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FORTBILDUNG
Serie: Palliativmedizin in der Praxis
Lebensqualität bis zuletzt
Zur zentralen Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte in der Palliative Care
Die meisten Patientinnen und Patienten in palliativen Situationen können im Rahmen der Grundversorgung behandelt und betreut werden. Dabei spielen Hausärztinnen und Hausärzte eine wichtige Rolle. Sie begleiten die Patientinnen und Patienten eng am Lebensende, und sie sind es auch, die den Zugang zu spezialisierter Palliative Care ermöglichen. Diese ist nötig, wenn die Krankheitssituation sehr instabil und die Behandlung der vielfältigen Symptome und Leiden sehr komplex wird.
LEA VON WARTBURG UND MICHELLE NOVÁK
Palliative Care umfasst die Betreuung und die Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/ oder chronisch fortschreitenden Krankheiten in den letzten, wenigen Lebensjahren beziehungsweise Lebensmonaten. Sie schliesst medizinische Behandlungen, pflegerische Interven-
Merksätze
O Künftig werden mehr Menschen in ihren letzten Lebensjahren und -monaten palliative Pflege und Begleitung benötigen.
O 80 bis 90 Prozent der Patienten in palliativen Situationen können im Rahmen der Grundversorgung behandelt und betreut werden.
O Belastende Symptome in palliativen Situationen sind nicht nur somatischer Art wie Schmerzen, Dyspnoe oder Übelkeit, sondern treten häufig auch in der psychischen, sozialen und spirituellen Dimension auf.
O In einem Palliative-Care-Betreuungsnetzwerk arbeiten verschiedene Berufsgruppen zusammen.
O Angehörige sollten in Entscheidungen mit einbezogen werden und entsprechende Unterstützung erhalten.
O Wenn die Krankheitssituation der Patienten am Lebensende sehr instabil und die Behandlung der vielfältigen Symptome und Leiden sehr komplex wird, gibt es die Angebote der spezialisierten Palliative Care.
tionen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung mit ein und orientiert sich an den Bedürfnissen, Symptomen und Problemstellungen der betroffenen Patienten sowie ihrer nahestehenden Bezugspersonen. Den Patienten wird eine ihrer Situation angepasste optimale Lebensqualität bis zum Tode gewährleistet. Palliative Care wird in einem interprofessionellen Team erbracht.
Mehr Menschen benötigen Palliative Care Die aktuelle demografische Entwicklung führt langfristig dazu, dass die Schweizer Bevölkerung immer älter wird. Der Anteil der 65-jährigen und älteren Menschen an der Bevölkerung steigt in den nächsten Jahrzehnten an, während der Anteil der unter 20-Jährigen im gleichen Zeitraum zurückgeht. Ältere Menschen leiden häufiger an gesundheitlichen Einschränkungen, oft an mehreren und degenerativen Krankheiten (Multimorbidität). Deshalb geht diese demografische Entwicklung mit einer Zunahme von alten, pflegedürftigen Menschen einher. Aufgrund der veränderten Altersstruktur nimmt auch die Zahl der jährlichen Todesfälle zu. Heutzutage sterben in der Schweiz jährlich etwa 60 000 Menschen jeden Alters. Das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass die Anzahl der jährlichen Todesfälle in den nächsten 20 Jahren um einen Drittel zunimmt, also von 60 000 auf 80 000 Menschen pro Jahr. Bei den meisten Menschen tritt der Tod nicht plötzlich ein. 50 bis 60 Prozent der Sterbenden erfahren einen mittelschnellen Tod durch eine schwere, fortschreitende Krankheit (z.B. Krebs) über zirka 2 bis 3 Jahre hinweg. In 30 bis 40 Prozent der Fälle tritt der Tod nach einer Demenzerkrankung über einen Zeitraum von 8 bis 10 Jahren ein. Diese Entwicklung bedeutet, dass künftig mehr Menschen in ihren letzten Lebensmonaten und -jahren palliative Pflege und Begleitung benötigen.
Eine Stärkung der palliativen Grundversorgung ist nötig 80 bis 90 Prozent der Patienten in palliativen Situationen können im Rahmen der Grundversorgung behandelt und betreut werden, das heisst zu Hause mit Unterstützung durch Hausärzte sowie Spitexorganisationen, in den Institutionen der stationären Langzeitpflege oder in einem Akutspital. Dazu müssen keine neuen Strukturen aufgebaut werden. Es braucht keine zusätzlichen Leistungserbringer. Im Rahmen der «Nationalen Strategie Palliative Care» soll jedoch das Palliative-Care-Angebot in der Grundversorgung ausgebaut und gestärkt werden.
