Transkript
INTERVIEW
Procalcitonin und Copeptin als Risikomarker
Interview mit Prof. Mirjam Christ-Crain, Universitätsspital Basel
Die Messung bestimmter Hormonspiegel im Blut erlaubt frühzeitige Aussagen zum weiteren Verlauf verschiedener Erkrankungen, wie beispielsweise Lungenentzündungen oder Schlaganfälle. Die klinischen Forschungsprojekte von Prof. Dr. Mirjam Christ-Crain und ihrem Team am Universitätsspital Basel haben dazu beigetragen, dass gefährdete Patienten heute früher gewarnt und gezielter behandelt werden können.
ARS MEDICI: Frau Professor Christ-Crain, Sie haben sich unter anderem mit der Frage befasst, wie man virale von bakteriell verursachten Pneumonien möglichst früh unterscheiden kann. Warum? Prof. Mirjam Christ-Crain: Etwa 90 Prozent der Lungenentzündungen sind bakteriell bedingt, der Rest wird hauptsächlich durch Viren, aber auch durch Pilze oder Parasiten verursacht. Allerdings existieren keine guten Laborparameter, mit denen bakterielle oder virale Pneumonien gut zu unterscheiden sind. Zudem kann sich auch die Klinik zwischen beiden Formen überschneiden, und auch Superinfektionen sind möglich. Also gibt man bei einer Lungenentzündung sicherheitshalber erst einmal Antibiotika – und das ist im Prinzip auch richtig so. Wir sehen derzeit aber immer mehr Antibiotikaresistenzen. Das stellt vor allem in den Spitälern ein zunehmendes Problem dar. Wir wissen alle, wie schwierig es sein kann, Patienten mit multiresistenten Keimen zu behandeln. Also haben wir uns die Frage gestellt, ob man über einen speziellen Marker im Blut die Antibiotikamenge bei Lungenentzündungen eingrenzen und gegebenenfalls auch die Dauer der
«Procalcitonin steigt praktisch nur an, wenn ein bakterieller Infekt vorliegt.»
Therapie reduzieren kann. Man weiss schon länger, dass der Procalcitoninspiegel bei bakteriellen Infekten höher ist als bei Virusinfektionen. Ist der Spiegel dieses Hormons tief, kann von einer Virusinfektion ausgegangen und ohne Antibiotika weitergemacht werden.
ARS MEDICI: So weit die Theorie … Christ-Crain: Wir haben das, in Zusammenarbeit mit Pneumologen und Infektiologen, erstmals in einer Studie geprüft und
Patienten mit Lungenentzündung in zwei Gruppen randomisiert. Eine Gruppe wurde von ihrem Arzt nach den Guidelines beziehungsweise nach den eigenen Erfahrungen behandelt. In der Interventionsgruppe wurden dagegen Procalcitonin-gesteuert Antibiotika verabreicht. Und in dieser Gruppe konnten wir tatsächlich die Antibiotikadauer um 50 Prozent reduzieren. Ich bin davon überzeugt, dass eine solche Reduktion langfristig auf die Antibiotikaresistenzen einen Einfluss hat, obwohl wir das natürlich nicht direkt beweisen können. Zudem konnten wir in der Untersuchung mit über 1200 Teilnehmern zeigen, dass die Patienten – obwohl sie weniger Antibiotika zu sich nahmen – keinem erhöhten Erkrankungsbeziehungsweise Rückfallrisiko ausgesetzt waren.
ARS MEDICI: Das widerspricht den früheren Empfehlungen für die Antibiotikagabe, oder? Christ-Crain: Früher hiess es: mindestens zwei Wochen Antibiotikabehandlung. Heute geht man davon aus, dass auch kürzer behandelt werden darf. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass mit jedem zusätzlichen Tag Antibiotikaeinnahme das Risiko, Träger eines resistenten Keims zu sein, um 4 Prozent ansteigt. Natürlich darf die Dauer nicht so kurz sein, dass die ganze Behandlung gefährdet wird und ein Rückfall zu befürchten ist. Da muss man den richtigen Weg finden.
ARS MEDICI: Zurück zum Procalcitonin: Was weiss man darüber? Christ-Crain: Procalcitonin ist ein Vorläufer des Calcitonins. Es wird im ganzen Körper gebildet und ist ziemlich einfach zu messen. Wir haben die Laborergebnisse nach 30 bis 60 Minuten. Procalcitonin steigt praktisch nur an, wenn ein bakterieller Infekt vorliegt, das heisst wenn gewisse bakterielle Toxine und bestimmte Faktoren der Immunabwehr exprimiert wurden. Deshalb ist es wohl auch nur ein sogennanter «Second messenger» bei der Infektabwehr des Körpers. Wahrscheinlich werden durch Procalcitonin weitere Immunantworten ausgelöst. In Experimenten mit Schweinen hat man gesehen, dass durch ein einfaches Spritzen dieses Hormons keine Reaktion im Körper stattfindet. Wenn das Tier aber septisch ist und dann Procalcitonin injiziert bekommt, dann steigt die Mortalität signifikant. Also ist eine gewisse Menge für den Körper notwendig, aber eine zu hohe Dosis bewirkt das Gegenteil.
