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FORTBILDUNG
Diabetes: Konsensusstatement der US-Endokrinologen
Die American Association of Clinical Endocrinologists (AACE) hat einen Algorithmus für das Management des Diabetes Typ 2 für Hausärzte herausgegeben. Neben der glykämischen Kontrolle beziehen sich die Empfehlungen vor allem auf Übergewicht und Prädiabetes als Risikofaktoren für die Entwicklung von Diabetes und die damit verbundenen mikrovaskulären Komplikationen.
ENDOCRINE PRACTICE
Der neue Algorithmus der AACE zum Management des Diabetes Typ 2 wurde unter Berücksichtigung des gesamten Patienten mit all seinen Komplikationen und evidenzbasierten Behandlungsoptionen entwickelt. Das Statement umfasst Empfehlungen zum Management von Übergewicht und Prädiabetes sowie zur Behandlung der Hyperglykämie mit Lebensstilmodifikationen, Antidiabetika und Insulin. Des Weiteren geben die Experten Hinweise zum Management von Bluthochdruck und Hyperlipidämie.
Übergewicht Starkes Übergewicht trägt zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität bei. Eine Gewichtsabnahme ist mit einer Senkung des Blutzuckerspiegels und des Blutdrucks sowie mit einer
Merksätze
O Eine progrediente Schädigung der Betazellen ist häufig bereits vor der Diabetesdiagnose vorhanden.
O Eine Gewichtsabnahme ist mit einer Senkung des Blutzuckerspiegels und des Blutdrucks sowie mit einer Verbesserung des Lipidprofils verbunden.
O Bei Prädiabetes kann mit einer Gewichtsabnahme die Insulinresistenz verbessert und die Progredienz zu Diabetes Typ 2 aufgehalten werden.
O Zur Gewichtsreduzierung werden für alle Patienten therapeutische Lebensstilmodifikationen empfohlen.
Verbesserung des Lipidprofils verbunden und wird deshalb für alle übergewichtigen und adipösen Patienten mit Prädiabetes und Diabetes Typ 2 empfohlen. Behandlungsziele und -intensität sollten sich an der individuellen Art und Schwere der Komplikationen orientieren. Therapeutische Lebensstilmodifikationen werden für alle übergewichtigen Patienten empfohlen. Bei übergewichtsbedingten Komorbiditäten wie Insulinresistenz und kardiometabolischen Erkrankungen oder bei mechanischen Folgeerscheinungen des Übergewichts können zusätzlich Medikamente oder chirurgische Eingriffe von Nutzen sein. Unterstützende Schlankheitsmedikamente empfehlen die Experten bei einem Body-Mass-Index (BMI) ab 27 kg/m² und Komorbiditäten. Bei Patienten mit einem BMI ab 35 kg/m² und Komorbiditäten sollte eine bariatrische Operation erwogen werden, vor allem wenn mit anderen Optionen die therapeutischen Ziele nicht erreicht werden konnten.
Prädiabetes Mittlerweile ist bekannt, dass die progrediente Schädigung der Betazellen, welche die Stoffwechselentgleisung vorantreibt, bereits frühzeitig beginnt und schon vor der Diagnose des Diabetes vorhanden sein kann. In der Phase des Prädiabetes wird die unzureichende Kompensationsfähigkeit des Pankreas im Hinblick auf eine Insulinresistenz deutlich, die meist durch Übergewicht oder Adipositas verursacht wird. Zu den aktuellen Diagnosekriterien des Prädiabetes gehören eine beeinträchtigte Glukosetoleranz, eine gestörte Nüchternglukose oder das metabolische Syndrom. Jede dieser Störungen ist mit einem 5-fachen Anstieg des Diabetesrisikos verbunden. Primäres Ziel des Prädiabetesmanagements ist ein Gewichtsverlust, weil dadurch die Insulinresistenz reduziert und die Progredienz zu Diabetes Typ 2 wirksam aufgehalten werden kann. Die Pathogenese der abnehmenden Betazellfunktion kann mit einer Reduzierung des Körpergewichts allerdings nicht direkt beeinflusst werden. Antihyperglykämische Medikamente wie Metformin (Glukophage® und Generika) und Acarbose (Glucobay®) reduzieren das Diabetesrisiko bei Prädiabetes um 25 bis 30 Prozent. Beide Substanzen sind gut verträglich und senken zudem das kardiovaskuläre Risiko. Thiazoledindione (TDZ) verhinderten in Studien bei 60 bis 75 Prozent der Teilnehmer das Fortschreiten des Prädiabetes zu Diabetes Typ 2, sind jedoch mit unerwünschten Wirkungen verbunden. GLP («glukagon-like peptide»-)1-RezeptorAgonisten verhindern das Fortschreiten zu Diabetes Typ 2 ebenfalls, weisen jedoch ein inkonsistentes Sicherheitsprofil