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Für Patienten mit komplexen Symptomen und instabilen Krankheitsverläufen gibt es in vielen Kantonen spezialisierte Palliative-Care-Angebote wie Palliativstationen und -kliniken oder mobile Palliativdienste.
Elemente der palliativen Grundversorgung Patienten in der palliativen Grundversorgung haben gemeinsam, dass sie sich aufgrund des Verlaufs ihrer unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronisch fortschreitenden Erkrankung vorausschauend mit dem Lebensende auseinandersetzen müssen. In der Regel befinden sie sich in den letzten wenigen Lebensjahren oder -monaten des Lebens. Das Bedürfnis ist gross, die eigenen individuellen Prioritäten und Wünsche für die Gestaltung der letzten Lebensphase einzubringen und festzulegen. Unterstützt durch Fachpersonen treffen Patienten ihre Entscheidungen im medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Bereich. Mithilfe dieser Entscheidungen ist eine Vorausplanung für alle Beteiligte möglich. Das gilt vor allem für Notfallsituationen zu Hause beziehungsweise im Pflegeheim. Ziel ist es, die Autonomie der Patienten möglichst zu erhalten und die Fähigkeit zum Selbstmanagement bei belastenden Symptomen zu stärken. Mit der Abklärung von bestehenden oder möglichen Belastungsgrenzen für die nahestehenden Bezugspersonen und der Planung alternativer Aufenthaltsorte kann eine Überlastung der Angehörigen verhindert werden. Angehörige werden zusätzlich entlastet, wenn sie über regionale Palliativnetzwerke und Angebote von Freiwilligendiensten informiert sind und die Finanzierung zu beziehender Leistungen geklärt ist.
Zentrale Rolle von Hausärztinnen und Hausärzten Hausärztinnen und Hausärzte spielen eine wichtige Rolle bei der Identifikation, Betreuung und Behandlung von Patienten in palliativen Situationen in der Grundversorgung: Oft behandeln sie den Patienten seit vielen Jahren, sie kennen die Angehörigen und die persönliche Lebenssituation. Sie sind in der Region verankert und wissen um die vorhandenen ambulanten und stationären Betreuungs- und Entlastungsmöglichkeiten. Das sind zentrale Voraussetzungen für eine gute palliative Behandlung und Begleitung bis zum Lebensende.
Palliative Care: das Vorgehen in der Praxis In der Behandlung und Betreuung von Patienten in einer palliativen Situation sind vier Bereiche wichtig: O Symptommanagement – belastende Symptome lindern:
Belastende Symptome sind nicht nur somatischer Art wie Schmerzen, Dyspnoe oder Übelkeit. In der palliativen Situation treten belastende Symptome häufig auch in der psychischen Dimension auf (z.B. Depression oder Ängste). Soziale Stressfaktoren (z.B. Einsamkeit oder Familienkonflikte) sowie spirituelle Fragen erschweren die Situation oft zusätzlich und bedürfen entsprechender Hilfsangebote. O Entscheidungsfindung – das Thema ansprechen: Es ist wichtig, dass Hausärzte die betroffene Person auf ihre Wünsche ansprechen und abklären, wie und wo sie die verbleibende Lebenszeit verbringen möchte. Hierzu gehören auch die Fragen, ob zum Beispiel lebenserhaltende Massnahmen oder aber der Verzicht darauf bis hin zu einer palliativen Sedation infrage kommen. Es ist zu empfehlen, diese Fragen rechtzeitig zu besprechen, solange der Patient noch genügend Kraft hierfür hat, und mit verständlichen Worten schriftlich festzuhalten (z.B. Patientenverfügung bzw. Vorsorgeauftrag). O Netzwerkorganisation – ein Miteinander verschiedener Berufsgruppen: In einem Palliative-Care-Betreuungsnetzwerk arbeiten verschiedene Berufsgruppen zusammen. Aus Sicht der Patienten und Angehörigen ist eine hervorragende Koordination und Vorausplanung insbesondere für Notfallsituationen und bei Komplikationen vordringlich. Neben den Fachpersonen der Spitex und mobilen spezialisierten Palliativdiensten können Fachpersonen der Sozialen Arbeit, der Seelsorge und anderer Bereiche wichtige Kooperationspartner von Hausärzten sein. Auch lokale Freiwilligendienste können eine sinnvolle Ergänzung des Palliative-Care-Betreuungsnetzwerks sein. O Unterstützung der Angehörigen – das soziale Umfeld mit einbeziehen: Die Betreuung und Begleitung eines kranken Menschen am Lebensende ist für die Angehörigen eine in vielerlei Hinsicht belastende Situation. Sie sind Betreuende und emotional Betroffene zugleich. Deshalb sollten sie entsprechende Unterstützung erhalten und in Entscheidungen mit einbezogen werden.