ARS MEDICI:Was heisst das für Patienten mit Lungenentzündung? Christ-Crain: Es ist vor allem die Procalcitonindynamik, die einen prädiktiven Charakter besitzt. Wenn der Spiegel steigt und dann auf hohem Niveau stehen bleibt, ist das schlecht für
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Copeptin sozusagen als Stellvertreter des Vasopressins. Copeptin wird aber auch bei körperlichem Stress freigesetzt und kann somit auch als Stressmarker dienen, denn das Stresshormon Cortisol ist bei Weitem nicht so sensitiv wie Copeptin. In einer Studie wollten wir schauen, ob zwischen dem Copeptinspiegel im Blut und dem Verlauf der Krankheit ein Zusammenhang existiert. Dazu haben wir die Blutwerte von 400 Patienten mit Schlaganfall untersucht und dann drei Monate nach dem Ereignis diese Werte mit dem Outcome der Patienten verglichen. Dabei zeigte sich, dass mit steigendem Copeptinspiegel eindeutig auch das Mortalitäts- beziehungsweise Morbiditätsrisiko der Patienten anstieg.
Zur Person Prof. Dr. med. Mirjam Christ-Crain, Klinische Forschung und Endokrinologie der Universität Basel, ist Stv. Chefärztin an der Abteilung Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus am Basler Universitätsspital; neben einer Reihe weiterer Auszeichnungen erhielt sie im Jahr 2009 den Latsis-Preis (Foto: K. Duffner).
den Patienten. In unserer Studie hatten diejenigen mit längerfristig hohen Procalcitoninspiegeln eine schlechtere Prognose, nicht wenige sind verstorben. Wer nur kurzfristig hohe
«Copeptin ist ein unabhängiger prognostischer Marker bei Schlaganfall.»
Procalcitoninwerte aufwies, hatte dagegen bessere Chancen. Wenn wir also mit diesem Wissen beobachten, dass der Wert oben bleibt, können wir noch intensiver nach den Ursachen suchen. Das können für die jeweilige Infektion unpassende Antibiotika sein oder bis anhin unbekannte Komorbiditäten.
ARS MEDICI: Wird der Procalcitoninwert in der Praxis verwendet? Christ-Crain: In der Schweiz gibt es mittlerweile einige Spitäler, die diesen Wert messen und berücksichtigen. In einigen anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, wurde die Methode jetzt in die Guidelines integriert. In einer multizentrischen französischen Studie aus dem Jahr 2010 mit 600 Patienten hat man unsere Ergebnisse bestätigt. Das war für uns sehr wichtig.
ARS MEDICI: Sie sind noch einem anderen Hormon als Risikomarker auf der Spur, dem Copeptin. Was hat es damit auf sich? Christ-Crain: Es geht um die Rolle des Copeptins im Zusammenhang mit dem Schlaganfall. Copeptin wird im Gehirn im Hypothalamus zusammen mit Vasopressin produziert. Vasopressin regelt über die Hypophyse den Wasser- beziehungsweise Salzhaushalt, die Funktion von Copeptin ist hingegen noch unbekannt. Da Vasopressin sehr instabil und deshalb nur sehr schwer messbar ist, dient das leicht nachweisbare
ARS MEDICI: Wie ist das zu erklären? Christ-Crain: Die statistisch korrigierten Ergebnisse der Studie zeigten, dass Copeptin ein unabhängiger prognostischer Marker für den Schweregrad der Krankheit ist. Für Patienten mit Schlaganfall ist ein hoher Copeptinwert sozusagen eine rote Fahne. Das war übrigens der erste Nachweis für einen wirklich von der Schwere des Ereignisses unabhängigen Marker bei Schlaganfall.
ARS MEDICI: Das bedeutet, ein Patient mit einem relativ leichten Schlaganfall aber hohen Copeptinwerten hat ein unerwartet hohes Mortalitätsrisiko? Christ-Crain: Genau. Natürlich bleibt ein schwerer Schlaganfall schon ein Zeichen für ein schlechteres Outcome. Trotzdem können Patienten mit einem stärkeren Schlaganfall, aber niedrigem Copeptinspiegel eher auf ein gutes Ende hoffen. Welche Mechanismen dahinter stecken, wissen wir letzlich nicht.
ARS MEDICI: In welchen Fällen könnte Copeptin als Marker zur
Anwendung kommen?
Christ-Crain: Es gibt einige denkbare Anwendungsgebiete.
Erstens könnte man sich vorstellen, eine Stratifizierung für
lysepflichtige Patienten zu erarbeiten, denn eine Lyse ist ja
nicht ganz risikolos. Zweitens könnten Patienten mit transi-
torischer ischämischer Attacke davon profitieren. Wir haben
gesehen, dass TIA-Betroffene mit hohem Copeptinwert eher
einen erneuten Hirnschlag erleiden als solche mit einem
niedrigen Wert. Also sollten konsequenterweise vor allem
solche Patienten hospitalisiert und mit einer möglichst
umfangreichen Therapie bedacht werden, deren Copeptin-
wert ein hohes Risiko anzeigt. Bei den anderen ist das nicht
immer nötig. Heute werden fast alle hospitalisiert, was im
Übrigen sehr teuer ist. Zudem läuft in diesem Zusammen-
hang gerade eine Studie mit Kopfschmerzpatienten. Nicht
selten bereiten gerade Patienten mit starken Kopfschmerzen
den Ärzten Sorgen. Niemand will eine Hirnblutung, einen
Tumor oder eine Meningitis verpassen. Deshalb werden mit
hohem technischen und finanziellen Aufwand alle Even-
tualitäten abgeklärt, gleichzeitig sind jedoch 90 Prozent der
Kopfwehfälle völlig harmlos. Wenn wir dort einen Marker
hätten, der uns unter einer gewissen Schwelle anzeigt, dass es
nichts Ernstes ist, wäre es eine grosse Hilfe. Und zwar nicht
nur für die Spitäler, sondern auch für die Hausärzte.
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Das Interview führte Klaus Duffner.
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