Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Palliativmedizin in der Praxis
Zu Hause sterben – Voraussetzungen und Hindernisse
Was kann der Hausarzt tun, um diesen Patientenwunsch zu erfüllen?
Die Angst vor Symptomen ist häufig belastender als das Symptom selbst. Es braucht klare Absprachen und einen gemeinsamen Behandlungs- und Notfallplan für den Patienten, seine Angehörigen sowie Hausarzt und Spitex.
CHRISTOPH CINA
Heute sterben in der Schweiz jährlich rund 60 000 Menschen jeden Alters. Das Bundesamt für Statistik (BFS) rechnet damit, dass diese Zahl bis im Jahr 2050 auf jährlich 90 000 Menschen ansteigt. Die Entwicklung zeigt, dass die Zahl der Menschen mit unheilbaren, fortschreitenden Krankheiten in Zukunft zunehmen wird. Bereits heute zeigt sich, dass nur etwa 10 Prozent der Menschen, die jährlich in der Schweiz sterben, einen plötzlichen und unerwarteten Tod – mitten aus einem selbstständigen Leben heraus – erleiden (z.B. plötzlicher Herztod). Gemäss internationalen Studien möchten jedoch 75 Prozent der Menschen zu Hause sterben. Für die Schweiz sind dazu keine Zahlen verfügbar. Um diese Herausforderungen zu meistern, sind innovative gesundheitspolitische Modelle wie Palliative Care notwendig (siehe www.bag. admin.ch/themen/gesundheitspolitik).
Die Wünsche unserer Patienten Der rasante medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte brachte eine beeindruckende Verbesserung der Lebensquali-
Merksätze
tät – insbesondere für ältere und polymorbide Menschen – mit sich. Die Zahl der Hausbesuche, welche durch die Immobilität der Patienten durch invalidisierende Gelenksarthrosen notwendig waren, hat in unserer Praxis deutlich abgenommen. Notfälle, wie lebensbedrohliche Lungenödeme und Asthmaanfälle, sind seltener geworden. Die Früchte der modernen medizinischen Versorgung sind unverkennbar. Mit dem medizinischen Fortschritt und wohl nicht zuletzt dank der Einführung von DRG hat sich die Diagnoseliste der polymorbid kranken Patienten andererseits drastisch verlängert. Die Diagnoseliste wird im Spitalaustrittsbericht akribisch abgehandelt. So weiss ich als Hausarzt haargenau, welche Chemo- und Radiotherapie in welcher Dosierung und in welchem Zeitraum ausgeführt wurde, bei der Suche nach den Vorstellungen des Patienten, seinen Sorgen und Wünschen wird man als Hausarzt aber kaum fündig. In der letzten Lebensphase eines Patienten spielen Diagnosen häufig eine untergeordnete Rolle. Es sind die belastenden Symptome wie Atemnot, die Angst vor dem Ersticken, die Schmerzen, die Übelkeit und Inappetenz – um nur einige zu nennen –, die den Patienten plagen. Als Hausarzt ist man in der vorteilhaften Lage, den Patienten, seine Familie und das Umfeld über eine lange Zeitperiode kennenzulernen. In Zeiten schwerer Krankheit werden diese Patienten regelmässig durch die Spitex betreut, welche so einen intimen Einblick in die häusliche Situation erhält. Sowohl Hausarzt wie auch Spitex sind damit prädestiniert, die Vorstellungen, Sorgen und Wünsche des Patienten zu erfahren. Dass sich in Zeiten schwerer Krankheit sowohl die Vorstellungen wie auch die Wünsche des Patienten immer wieder ändern und die Betreuenden durch diese Ambivalenz stark gefordert sind, gehört zum natürlichen Verlauf.
O Ein Behandlungsplan ist die Konkretisierung einer Patientenverfügung.
O Der Behandlungsplan klärt Zuständigkeiten und Erreichbarkeit des Betreuungsteams sowie die Prioriäten bezüglich Wünschen und Ängsten des Patienten.
O Wünsche und Ängste von Patienten und Angehörigen können sich im Lauf der Erkrankung ändern.
O Die Angst vor Symptomen ist häufig belastender als die Symptome an sich. Ist die Angst jedoch kontrollierbar, wird aus Angst Zuversicht und Mut, aus Ohnmacht Wille und Selbstvertrauen.
Die Angst am Lebensende Die Angst vor belastenden Symptomen, wie Atemnot, Schmerzen und Kontrollverlust, ist zentrales Element in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Patienten. Eine besondere Herausforderung stellt die gestörte Nachtruhe der Angehörigen dar. Diese ist ein häufiger Grund für eine Dekompensation der Pflegesituation. Die Patienten möchten den Angehörigen einerseits nicht zur Last fallen und fürchten sich andererseits, in eine Institution abgeschoben zu werden. Die Angst vor Symptomen ist häufig belastender als das Symptom selbst. Angst ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl, welches den ganzen Körper überflutet und das man ändern möchte. Angst bedeutet Stress. Die Alarmglocken im Gehirn läuten. Herzrasen, Pulsschlag bis in die Ohren, feuchte Hände und der
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Gang auf die Toilette sind die Folge. Eine verzweifelte Suche nach einer Lösung beginnt. Ist die Stressreaktion kontrollierbar, wird aus Angst Zuversicht und Mut, aus Ohnmacht Wille und Selbstvertrauen. Es kann sich aber auch ein Gefühl einstellen, dass ich es alleine nicht mehr schaffe. Dass ich auf Menschen angewiesen bin, die helfen, die zuhören, die trösten oder einfach zur Seite stehen. Diese menschliche Zuwendung, bezeichnen wir sie als «Liebe», ist ein Gefühl, welches die Angst besiegen kann! Was kann der Hausarzt tun, um die Wünsche des Patienten zu erfüllen und seine Angst zu lindern? Diese Frage soll anhand eines konkreten Beispiels im Folgenden erläutert werden.