Koordination und vorausschauende Planung schaffen Sicherheit Damit diese vier Bereiche gut abgedeckt werden können, braucht es eine gute Koordination zwischen den involvierten Fachpersonen und den Angehörigen, zum Beispiel im Rahmen von regelmässigen «Rundtisch-Gesprächen». Mit einem gemeinsamen Betreuungsplan werden die verschiedenen Tätigkeiten aufeinander abgestimmt, gemeinsam therapeutische Ziele festgelegt und die Bedürfnisse des Patienten ins Zentrum gestellt. Gute Koordination und vorausschauende Planung stellen die Kontinuität der Betreuung sicher und vermitteln dem kranken Menschen und seinen Angehörigen Sicherheit. Notfallhospitalisationen können vermieden werden, wenn stets genügend Reservemedikamente vorhanden sind und der Patient sowie seine Angehörigen in deren Gebrauch gut
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Gemeinsam für eine bessere Lebensqualität sterbender Menschen Im Januar 2013 hat der Bundesrat die Gesamtschau «Gesundheit 2020» verabschiedet. Das erste Handlungsfeld betrifft die Sicherung der Lebensqualität: Versorgungsangebote sollen optimiert und somit bessere Chancen auf Heilung beziehungsweise auf eine Linderung des Leidens gefördert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Bundesrat als Massnahme vorgesehen, die integrierte Versorgung von der Früherkennung über die Behandlung bis zu Palliative Care zu verbessern.
instruiert sind. Zudem ist sicherzustellen, dass immer ein Ansprechpartner des palliativen Betreuungsnetzes erreichbar ist. Wer das Betreuungsnetzwerk koordiniert, muss klar geregelt sein. Oftmals übernehmen Hausärzte oder Fachpersonen der Spitexorganisationen diese Aufgabe. Die KrankenpflegeLeistungsverordnung wurde dahingehend angepasst, dass die Koordinationsleistungen der Pflegefachpersonen in komplexen Pflegesituationen neu auch zu den Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zählen. Im Rahmen der «Nationalen Strategie Palliative Care» sind weitere Fragen der Finanzierung von Palliative-Care-Leistungen in Abklärung.
Spezialisierte Palliative Care: Unterstützung für die Grundversorger Bei Patienten am Lebensende kann es vorkommen, dass die Krankheitssituation sehr instabil und die Behandlung der vielfältigen Symptome und Leiden sehr komplex wird. Dazu kommen vielleicht eine schwierige soziale Situation, eine psychische Störung oder überlastete Angehörige. Für solche Situationen gibt es die Angebote der spezialisierten Palliative Care. Sie können temporär, im Sinne einer Stabilisierung oder längerfristig zum Einsatz kommen (vgl. die Fallbeispiele im Anschluss an diesen Artikel). Spezialisierte Palliative Care leisten mobile Palliativdienste, Palliativstationen und Palliativkliniken oder Einrichtungen der Langzeitpflege mit spezialisiertem Palliative-Care-Auftrag. In vielen Kantonen sind die mobilen Palliativdienste auch beratend tätig. Das heisst, dass sie Hausärzte und Fachpersonen von Spitexorganisationen und in Langzeitpflegeinstitutionen mit spezialisiertem Palliative-Care-Fachwissen unterstützen und beraten. Der Patient bleibt nach Möglichkeit an seinem Aufenthaltsort. Der Hausarzt ist weiterhin verantwortlich für die Behandlung des Patienten. Manchmal ist jedoch auch eine temporäre oder dauerhafte Überweisung in eine spezialisierte stationäre Einrichtung notwendig. Bei diesen Entscheidungen kommt den Hausärzten eine wichtige Rolle zu: Indem sie komplexe Situationen erkennen und entsprechend reagieren, ermöglichen sie schwer kranken Menschen am Lebensende den Zugang zu spezialisierten Angeboten und zu einer besseren Lebensqualität.
Die «Nationale Strategie Palliative Care» trägt dazu bei,
diese Massnahme umzusetzen. Auftraggeber für die Strategie
Palliative Care ist der «Dialog Nationale Gesundheitspoli-
tik», eine gemeinsame Plattform von Bund und Kantonen.