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FORTBILDUNG
Met DPP-4
Hypoglykämie neutral
neutral
GLP -1 RA
neutral
TZD neutral
AGI neutral
Gewicht Nieren
geringfügiger Verlust
kontraindiziert in den Stadien 3B, 4, 5
neutral
Verlust
Zunahme
neutral
Dosisanpassung kann erforderlich sein (ausser bei Linagliptin)
Exenatid kontraindiziert bei CrCl < 30 kann Flüssigkeitsretention verschlimmern neutral COLSVL neutral neutral neutral BCR neutral neutral neutral SU GLN moderat, schwer leicht Insulin moderat bis schwer Zunahme Zunahme SGLT-2 neutral Verlust PRAML neutral Verlust erhöhtes Hypoglykämierisiko erhöhtes Hypoglykämierisiko und Flüssigkeitsretention Infektionen neutral GI moderat neutral moderat neutral moderat gering moderat neutral neutral neutral moderat CHF neutral neutral neutral moderat neutral neutral neutral neutral neutral neutral neutral CVD Nutzen neutral neutral neutral neutral neutral sicher ? neutral neutral neutral Knochen neutral neutral neutral moderater Knochenverlust neutral neutral neutral neutral neutral ? Knochenverlust neutral Grün: wenige unerwünschte Wirkungen oder potenzieller Nutzen; gelb: Anwendung mit Vorsicht; rot: unerwünschte Wirkungen wahrscheinlich. CrCl = Kreatininclearance; GI = Gastrointestinaltrakt; CHF = koronare Herzerkrankungen; CVD = kardiovaskuläre Erkrankungen Abbildung 1: Wirkprofile antidiabetischer Medikamente (nach AACE) auf. Beide Substanzklassen sollten daher Patienten mit besonders hohem Diabetesrisiko oder Personen vorbehalten bleiben, bei denen andere Medikamente nicht ausreichend wirksam sind. Pharmakotherapie des Diabetes Typ 2 Die AACE empfiehlt für die meisten Patienten einen HbA1cZielwert von 6,5 Prozent oder darunter. Einen glykämischen Zielwert über 6,5 Prozent erachten die Experten nur dann als ausreichend, wenn der niedrigere Wert nicht ohne unerwünschte Wirkungen erreicht werden kann. Bei neu diagnostiziertem Diabetes oder geringfügiger Hyperglykämie (HbA1c < 7,5) wird eine therapeutische Änderung des Lebensstils in Kombination mit einer antidiabetischen Monotherapie empfohlen (Abbildung 1). Das First-lineMedikament Metformin ist mit einem geringen Hypoglykämierisiko verbunden, fördert den Gewichtsverlust und gewährleistet einen dauerhaften antihyperglykämischen Effekt. Bei fortgeschrittener Beeinträchtigung der Niere kann dieser Wirkstoff jedoch nicht angewendet werden. Patienten mit einem HbA1c-Wert über 7,5 Prozent, die den Zielwert mit Metformin allein nicht erreichen, erhalten ein zweites Antidiabetikum. Wird Metformin nicht vertragen, sollten zwei Medikamente mit ergänzenden Wirkmechanismen kombiniert werden. Geeignete Alternativen zu Metformin sind GLP-1-Agonisten, Dipeptidyl-Dipeptidase-4-(DPP-4-) Hemmer und Alphaglukosidasehemmer (AGI). Da die meisten DPP-4-Hemmer – ausser Linagliptin – über die Niere ausgeschieden werden, ist gegebenenfalls eine Reduzierung der Dosis erforderlich. Bei AGI schränken unerwünschte Wirkungen wie Blähungen, Flatulenz und Diarrhö die Anwendbarkeit ein. TZD, Sulfonylharnstoffe (SFU) und Glinide (GLN) sollten mit Vorsicht angewendet werden, da sie mit Gewichtszunahme, einem erhöhten Hypoglykämierisiko und anderen Risiken verbunden sind. Bei SFU besteht das höchste Risiko für schwere Hypoglykämien unter allen Nichtinsulinantidiabetika. Der Gallensäurebinder Colesevelam (COLSVL, Cholestagel®; nicht im AK der Schweiz) senkt