Der Wunsch, zu Hause zu bleiben Herr F. ist 63-jährig, lebt mit seiner kranken Ehefrau in einem kleinen Eigenheim mit Garten. Seine erwachsene Tochter ist berufstätig und lebt mit ihrem Freund in einer Mietwohnung in einem Nachbardorf. Herr F. war vor 25 Jahren an Morbus Hodgkin erkrankt. Diesen Schicksalsschlag hat er bis vor wenigen Jahren gut überstanden. Dann musste ich ein Zweitkarzinom feststellen, und Herr F. wurde in palliativer Absicht chemo- und radiotherapiert. In der Sprechstunde äusserte Herr F. den dringenden Wunsch, seine letzte Lebensphase daheim zu verbringen. Seine grösste Sorge war die Angst vor dem Ersticken, da der Tumor seine Lunge befallen hatte.
Ein Team und ein gemeinsamer Plan Vergleichbar mit einem Hausbau braucht es nicht nur die Wunschvorstellungen der Bauherrschaft – sprich Patient und Angehörige –, sondern einen Architekten beziehungsweise einen Bauleiter – sprich Betreuungsteam –, der das Zusammenspiel der involvierten Berufsleute mit Sorgfalt und Geschick leitet (siehe www.palliative-so.ch). So startet das Projekt mit einer ersten gemeinsamen Sitzung! Am runden Tisch wird der Plan – ein Betreuungsplan – erstellt. Wichtige Fragen wie Erreichbarkeit und Zuständigkeit werden geklärt. Die Wünsche, Sorgen und Ängste des Patienten werden im Sinne einer Prioritätenliste festgehalten. Dieser Plan soll den Patienten auf seinem letzten Lebensabschnitt begleiten und den involvierten Professionen und Institutionen als Handlungsleitlinie dienen. Er stellt gleichsam die Konkretisierung einer Patientenverfügung dar und wird den Forderungen des neuen Erwachsenenschutzrechtes gerecht. In Würdigung der Gesamtsituation in unserem Fallbeispiel wird leicht ersichtlich, dass der Wunsch von Herrn F., seine letzte Lebensphase daheim zu verbringen, nur durch ein gut funktionierendes Betreuungsteam unter Einbezug der Angehörigen und Nachbarn gerecht werden kann. Die Verfügbarkeit von Angehörigen und Nachbarn wird mit klaren Abmachungen hinterlegt. Dabei werden die begrenzten Ressourcen der involvierten Personen ausgeleuchtet. So kann die berufstätige Tochter nur begrenzt und an den Wochenenden die
Eltern unterstützen. Ein Nachbar erklärt sich bereit, den Patienten während 3 Stunden pro Woche zu betreuen. Dieses Zeitfenster wiederum erlaubt der Ehefrau den Einkauf, einen kleinen Spaziergang oder den Besuch einer Freundin.
Die Angst vor dem Ersticken Herr F. fürchtet sich vor Atemnot und Ersticken am Lebensende. Sein Nachbar, ein pensionierter Bauer, litt an einer invalidisierenden COPD und konnte sein Bauernhaus nur mit Sauerstoff verlassen. Die Krankengeschichte seines Nachbarn hat bei Herrn F. ihre tiefen Spuren hinterlassen. Angst hat immer eine Vorgeschichte! Herr F., aber auch das Betreuungsteam muss nicht nur die Pathophysiologie der Atemnot kennen, sondern auch genau über die medizinischen, nicht medizinischen und pflegerischen Therapiemöglichkeiten informiert sein. Was kann ich tun, und wo hole ich Hilfe, wenn die Stricke reissen? So kann ein Notfallplan erstellt werden, der dem Patienten wie auch den Angehörigen Sicherheit gibt und zur allgemeinen Beruhigung beiträgt. Verbunden mit diesen klaren Anweisungen ist die Bereitstellung der Medikamente am Krankenbett notwendig. Der Patient wie auch die Angehörigen werden in der Applikation instruiert. Herr F. erhält die Information, dass die Applikation von Sauerstoff primär die Schleimhäute austrocknet und wenig zur Linderung der Atemnot in seiner Situation beiträgt. Ein kleiner Handventilator erweist sich in solchen Situationen häufig als sehr hilfreich. Von der Pflege erhält er die Anleitung zu einer korrekten Lagerung in sitzender Position. Eine physiotherapeutische Domizilbehandlung mit Atemtherapie und eine psychologische Unterstützung werden diskutiert. Die Wirksamkeit von Morphin und seine Applikation als Tropfen oder subkutane Injektion werden erklärt und instruiert. Dieser Massnahmenkatalog wird im Betreuungsplan festgehalten, verbunden mit dem Hinweis, welche Schritte im Notfall eingeleitet und welche Hilfe wann und wo angefordert werden kann. So werden die Angst des Patienten und die Stressreaktion kontrollierbar, und ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein. Mit diesem konkreten Blick in die Zukunft keimt für den Patienten die Hoffnung, die Hürde «Atemnot am Lebensende» gut meistern zu können! Dabei wird er von einem Team nicht nur in seinem Bedürfnis nach Autonomie, sondern auch in seinem Bedürfnis nach Geborgenheit unterstützt. O
Dr. med. Christoph Cina Hauptstrasse 16, 3254 Messen E-Mail: christoph.cina@hin.ch
Wir danken Herrn Dr. med. Markus Denger, wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI, Frau Dr. med. Heike Gudat, Vorstandsmitglied von palliative.ch, und Dr. med. Klaus Bally, Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel, für ihre Unterstützung bei Konzeption und Planung unserer Serie «Palliativmedizin in der Praxis».
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