Verantwortlich für die Umsetzung sind das Bundesamt für
Gesundheit und die Schweizerische Konferenz der kanto-
nalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren. Die Strate-
gie verfolgt das Hauptziel, dass schwer kranke und sterbende
Menschen in der Schweiz ihren Bedürfnissen angepasste
Palliative Care erhalten und ihre Lebensqualität verbessert
wird. Gemeinsam ist man auf diesem Weg, jedoch ist die
Stärkung der Versorgung komplex kranker Menschen eine
anspruchsvolle Aufgabe. Aus diesem Grund wurde die
«Nationale Strategie Palliative Care» um 3 Jahre verlängert
(2013–2015).
O
Korrespondenzadresse: Lea von Wartburg und Michelle Novák Eidgenössisches Departement des Innern
Bundesamt für Gesundheit
Direktionsbereich Gesundheitspolitik
Schwarzenburgstrasse 161
3097 Liebefeld
E-Mail: Lea.vonWartburg@bag.admin.ch
E-Mail: Michelle.Novak@bag.admin.ch
Links und Literatur: Nationale Strategie Palliative Care: www.bag.admin.ch/palliativecare. palliative ch – Schweizerische Gesellschaft für Palliative Medizin, Pflege und Begleitung: www.palliative.ch. Gesamtschau «Gesundheit2020» des Bundesrates: www.gesundheit2020.ch. Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (2012): Nationale Strategie Palliative Care 2013–2015. Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (2011): Indikationskriterien für spezialisierte Palliative Care. Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (2010): Nationale Leitlinien Palliative Care. Eychmüller S: SENS macht Sinn – der Weg zu einer neuen Assessment-Struktur in der Palliative Care. Therapeutische Umschau 2012; 69(2): 87–90.
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Lebensqualität bis zuletzt: Wie läuft es in der Praxis?
Zwei Fallberichte zu typischen Situationen in der Palliative Care
Menschen in Palliativsituationen sind eine heterogene Patientengruppe. Viele denken bei Palliativmedizin primär an Tumorerkrankungen, aber es gibt darüber hinaus viele andere Leiden, die Palliative Care erfordern. Leider ist der Zugang zur palliativen Versorgung für Menschen mit Organversagen oder neurologischen Leiden, für betagte, mehrfach kranke Menschen sowie für Kinder und andere Nichttumorpatienten immer noch erschwert.
HEIKE GUDAT
Komplexe Krankheitssituationen erfordern standardisiertes Handeln, beispielsweise bei der Linderung von Symptomen. Andererseits zeichnet sich Palliative Care durch ein individualisiertes Vorgehen nach den Bedürfnissen der Patienten und ihrer Angehörigen aus. Die dafür notwendigen Ressourcen können anspruchsvoll sein. Das sei mit den beiden folgenden Patientengeschichten dargestellt.
Das Gefühl, es richtig gemacht zu haben Bei der 50 Jahre alten Frau R. war vor fünf Jahren ein invasiv duktales, hormonsensibles Mammakarzinom diagnostiziert, reseziert, bestrahlt und chemotherapiert worden. Nach fünf Jahren unter Zoladex® und klinischer Tumorfreiheit war es zu einem ausgedehnten Rezidiv mit zahlreichen Metastasen gekommen. Unter erneuter antitumoröser Behandlung konnte das Tumorwachstum nur kurzzeitig eingedämmt werden. Angesichts der Gesamtsituation und nach vielen Gesprächen mit ihrer Partnerin und ihrem Onkologen entschloss sich Frau R. zu einer rein symptomatischen Behandlung. Ihr grösster Wunsch war, möglichst lange beschwerdefrei zu bleiben, zu Hause leben und möglichst auch sterben zu können. Für Frau R. und ihre Lebenspartnerin war Unabhängigkeit ein wichtiger Wert. Ihre Familie und ihr grosser Freundeskreis hatten sie seit dem Wiederaufflammen der Krebserkrankung gut unterstützt. Es wurde offen über die ernsthafte, nun weit fortgeschrittene Erkrankung gesprochen. Dennoch fühlte sich die Partnerin von Frau R. belastet, hilflos und einsam. Sie arbeitete so gut es ging, sie betreute und pflegte Frau R., sie koordinierte die zahlreichen Termine für Sprechstunden, Untersuchungstermine, mit Ämtern, für