den Blutglukosespiegel geringfügig, verursacht keine Hypoglykämien und reduziert das LDL-Cholesterin. Die Anwendung ist jedoch aufgrund gastrointestinaler Unverträglichkeiten und einer potenziellen Erhöhung der Triglyzeridwerte eingeschränkt. Der Dopaminrezeptoragonist Bromocriptin (BCR, Parlodel®) wirkt geringfügig blutzuckersenkend und verursacht ebenfalls keine Hypoglykämien. Allerdings kann die Substanz Übelkeit und Orthostase verursachen und sollte nicht gleichzeitig mit Antipsychotika eingenommen werden. Der Natriumglukose-Cotransporter-2-Inhibitor Canagliflozin (SGLT-2, Invokana®) wurde erst kürzlich zugelassen, sodass bis anhin nur geringe Erfahrungen zur Anwendung im klinischen Alltag vorliegen. Wann Insulin – und welches? Die Entscheidung, mit welchem Insulin zu welchem Zeitpunkt begonnen werden sollte, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Dazu gehören die Motivation des Patienten, kardiovaskuläre und Endorgankomplikationen sowie das Alter, das Hypoglykämierisiko und der allgemeine Gesundheitszustand. Bei Patienten mit einem HbA1c über 8 Prozent, die bereits zwei oder mehr orale Antidiabetika oder GLP-1 erhalten, oder bei langjährig bestehendem Diabetes Typ 2 ist es eher unwahrscheinlich, den Zielwert mit weiteren oralen Antidiabetika zu erreichen. In diesen Fällen sollte dem Regime ein Basalinsulin zugefügt werden (Abbildung 2). Die Dosierung wird in regelmässigen kurzen Intervallen angepasst, sodass der Glukosezielwert unter Vermeidung von Hypoglykämien erreicht werden kann. ARS MEDICI 6 I 2014 305 FORTBILDUNG Lebensstilmodifikationen inklusive medikamentengestützten Gewichtsverlusts HbA1c < 7,5% HbA1c ≥ 7,5% Monotherapie* Metformin GLP-1-RA DPP4-I AGI SGLT-2** TDZ SU/GLN Wenn HbA1c >6,5% nach 3 Monaten, zweites Medikament hinzufügen
Duale Therapie*
MET
oder anderes First-lineMedikament
GLP-1-RA DPP4-I TDZ SGLT-2**
plus
Basalinsulin
Colesevelam
Bromocriptin
AGI
SU/GLN
Wenn Ziel nach 3 Monaten
nicht erreicht, drittes Medikament hinzufügen
Tripeltherapie*
Second-lineMedikament
GLP-1-RA TDZ
MET
oder anderes First-lineMedikament
SGLT-2** Basalinsulin DPP4-I
plus
Colesevelam Bromocriptin
AGI
SU/GLN
Wenn Ziel nach 3 Monaten nicht erreicht, Insulin beginnen oder intensivieren
HbA1c > 9%
Keine Symptome
Duale Therapie
oder
Tripeltherapie
Symptome
Insulin ±
andere Substanzen
Insulin hinzufügen oder
Insulintherapie intensivieren
Erkrankungsprogression
*Reihenfolge entspricht der Anwendungshierarchie; ** basiert auf 3 klinischen Studien grün: wenige Nebenwirkungen oder potenzieller Nutzen; gelb: mit Vorsicht anwenden
Abbildung 2: Algorithmus zur glykämischen Kontrolle (nach AACE)
Basalinsulinanaloga werden Neutral-Protamin-Hagedorn (NPH-)Insulin vorgezogen, da mit einer Dosis eine relativ geringe Insulinkonzentration über einen Zeitraum von bis zu 24 Stunden sichergestellt werden kann. Insulinanaloga und NPH-Insulin weisen zwar eine ähnliche Wirksamkeit zur Reduzierung des HbA1c auf, jedoch verursachen Analoga wesentlich seltener Hypoglykämien. Vorgemischte Insuline sind mit einer geringeren Dosierungsflexibilität verbunden und waren in Studien mit mehr hypoglykämischen Ereignissen assoziiert als Basalinsuline und Basal-Bolus-Regime. Für Patienten, die mit einem einfacheren Regime zurechtkommen, sind sie im Einzelfall dennoch geeignet. Patienten, die mit Basal- oder vorgemischtem Insulin keine ausreichende Kontrolle erreichen, oder Patienten mit symptomatischer Hyperglykämie und HbA1c-Werten über 10 Prozent können mit einer Kombination aus einem Basalinsulin und einem ergänzenden Bolusinsulin zu den Mahlzeiten eine bessere glykämische Kontrolle erzielen. Ein vollständiges Basis-Bolus-Programm ist hoch wirksam und ermöglicht Patienten mit unterschiedlichen Essenszeiten mehr Flexibilität.
