Sitzen auch an, denn die Patienten laufen dann nur noch ins Wartezimmer, um sich sofort hinzusetzen. Und sich nicht hinlegen, obwohl das für ihre

Varizen besser wäre. Vielleicht sollte ich alle Sitzplätze in der Praxis aufheben. Auch die der MPA. Grossfirmen machen inzwischen ja schon Steharbeitslunches statt Sitzungen. Doch ich bin nicht standhaft genug dafür. Sitzbälle führten bei meinen MPA zu krakeliger Schrift, weil sie damit herumhüpften, und zu Verletzungen, wenn sie herunterfielen. Darum kaufe ich ergonomische Sessel. Jedes Jahr zwei teure neue. Mal aus Sicherheitsgründen fünffüssig mit arretierbaren Rollen. Mal musste das Sitzleder aus Leder sein, mal aus hygienischen Gründen aus Plastik und im Jahr drauf wegen der Ästhetik aus rosa Textil. Mal rieten die Ergonomen zu dicker Polsterung, mal zu Hartholz. Im Folgejahr war Lehne aus Netztextil angesagt, damit die MPA nicht am Rücken schwitzen. Dabei strengen sie sich doch nicht so sehr an … zumindest nicht mit dem Rücken. Doch da der richtige Sitz nicht nur beim Reiten entscheidend ist, wird bei ihren Fauteuils nicht gespart. Sie stehen auf Hydraulik das für Rauf und Runter, Wippfunktion, wegklappbare Armlehnen und abnehmbare Beinstützen. Alles kriegen sie – damit sie sesshaft bleiben und nicht zur Konkurrenz abwandern. Ich hingegen bin betreffend Sitzkultur stehen beziehungsweise sitzen geblieben: Seit Jahrzehnten auf dem harten Dreibeiner, dem Erbstück meines Grossvaters, der genau wie mein Vater Hausarzt war. Da stehe ich drauf, da liegt mir was dran. Die kantige Sitzkante schnürt mir den Kreislauf der Unterschenkel ab, die Polsternägel, die das rissige Leder über dem durchgesessenen Rosshaar befestigen, hinterlassen Abdrücke im Fleisch. Die unverstellbaren Rücken- und Armlehnen erzeugen Hämatome und zwingen mich zu militärisch straffer Haltung. Sollte ich mich zurücklehnen und kippeln, fiele ich um. Die Sitzhöhe ist zu hoch, sodass meine Beine über dem Fussboden baumeln – aber hinter dem Schreibtisch sehe ich, ein Sitzriese, hochgewachsen und bedeutend aus. Bis ich aufstehe … Auf was Prof. Schipke wohl sitzt? Erforscht er gerade, wie sich übermässiges Sitzen auf die sowieso schon dysplastisch verzüchteten Hüftgelenke von Schäferhunden auswirkt? Dann würde der Befehl «Sitz!» an Tierquälerei grenzen. Die Studienresultate bei Menschen rechtfertigen bereits jetzt, dass junge Männer beim ersten Date mit ihrer Freundin nicht mehr mit «Nimm doch bitte Platz!» einen Stuhl in die Kniekehle schieben. Gesundheitsförderlich ist ihre Aufforderung «Leg dich schon mal hin!», obwohl es ja «One-Night-Stand» heisst.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 6 I 2014