Physiotherapie, Apotheke und scheute sich nicht, den willigen Freundeskreis einzubeziehen. Sie war verzweifelt über den nahenden Abschied. Sie beobachtete bei Frau R. eine zunehmende Ermüdbarkeit und Kreislaufprobleme mit präkollaptischen Zuständen. Frau R. überspielte die Beschwerden, litt aber unter nächtlichen Angstzuständen und Schmerzen, deren Charakter und Ursprung sie nicht näher lokalisieren konnte. Zwar stand der behandelnde Onkologe jederzeit telefonisch zur Verfügung, aber Frau R. konnte die Termine im Ambulatorium nicht mehr wahrnehmen. Für die plötzlich nötigen Hausbesuche sprang die langjährige Gynäkologin ein, zu welcher Frau R. grosses Vertrauen empfand. Allerdings war diese onkologisch-internistische Krankheitssituation für die Gynäkologin ganz und gar nicht alltäglich. Die Medikamente gegen Schmerzen (Novalgin®) und Unruhe (Temesta®) schlugen nicht an. Neu traten proximal betonte Lähmungen der Extremitäten auf. Frau R. entwickelte eine Tag-Nacht-Umkehr. Die nächtlichen Angstzustände wurden zur Belastungsprobe. Frau R. erschien besonders nachts verwirrt. Das familiäre Versorgungsnetz war aufs Äusserste beansprucht. Die Partnerin fühlte sich der Situation körperlich und emotional nicht mehr gewachsen. Unter grossen Schuldgefühlen schlug sie eine Hospitalisation vor. Nach langem Werben entschied sich Frau R. für ein weit entferntes Hospiz. Im Hospiz präsentierte sich eine geschwächte, bettlägrige, allseits orientierte 50-jährige Patientin mit bein- und proximalbetonten Lähmungen der linken Körperhälfte, diskret auch rechtsseitig, daneben bestanden Anstrengungsdyspnoe, innere Unruhe, Nesteln und eine ausgeprägte orthostatische Dysregulation, die eine Mobilisation verunmöglichte. Ob es sich bei den Lähmungen um die Folgen neu aufgetretener Hirnmetastasen oder um ein seltenes Lambert-Eaton-Syndrom handelte, war weniger wichtig und wurde auch nicht weiter abgeklärt. Ausschlaggebend für die Patientin und ihr Umfeld war, dass die Beschwerden rasch fortschritten, eine intensive Betreuung für alle Bedürfnisse rund um die Uhr erforderten (die Patientin konnte nicht einmal alleine trinken) und dass Partnerin und Patientin nicht einordnen konnten, was hier geschah und wohin dies noch führte. Unter der physischen und emotionalen Belastung aller Beteiligten, vielleicht auch wegen zerebraler Metastasen hatte die Patientin Angstzustände entwickelt, die vielleicht Panikattacken entsprachen oder durch Schmerzen bedingt waren, zuletzt bestand wohl auch ein Delir (Unruhe, Vigilanzstörungen mit Tag-Nacht-Umkehr).
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Tabelle:
Medikation der Mammakarzinompatientin
MST® Continus® Haldol® Tranxilium® Fortecortin® Omeprazol Transipeg Forte®
Tbl. à 10 mg Trp. 2% Tbl. à 20 mg Tbl. à 4 mg Tbl. à 40 mg Sachet
1-0-0-1 15-0-0-15 0-0-0-½ ½-0-0-0 0-0-0-1 1-0-0-0
Unter Morphin (Atemnot, Schmerzen), Haldol® (Antiemese, in höherer Dosis antidelirant), Tranxilium® abends (Anxiolyse, Distanzierung) und Fortecortin® (Roborans, Hirndruck, ohne erkennbaren Effekt) liessen sich Atemnot, Schmerzen und Unruhe prompt und anhaltend auffangen (Medikation s. Tabelle). Die Nächte blieben ruhig, die nächtlichen Angstattacken, verbunden mit erschwerter Atmung und nicht eingrenzbaren Schmerzen, verschwanden völlig. – Wie banal. War denn dafür wirklich eine Hospitalisation nötig gewesen? Ja, das war sie! Pharmakotherapie ist ein wichtiges Standbein der Symptombehandlung, und eine kluge Abdeckung mit möglichst wenigen Substanzen bleibt eine Kunst. Gerade bei komplex kranken Menschen und bei Menschen am Lebensende erfordern aber die biologisch-somatischen, psychischen, sozialen und spirituellen Dimensionen der Beschwerden und der Krankheit selbst einen mehrdimensionalen Ansatz, der Patienten und ihre Angehörige einbezieht. Wenn die Situation zu Hause so sehr aus dem Ruder läuft, dass sich ein engagiertes Betreuungsnetz völlig aufreibt, Nächte durchwacht werden und Angehörige unter dem Druck von Verantwortung, Gefühlen der Schuld oder Trauer zusammenbrechen, kann eine kurze Hospitalisation Raum schaffen, Atem zu holen, sich neu zu organisieren und Ziele zu überdenken. Manchmal gelingt das unter der Zäsur einer Hospitalisation rascher als mit einer Intervention zu Hause. Die Gespräche mit der Partnerin nahmen grossen Raum ein. Sie musste als hauptverantwortliche Bezugsperson die Zusammenhänge verstehen. Mögliche Szenarien in der nahen Zukunft wurden besprochen, Lösungsmöglichkeiten abgewogen. Als Betroffene