Bei allen Patienten müssen Hypoglykämien möglichst vermieden werden. Etwa 7 bis 15 Prozent der mit Insulin behandelten Patienten erleiden jährlich mindestens eine Hypoglykämieepisode, und bei 1 bis 2 Prozent kommt es zu schweren Hypoglykämien. Aus randomisierten Studien geht hervor, dass bei Diabetikern nach einer oder mehreren schweren Hypoglykämien die Todesrate 2- bis 4-fach erhöht war. Unter Insulinen nehmen die Patienten etwa 1 bis 3 kg mehr zu als unter anderen Antidiabetika (Abbildung 1). Pramlintid (nicht im AK der Schweiz) ist in den USA zur Anwendung mit Basal-Bolus-Insulinregimen zugelassen. Pioglitazon (Actos® und Generika) ist in Dosierungen von 15 und 30 mg für die Anwendung in Kombination mit Insulin indiziert, es kann dabei jedoch zur Gewichtszunahme kommen. Bei gleichzeitiger Anwendung von SFU und Insulin nehmen das Risiko für eine Gewichtszunahme und das Hypoglykämierisiko zu. Inkretine erhöhen die endogene Insulinsekretion und vermindern die Basalglukose sowie die postprandiale Glukose. Als Zusatz zu Basalinsulin können Inkretine die Gewichtszunahme und Hypoglykämien im Zusammenhang mit Basal-Bolus-Insulin minimieren.
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Blutdruck senken Bei Diabetikern ist Bluthochdruck mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse verbunden. Die AACE empfiehlt daher Zielwerte von etwa 130/80 mmHg. Wirksame Lebensstilmodifizierungen zur Senkung des Blutdrucks bestehen in einem Gewichtsverlust und der Einschränkung des Salzkonsums. Die Wirksamkeit von Sport ist bei Diabetikern geringer ausgeprägt als bei Personen ohne Diabetes, dennoch sollte Bewegung empfohlen werden. Bei den meisten Diabetikern sind Medikamente zum Erreichen der Zielwerte erforderlich. ACE-Hemmer, Angiotensinrezeptorblocker, Betablocker, Kalziumkanalblocker und Diuretika sind für diese Patienten Optionen der ersten Wahl.
Lipidwerte verbessern Aufgrund des signifikant erhöhten kardiovaskulären Risikos ist bei Typ-2-Diabetikern zudem ein frühzeitiges intensives Management von Dyslipidämien erforderlich. Klassische Risikofaktoren für einen erhöhten LDL-Spiegel sind Rauchen, Bluthochdruck (≥ 140/90 mmHg), HDL-CholesterinWerte unter 40 mg/dl, familiäre koronare Herzerkrankungen
sowie ein Alter ab 45 Jahren bei Männern und ab 55 Jahren
bei Frauen. Einige Diabetiker können das Lipidprofil mit
Lebensstilmassnahmen wie Einstellung des Rauchens, aus-
reichend Bewegung, Gewichtsmanagement und gesunder
Ernährung verbessern. Bei den meisten sind jedoch Medika-
mente erforderlich. Hier sind Statine die Medikamente der
ersten Wahl, da sie bei Diabetes Typ 2 nachweislich das
Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und die Mortalität
senken. Häufig müssen Statine mit anderen Lipidsenkern wie
Ezetimib (Ezetrol®), Gallensäurebindern, Fibraten, Niacin
oder Omega-3-Fettsäuren aus Fischöl kombiniert werden,
um die therapeutischen Zielwerte zu erreichen.
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Petra Stölting
Quelle: Garber AJ et al: American Association of Clincal Endocrinologists’ comprehensive diabetes management algorithm 2013 consensus statement – executive summary. Endocrine Practice 2013; 19(3): 536–557.
Interessenkonflikte: 5 der 19 Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte. Alle anderen haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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