musste ihrer grossen Trauer und den Gefühlen der Hoffnungslosigkeit Raum gegeben werden. Eine Vertrauensperson für spätere Gespräche fand sich in der Gynäkologin von Frau R. Unterschwellige Konflikte mit der weiteren Familie von Frau R. brachen auf und mussten beigelegt werden (wer entscheidet, wer betreut). Währenddessen profitierte Frau R. von angepassten Tagesstrukturen und Pharmakotherapie, vielleicht von der Physio- und Musiktherapie, sicher aber von kurzen, aber häufigen Gesprächen mit und ohne Familie. Nach der zweiten durchschlafenen Nacht und der Entschleunigung im Hospiz entschloss sich die Partnerin, Frau R. nach Hause zurückzunehmen. Dies, obwohl die Paresen weiter zunahmen. Damit begann am dritten Tag die Organisation des Austritts. Das Familiennetz wurde reaktiviert, die betreuende Gynäkologin instruiert, inklusive medikamentösem Notfallplan, Telefonlisten und Notfallnummern. Die örtliche
Spitex, bisher aussen vor, wurde telefonisch detailliert informiert. Spitalbett und weitere Hilfsmittel wurden organisiert. Für den entfernteren Transport musste eine kostengünstige Lösung gefunden werden. Frau R. kehrte am vierten Hospitalisationstag nach Hause zurück, die Notfallnummer des Hospiz in der Tasche. Zwei Tage wurde das Zimmer für Frau R. freigehalten, sie benötigte es aber nicht. Drei Tage nach Austritt rief die Spitex an, weil Frau R. über Bauchschmerzen klagte. Ein kurzes Gespräch ergab einen Harnverhalt. Ein Blasenkatheter behob das Problem. Danach verlief alles ruhig. Frau R. trübte langsam ein und verstarb zehn Tage nach Austritt ruhig zu Hause. Die Partnerin fühlte sich der Sache gewachsen, sie «wusste», was auf sie zu kam, sie hatte es im Griff. Sie war gefordert und traurig, aber auch tief befriedigt, diese letzte Zeit zu Hause ermöglicht zu haben. Nicht nur für Frau R., auch für sich selbst. Rückblickend blieb ihr das Gefühl, «es richtig gemacht zu haben».
Gefühle von Ambivalenz und Schuld Frau G., 75 Jahre, hatte als schwere Raucherin eine COPD entwickelt. In den vergangenen zwei Jahren sah sie sich mit einer kontinuierlichen Verschlechterung ihrer Atemsituation konfrontiert. Daneben litt sie an Herzproblemen, Diabetes und Arthrose. Sie pflegte engen Kontakt mit ihren Töchtern und Enkelkindern. Die allein lebende Frau bestand auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ihren Hausarzt und ihren Pneumonologen besuchte sie nur «mit dem Kopf unter dem Arm». Erst vor einem Jahr hatte sie eine kontinuierliche Sauerstofftherapie erhalten. Laut Familie lag es auch an Frau G. selbst, dass notwendige Entlastungsmassnahmen verzögert eingeleitet wurden. Mehrmals hatte die älteste Tochter, die im Gesundheitsbereich arbeitete und die Ernsthaftigkeit der COPD erkannt hatte, Frau G. mit schwerster Atemnot zu Hause aufgefunden und sie in extremis auf die Notfallstation gebracht. Beim letzten Mal wäre Frau G. auf der Fahrt fast gestorben. In den letzten zwölf Monaten waren vier notfallmässige Hospitalisationen nötig gewesen, wegen Infektexazerbationen, eines Herzinfarktes und einmal, weil über das Wochenende der Sauerstoff ausgegangen war. Der Pneumonologe hatte mit Frau G. über die immer schlechteren Stabilisierungsmöglichkeiten gesprochen. Er erklärte ihr, dass die Therapie irgendwann – vielleicht nächstens – nicht mehr anschlagen werde, dass es jetzt aber noch einmal gut gegangen sei. Frau G. bestätigte der Tochter, der Pneumonologe habe mit ihr «gesprochen», gab dabei aber nur den zweiten Teil der Botschaft wieder. Umgekehrt klagte sie, dass die Atemnot beklemmend und die Aussicht auf die unausweichlichen Atemnotkrisen erdrückend sei. Trotz moralischer Bedenken erwog sie einen assistierten Suizid, sozusagen als kleineres von zwei Übeln. In einer Beratung durch eine neuere Sterbehilfeorganisation wurde sie eingehend über die Möglichkeiten des Freitods informiert, ungleich schlechter aber über die noch gänzlich fehlenden palliativen Behandlungsoptionen. Die Familie schrie auf, Frau G. fehlte der Mut, eine Entscheidung zu treffen. Unter den zunehmenden Krisensituationen suchten die Töchter das Gespräch mit dem Pneumonologen und baten ihn um eine Anmeldung ihrer Mutter im Hospiz.
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Was zeigen uns diese beiden Fälle?
Die beiden Patientengeschichten sind exemplarisch. Die Tumorpatientin und ihre Angehörigen erkannten die Endlichkeit der Erkrankung und stellten sich den damit verbundenen Fragen. Der Onkologe und die Gynäkologin stellten sich der anspruchsvollen Aufgabe, kurative und palliative Medizin im richtigen Mass und zum richtigen Moment anzubieten. Das engagierte Netz geriet zwar kurzzeitig ins Schlingern, bedingt durch einen raschen Krankheitsverlauf, aber auch (angesichts der Komplexität vollkommen verständlich) durch ungenügende Antizipation der Grundversorger. Die Situation konnte durch eine kurze Intervention eines spezialisierten PalliativeCare-Teams aufgefangen und wieder an die Grundversorger übergeben werden. Retrospektiv ein vorbildlicher, individualisierter Behandlungspfad mit guten personellen Ressourcen ambulant und stationär und sorgfältigem Management der kritischen Schnittstellen. Anders war es bei der COPD-Patientin mit fortgeschrittenem Organversagen. Ihr fehlte die Wahrnehmung, dass ihre Überlebensprognose vergleichbar war mit derjenigen einer Krebserkrankung und die Symptomlast statistisch gesehen sogar grösser war als die eines Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden. Die Schere zwischen Therapieerwartung und realer Verschlechterung der Lebensqualität (Calman-Gap) lösten bei der Patientin Gefühle von Unsicherheit und Ambivalenz aus. Beides wurde durch die bemühte, aber wahrlich hilflose Familie mit ausgetragen. Die Kollusion zwischen COPD-Patienten und ihren Behandelnden ist ein bekanntes Phänomen. Die symptomatische Behandlung von Atemnot, Angst und Delir ist bei Patienten mit Lungenerkrankung weitaus anspruchsvoller als bei Tumorpatienten: Es ist eine ständige Gratwanderung zwischen Symptomlinderung und Medikamententoxizität. Die Vermeidung krisenbedingter Hospitalisationen ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal einer «Best Palliative Care». Frau G. war weit davon entfernt. Zu kurze Hospitalisationen bergen das Risiko, dem erhöhtem Gesprächs-, Koordinations- und Managementbedarf bei komplex kranken Patienten nicht gerecht zu werden. Folgen sind überflüssige Kriseninterventionen und eine verspätete Einleitung palliativmedizinischer Behandlungsansätze. Hier wäre eine Unterstützung der ambulanten Grundversorger bitter notwendig. Die Umstellung auf das Fallpauschalensystem wird diesen Missstand wohl kaum mindern – im Gegenteil. Auf der ambulanten Seite fehlt die Wahrnehmung, dass Nichttumorpatienten eine lange Lebensphase durchleben, in welcher der mehrdimensionale palliativmedizinische Behandlungsansatz mit dem entsprechenden Fachwissen, dem niederschwelligen Zugang, der vernetzten Versorgung und der entsprechenden Finanzierung gelebt und Patienten und Angehörigen vermittelt werden müsste.
Frau G. verstand den Schritt ihrer Kinder erst nicht und lehnte es ab, in ein Hospiz zu gehen. Die Realität holte sie aber bald ein. Nach einer weiteren Infektexazerbation und Hospitalisation in der ICU und medizinischen Klinik wurde in der interdisziplinären Konferenz festgelegt, keine intensivmedizinischen Behandlungen mehr anzubieten. Frau G. trat daraufhin auf eigenen Wunsch verfrüht nach Hause aus. Die unfertige Austrittsplanung führte zu Hause in eine umgehende Atemnotkrise. Die Töchter nutzten den Moment und veranlassten den Eintritt ins Hospiz. Im Hospiz zeigte sich die ganze Ambivalenz von Frau G. Die Unzufriedenheit über das zu kleine Zimmer, die wechselnden Pflegepersonen, die zu direkte Ärztin waren Ersatzbühnen für das eigentliche Thema: die enger werdenden Behandlungsoptionen, die Auseinandersetzung mit Endlichkeit und
Sterben, die Trauer über den Abschied und daneben die
selbsterklärte Rolle als Vorbild sowie das Gefühl, zur Last zu
fallen, «überzitig» zu sein und Geld zu kosten.
Unter vorsichtiger Morphingabe nach dem Basis-Bolus-Prin-
zip, Delirprophylaxe mit Haldol® und Lexotanil® niedrig
dosiert entschärften sich Atemnot und Angst eindrücklich.
Auch die übrige Palette an Medikamenten wurde auf festen
Wunsch der Patientin beibehalten, eingeschlossen das Statin
für ein langes Leben. Patientin und Familie profitierten von
regelmässigen Gesprächen, in denen auch der Sterbewunsch
der Patientin thematisiert wurde. Die Patientin nahm davon
Abstand, wobei das gute Ansprechen auf Opioide und Ben-
zodiazepine und die Möglichkeit einer palliativen Sedation
als «letzter Ausweg» den Ausschlag gaben. Frau G. äusserte,
im jetzigen Zustand «noch lange leben» zu wollen. Die Fa-
milie diskutierte, wie bei einem erneuten Infekt zu verfahren
sei. Der Konsens untereinander war harte Arbeit. Einzig eine
Rückkehr nach Hause wurde von allen verworfen. Hausarzt
und Pneumonologe wurden über die Entscheidungen infor-
miert und waren dafür dankbar.
Nach einem kurzen «Honeymoon» mehrten sich Phasen mit
Somnolenz und Verwirrtheit. Klinisch bahnte sich eine
erneute Infektion an, sicher lag eine kritische Hypoxie vor.
Die Patientin selbst realisierte die schleichende Verschlechte-
rung nicht, wohl aber die Familie. Frau G. lehnte Gespräche
zu ihrer Gesundheit rundweg ab, die Familie konnte damit
schlecht umgehen. Es kamen Zweifel über die Wahrnehmung
des Gesundheitszustands, über getroffene Entscheidungen,
über das Hospiz an sich auf.
Rund 14 Tage nach Hospizeintritt brachte eine fulminante
Lungenentzündung den befürchteten Einschnitt, begleitet von
einem hyperaktiven Delir. Frau G. war nicht mehr entschei-
dungsfähig. Die Familie beschloss nach erneuten Gesprä-
chen, der Krankheit ihren Lauf zu lassen. Die lebensverlän-
gernden Medikamente wurden sistiert, die Symptomkontrolle
ausgebaut. Wenige Stunden später wurde wegen Eskalation
der Dyspnoe eine palliative Sedation eingeleitet. Die Familie
verabschiedete sich vor Einleiten der Sedation bewusst von
Frau G. Unter Sedation konnte eine ruhige Situation herge-
stellt werden. Die Familiengespräche waren hoch zeitauf-
wändig. Die laufenden Dosisanpassungen von Morphin und
Dormicum® waren, wie immer bei COPD, anspruchsvoll.
Frau G. verstarb 24 Stunden nach Beginn der Sedation ruhig
im Beisein ihrer Familie.
Die Tochter meldete sich Wochen später wieder zum Ge-
spräch. Sie berichtete, dass die Familie emotional nicht zur
Ruhe komme, weil die Gefühle von Ambivalenz und Schuld
nicht beiseitegelegt werden konnten.
O
Korrespondenzadresse: Dr. med. Heike Gudat Stollenrain 12, 4144 Arlesheim E-Mail: heike.gudat@hospizimpark.ch
Wir danken Herrn Dr. med. Markus Denger, wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI, Frau Dr. med. Heike Gudat, Vorstandsmitglied von palliative ch, und Dr. med. Klaus Bally, Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel, für ihre Unterstützung bei Konzeption und Planung unserer Serie «Palliativmedizin in der Praxis».
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